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Donnerstag, 7. Januar 2016

S wie Strumpfhose

Das ist mein Beitrag zum Projekt Kleider machen Leute, in dem es darum geht, Geschichten zu Kleidungsstücken von A - Z zu schreiben.
Mitmachen und teilen ist ausdrücklich erwünscht.


Robin Hood hatte eine.
Batman hatte auch eine. Ich hab hundert. Strumpfhosen. Helden tragen Strumpfhosen.

Strumpfhose - ʃtʀʊmpfˌhoːzə

Kleidungsstück, welches Kinder anziehen müssen, wenn es Mama und/oder Papa kalt ist, würde Mechatroniker analog zum Pullover sagen.

15 Grad Celsius. Das war in meiner Kindheit die ominöse Marke, an der wir uns orientieren mussten. Unter 15 Grad hieß es: Strumpfhosenalarm! Und die Strumpfhosen, die wir als Kinder anziehen mussten, waren nicht mit den heutigen vergleichbar, sondern kratzige, unangenehme Beinkleider in Beige und Braun. Strickstrumpfhosen.
Ich gestehe, ich habe den Thermometer manchmal in den heißen Kamillentee getaucht, denn dann waren die geringelten Kniestrümpfe erlaubt. Ich hab diese grauslichen Strumpfhosen gehasst, wie die meisten Mädchen. Und meinen Bruder gleich mit, weil der keine (mehr) anziehen musste.

Nicht alle fühlen sich jedoch durch solche Erinnerungen abgeschreckt. In einem Forum las ich folgendes: Hallo, kennt von euch jemand einen Shop oder eine Marke, welche super kratzige Wollstrumpfhosen verkaufen? Meine Freundin hatte mal eine aus DDR-Zeiten, die war echt unerträglich kratzig :-) Finde dies sehr anregend, wenn man den ganzen Tag erinnert wird, was man trägt.

Er war nicht allein und bekam zahlreiche Tipps von zahlreichen Strumpfhosenfetischisten.

Eine Freundin, die die Erfahrungen mit kratzigen Strumpfhosen mit mir teilt und deren Liebe zu diesem Kleidungsstück sich auch später nie entwickelt hat, meinte: „Wenn ich mal dement bin und im Heim, klau ich allen Mitbewohnern ihre Strumpfhosen und schneide sie in Streifen! Das wird meine Rache.“
„Wenn ich mal dement bin und du klaust meine, bring ich dich um“, hab ich gesagt und es ernst gemeint.


Am 15. Mai 1940 wurden übrigens die ersten Nylons verkauft. Der Tag ging als N-Day in die Geschichte ein.

Mein Onkel, der Fernfahrer, hat sie in den Sechzigerjahren nach Russland mitgenommen. Er fuhr mit ein paar Nylonsackerl (Kunststofftüten) Nylons von zu Hause weg und kam mit Matrjoschkas, einem hölzernen Bären mit Honigtopf, einem Schachspiel, einem geschnitzten Fischer mit Boot und Kaviar zurück. Die Nylonsackerl, die garantiert kein Nylon enthielten, waren übrigens ähnlich begehrt wie die Strumpfhosen.

Heute werden Nylons weggeschmissen, wenn sie eine Laufmasche oder ein Loch im Zeh haben. Meine Mama hat sie noch mit dem hölzernen Stopfschwammerl gestopft. „Unter der Hose kannst du die noch anziehen“, hat sie gesagt.
Mittlerweile gibt es laufmaschenresistente Strumpfhosen. Aber die haben so viel Charme wie unzerbrechliche chinesische Porzellanvasen. Die Gefahr, dass etwas Kostbares kaputtgehen kann, macht seinen Wert aus.

Ich war schon als Kind ziemlich schlampig und hängte nicht, wie es sich gehört, am Vorabend die Kleidung für den nächsten Tag fein sortiert über den Stuhl, sondern schlüpfte schlaftrunken so hinein, wie ich sie ausgezogen und auf den Boden geschmissen hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof fühlte sich in meiner Hose etwas komisch an. Ich griff in den Hosenbund und zog und zog und zog... eine Strumpfhose heraus. Das war mir ziemlich peinlich, denn ich war nicht allein, sondern mit ein paar Schulkollegen unterwegs.
Ich hätte also genug Gründe, um Strumpfhosen zu hassen... aber ich liebe sie. Die Strumpfhosen von heute, anschmiegsam, weich, sanft, die Beine umschmeichelnd, haben nichts mit den Angstgegnern aus meiner Kindheit zu tun.


Ich war 14 oder 15 und das erste Mal in London. Da hab ich mich verliebt. Nein, nicht in einen James oder John. Es geschah irgendwo in der Oxford Street. Eine schwarze Strumpfhose mit weißen Straßen und roten Bussen drauf. Es war der Beginn einer großen Liebe.
Ich besitze Strumpfhosen unter anderem aus Paris, Berlin, Amsterdam und New York. Dabei war ich noch nie in New York. Die hat Freund A. mir mitgebracht. Ich weiß nicht, ob es für die Exfreundin Grund für die Trennung war, dass er für mich in New York Strumpfhosen kaufte.

Ja, ich hatte auch eine kurze Phase mit Halterlosen, nichts Ernstes, nur eine Affäre. Das Problem war nämlich, die waren irgendwie auch so haltlos. Und verwandelten sich kurzerhand - oder kurzerbein? - in Overknees, Kniestrümpfe oder im schlimmsten Fall in schlabbrige Socken. Wir sind nie ein Liebespaar geworden, die Halterlosen und ich.

Bei einer Lesung oder einem Poetry-Slam finde ich in der Bezirkszeitung kein Foto von meinem Gesicht... sondern von meinen Beinen. Und das liegt bestimmt nicht an meinen schönen Beinen, sondern an dem, worin sie stecken. In Erdölfasern. Die könnten bald durch Zucker ersetzt werden. Ob man mit diesen Strumpfhosen dann noch im Regen singen kann?

Zu meinem runden Geburtstag gab es natürlich einen Dresscode für Frauen. Es war ein wunderbares Bild auf der Berghütte. Und so viele Strumpfhosen als Geschenke.

Ich hab viele Lieblingsstrumpfhosen. Solche, bei denen ich weinen muss, wenn sie kaputtgehen. (Der Schmerz währt meistens nur kurz, weil ich dann natürlich sofort welche nachkaufen muss) Die nahtlose Fatale, oder die Wolford mit Rüschen an den Fesseln, die regulär 150,- Euro gekostet hätte und die ich zum Schnäppchenpreis erstanden hab. Die man besser nur mit Strumpfhosenhandschuhen anziehen sollte. Oder die, auf der steht: Fucking is the only fucking word that can be fucking used fucking in any fucking place in any fucking sentence. Oder die, die ich mir extra drucken lassen hab, auf der „Toll3ste Weiber, Lippenstift, Lust“ steht. Die mit den ägyptischen Zeichnungen. Oder die, die aussieht, als wären meine Beine mit Flammen und Schmetterlingen tätowiert.

Die mit den Bussen von London hab ich schweren Herzens nach 30 Jahren weggeschmissen. Meine Mama hätte sie bestimmt gestopft.


Wenn ich morgens aufwache und im Bett liege, überlege ich mir, welche Strumpfhose ich anziehe und welchen Ring ich nehme, und dann erst, welches Kleid dazu passt. Und ich gestehe: Manchmal steh ich vor den Schubladen mit den Strumpfhosen - sortiert nach Farben und Mustern - uni oder bunt, gestreift, kariert, klassisch, sportlich, schräg, sexy oder einfach schön - und denk: Scheiße, ich hab keine Strumpfhosen!

Und dann kauf ich welche.

Donnerstag, 31. Dezember 2015

2015

mehr geschmiedet
weniger geschrieben

mehr Bühne
weniger Kohlehydrate am Abend

mehr gepoetryslammt
weniger Lampenfieber

mehr Werkstatt
weniger frische Luft

mehr Kur
weniger Schmerzen im Knie

mehr Erfolge
weniger Niederlagen

mehr Sport
weniger Kilos

mehr Ärger in der Arbeit
weniger Katzen

mehr gelesen
weniger geputzt

mehr Urlaub am Meer
weniger Gartenarbeit

mehr Eiweißshakes
weniger Alkohol

mehr graue Haare
weniger straffe Haut

mehr Geld ausgegeben
weniger Reue

mehr gespendet
weniger Minus am Konto (vielleicht, ich schau ja nicht)

mehr Erfahrung, Gelassenheit, Freude und Glück.

weniger mehr
mehr weniger

angeblich ist ja weniger mehr, aber das glaub ich nicht.
mehr ist mehr. weniger ist weniger. So schaut's nämlich aus.

Hier ein Link zu den Dingen, die bei meiner Lieblingsbeschäftigung entstanden sind:
https://www.facebook.com/media/set/?set=a.436807833142956.1073741832.100004412293872&type=1&l=e3de837418

Montag, 21. Dezember 2015

Alles ist gut - Eine Weihnachtsgeschichte

„Du solltest ein bisschen kürzer treten, Kurt, dein EKG schaut besorgniserregend aus!“
„Du weißt ja, wie das ist in unserer Branche“, Kurt rieb sich sein Dreitagesbartkinn. „Only bad news are good news.“
„Wenn ich das als dein Arzt und Freund, der dich seit 30 Jahren kennt, so sagen darf, Kurt: Du bist ein zynisches Arschloch geworden. Wenn du so weitermachst...“
Kurt wollte den zweiten Teil des Satzes nicht hören. „Wie soll man denn in Zeiten wie diesen nicht zu einem zynischen Arschloch werden? Meine Herzrhythmusstörungen sind kein individuelles, sondern ein globales Symptom. Die Welt ist aus dem Tritt geraten, Heinz. Da hilft ein bisschen Krafttraining oder ein Pudding aus Chiasamen nicht. Da hilft nur Betäubung. Durch Arbeit und Alkohol.“
„Ich mach dir jetzt einen Vorschlag. Ich weiß, er klingt nicht sehr schulmedizinisch, hör mir aber bitte trotzdem zu.“
Kurt setzte an, etwas zu sagen, hielt aber den Mund und tat, was sein Freund ihm zu tun riet. Er hörte zu.
„Versuch deinen Fokus in den nächsten Wochen einmal ganz bewusst auf das zu lenken, was alles gut läuft. Was alles gelingt.“
Kurt rollte die Augen. „Bürgerkrieg in Syrien, Hungersnöte in Afrika, Hypo-Skandal, steigende Armut, fallende Intelligenz, Donald Trump und H.C. Strache. Super, oder?“
„Fang mit deinem Leben an, Kurt. Dir geht’s doch gut. Du hast einen gut bezahlten Job bei der Zeitung, eine attraktive Frau und ein wunderschönes Haus.“
„So nach dem Motto: Think pink?“
„Nenn es, wie du willst. Das Schöne schreibst du jeden Tag auf und wirfst es in ein großes Gurkenglas. Und wenn es dir schlecht geht, schenkst du dir keinen Drink ein, sondern ziehst einen Zettel und erinnerst dich an das Schöne in deinem Leben.“
„Warst du auf einem Esoterik-Seminar, Heinz?“
Heinz ging nicht auf seine Frage ein. „Also, üben wir mal: Was ist dir in der letzten Woche Schönes passiert.“
„Ich bin nicht in den falschen Zug gestiegen.“
„Und jetzt formuliere es positiv. Das Gehirn kann Verneinungen nicht in Bilder umsetzen.“
„Ich hab den richtigen Zug nach Salzburg erwischt. Und die Schaffnerin hatte schöne Beine.“
„Super, was noch?“
„Ich war einkaufen und hab ein paar Hemden und T-Shirts gekauft. Erstens hab ich welche bekommen, zweitens hat die unfreundliche Frau an der Kasse sich zu meinen Gunsten vertan.“
„Das unfreundlich streichen wir wieder. Das ist nicht positiv.“
„Aber nur dadurch, dass sie unfreundlich war, war’s für mich positiv. Sonst hätte ich sie womöglich noch darauf hingewiesen.“
Heinz lachte und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern. „Wir sehen uns im Jänner zur Kontrolle.“
„Und am Stefanitag zum Kartenspielen. Tschüs!“


*
„Warst du bei Heinz in der Praxis?“, fragte Gerda, seine Frau, und schenkte ihm einen Martini ein. „Eh alles in Ordnung?“
„Ich hab Herz...“, begann er, dann dachte Kurt an den ärztlichen Rat. „Ich hab ein Herz. Und es schlägt. Ein bisschen eigenwillig halt.“ Er lächelte. Als Gerda in die Küche ging, schüttete er den Martini in die Erde der Zimmerpalme und goss sich Tee auf.
„Was ist denn mit dir los?“, wunderte sich Gerda, als er die Zeitung ungelesen ins Altpapier warf, den Fernseher ausschaltete und sich auf dem Sofa ausstreckte.
„Nichts.“ Er bemühte sich, etwas Positives an der Situation zu entdecken. „Das Sofa ist herrlich weich. Es ist Vollmond. Und ich lebe.“ Er zog seine Frau zu sich. „Und ich hab Lust auf dich.“
Sie stieß ihn von sich. „Nicht jetzt“, sagte sie. „Migräne.“
„Du solltest auch mal zu Heinz gehen, Gerda.“
*
Weil Kurt zwar nach außen hin ein zynisches Arschloch, innen drinnen jedoch ein Angsthase war - ein Angsthase, der nicht sterben, sondern noch eine Weile leben wollte - schrieb er Abend für Abend heimlich seine schönen Erfahrungen auf kleine Zettel, ging in den Keller und warf sie in ein leeres Gurkenglas.
Statt Zeitdruck in der Redaktion. Stau auf der Autobahn. Mama hat genervt, Gerda macht Stress wegen des Weihnachtsessens, Tim hat die Mathearbeit versemmelt schrieb er:
Zeitung schon wieder rechtzeitig fertiggeworden. Im Stau meine Lieblingsnummer gehört. Von Mama Schokomaronen vom Heindl bekommen. Gerda sorgt sich um unser leibliches Wohl. Tim sind Worte wichtiger als Zahlen.
Jeden Tag fiel es ihm ein bisschen leichter.
Die Verkäuferin im Supermarkt hat mich angelächelt. Beim Bäcker die letzten beiden Salzstangerl erwischt. Der Anzug kam sauber aus der Reinigung. Kaschmirsocken in Aktion gewesen.

*
„Ich habe nachgedacht“, sagte er in der Redaktionssitzung und alle starrten ihn an. Waren sie es nicht gewöhnt, dass er nachdachte?
„Vier von fünf Nachrichten, die wir bringen, sind schlechte Nachrichten, wusstet ihr das?“
„Ja. Und? Only bad news are good news“, sagte Jürgen aus der Wirtschaftsredaktion.
„Was glaubt ihr, wie es unseren Leserinnen geht, wenn sie diese ganzen schlechten Nachrichten lesen. Sie bekommen noch mehr Angst, als sie ohnehin schon haben. Wir verstärken diese Angst, versteht ihr? Wenn wir schreiben, dass 30.000 Autos im Jahr gestohlen worden sind, bekommen sie Panik, obwohl doch in Wahrheit viel mehr Autos nicht gestohlen worden sind.“
„Oder sie denken sich: Gut, dass es mich nicht erwischt hat.“ Jürgen rollte mit den Augen.
Kurt ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen. „Ich erwarte mir für die Weihnachtsausgabe ausschließlich gute Nachrichten. Verstanden?“
Ohne die Antwort abzuwarten, stand er auf und verließ die Sitzung.
Ich war richtig mutig, kritzelte er auf ein Post It und freute sich.

Am Nachmittag klopfte es alle paar Minuten an sein Büro.
„Wenn ich schreibe, dass eine Mannschaft gewinnt, dann heißt das doch auch, dass die andere verloren hat, oder?“, fragte der Kollege aus der Sportredaktion.
„Stimmt. Dann schreib nicht, wer gewonnen hat, sondern, dass es ein hochkarätiges Spiel war, die Würstel geschmeckt haben und danach alle gesund vom Platz gegangen sind.“
„Und dass Pep Guardiola die Bayern verlässt, ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?“.
„Gut für die Bayern. Das kann rein.“
„111 Mordopfer im Jahr beim Tatort“, berichtete die Kulturredakteurin. „Ich zähl einfach die, die gerettet wurden und überlebt haben, ja?“

Dann kam Lisi von der Chronik. Lisi mit den abgerissenen Jeans, dem zerzausten Haar und dem großen Herz. Die in ihrer Freizeit Deutschkurse für Flüchtlinge gab und einen Teil ihres Gehalts wohltätigen Organisationen spendete. Jürgen hatte sie letztens „linke, naive Gutmenschin“ genannt. Sie hatte dazu gelächelt und ihm Weihnachtskekse geschenkt.
„Hier“, sagte Lisi und überreichte Kurt ein paar Zettel. „Ich weiß, ich hätte es mailen können, aber ich finde ein Gespräch viel persönlicher als eine elektronische Nachricht. Ich bin die Meldungen der Presseagentur durchgegangen.“
Aus Wiener Straßenbahn aus Schienen gesprungen, machte sie: Wiener Straßenbahn aus Schienen gesprungen, um einer Fußgängerin auszuweichen.
Stichflamme: Verletzte wegen Feuerzangenbowle wurde zu Schmackhafte Feuerzangenbowle tröstet Verletzte
Sein Grinsen wurde immer breiter.
„Ich finde deine Idee übrigens richtig gut“, sagte sie, „also die Idee, einmal das Positive im Leben und auf der Welt zu sehen. Das haben wir alle verlernt.“
Das ging runter wie ein Jameson Gold. Nein, wie Kräutertee mit Honig. Er las weiter.
Alkoholisierter Lkw-Fahrer fährt in Drive-in wurde zu Rekordumsatz für vegetarisches Restaurant neben Drive-in.
Und aus Fußgängerin auf A1 von Auto gerammt Kaum Schäden am Fahrzeug
Sogar einer schweren Überschwemmung in Paraguay konnte sie etwas Gutes abgewinnen. Pakistan bleibt verschont, schrieb sie.
„Das hast du großartig gemacht“, lobte Kurt, der merkte, dass er seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen viel zu selten lobte. Heute Abend würde er Lisi, die Chaotin aus der Chronik, hat mich verzaubert auf einen Zettel schreiben. Sie hat die drei H. Hirn, Herz und Humor. In Gedanken fügte er ein viertes H. hinzu. Einen schönen Hintern hatte sie nämlich auch.

„Aber wie kann man die Schlagzeile FPÖ in Umfragen klare Nummer eins im Bund? positiv sehen?", riss sie ihn aus seinen Hinterngedanken, „da steh ich an."
„Hm.“ Kurt räusperte sich. „Vielleicht: FPÖ verfehlt absolute Mehrheit klar.“
Sie spendete ihm ihr hinreißendstes Lächeln. „Ich geh morgen auf den Weihnachtsmarkt“, sagte sie, „hast du Lust, mitzukommen?“ Sie stapfte in ihren zweifärbigen Chucks aus seinem Büro.

Kurt spürte, wie sein Herz einen Sprung machte. Kein Stolpern und Aussetzen wie vor ein paar Wochen, sondern kleine, herzhafte Sprünge.

*
„Kannst du noch in die Stadt fahren und den Baum besorgen?“, bat Gerda ihn. „Aber fahr langsam, wegen des Nebels.“
„Ich mag Nebel“, sagte Kurt, „er deckt Dinge zu und hat etwas Geheimnisvolles.“
Gerda fand ihn neuerdings langweilig, wenn er ihr voll Freude erzählte, dass die Heizung funktionierte, sein Blutdruck gesunken war und Deni Alar einen Elfmeter verwandelt hatte. „Du hast dich verändert“, hatte sie vor ein paar Tagen festgestellt und ihr Tonfall hatte ihm verraten, dass sie an seiner Veränderung keinen Gefallen fand. Wenn er sie berühren wollte, hatte sie Migräne.

Kurt fuhr ziellos durch den dichten Nebel, hörte Weihnachtslieder und dachte nach. Den Baum hatte er schon gestern besorgt, als er nach der Arbeit mit Lisi durch den Adventmarkt geschlendert war und ein kleines, unscheinbares Bäumchen erstanden hatte. Sie tut mir verdammt gut, hatte er am Abend auf den Gurkenglaszettel geschrieben und fügte ein fünftes H. dazu. Sie hat weiche Hände.
In einem kleinen Café trank er Tee und fuhr nach Hause zurück.

Zuerst hörte er sie. Dann öffnete er die Schlafzimmertür einen Spalt breit und sah sie. Seine Frau. Im Ehebett. Mit Jürgen, seinem Kollegen aus der Wirtschaftsredaktion. Dem, der sich geweigert hatte, „rosarote Nachrichten“ zu schreiben, wie er es ausdrückte.
Leise schlich er in den Keller. Gerda hat keine Kopfschmerzen mehr, schrieb er auf einen Zettel. Und in sein Handy tippte er eine SMS an Lisi: „Lust auf einen Spaziergang im Nebel?“

Sonntag, 22. November 2015

P... P... Poetry-Slam!

Nein, das ist nichts für mich, hast du nach deinem ersten Poetry-Slam gesagt. Zu schnell, zu wenig Zeit. Noch dazu im Stehen. Du würdest auch so einen Text nicht auswendig lernen können, schon gar nicht, wenn er sich nicht reimt. Das letzte, das du auswendig gelernt hast, war die Bürgschaft.

Zu Dionys dem Tyrannen schlich Damon,
den Dolch im Gewande
Ihn schlugen die Häscher in Bande

Und überhaupt: Literatur kann man nicht vergleichen und benoten.

5 Slams später müssen sie dich von der Bühne zerren, denn du bist süchtig geworden. Immer noch fühlst du dich unter den jungen, schönen Poetinnen und den nicht immer jungen, aber von sich überzeugt wirkenden Poeten wie bei einem Auswärtsspiel. So ähnlich wie beim Elternabend, als du dich auf den Kindergartensessel gequetscht hast, aus dem du nicht mehr hochgekommen bist.

Und irgendwann ist es so weit. „Holen sie wir auf die Bühne, mit Liebe, mit Leidenschaft, mit tosendem Applaus!“

Ich bin, spricht jene, zu sterben bereit,
und bitte nicht um mein Leben


Du stehst auf der Bühne, genießt das Scheinwerferlicht und hoffst, dass die Türe geschlossen ist und dein Text nicht abhauen kann. Du kämpfst mit dem Mikroständer, der zu hoch ist oder deine Beine zu kurz. Dann liest du diesen unheimlich pathetischen und berührenden und sanften Text, in dem der arme Lagerhausmitarbeiter durch den Häcksler gejagt wird. Von dir (Er hat es sich aber verdient, das muss ich zu meiner Verteidigung sagen). Du liest auswendig, weil du die letzten beiden Wochen bei deinen Außendiensten – zirka 3.000 Kilometer – den Text gehaucht, geflüstert und gelebt hast. „Tschakataschkatatschakata!“, hast du bei der roten Ampel aus dem Auto gebrüllt, als die messerscharfen Klingen das Herz des Lagerhausmitarbeiters in winzige Stücke gerissen haben. Der Fahrer im Golf hat dich mitleidig und ein wenig ängstlich angelächelt.

Du fühlst dich wie ein Rockstar im ausverkauften Praterstadion.

Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen
Und stille halten sie, zu lauschen


Du genießt den Applaus. Verbeugst dich.

Und willst du Gnade mir geben, ich flehe dich an...
wartest du auf die Bewertung, obwohl man Literatur natürlich nicht bewerten kann.
In Wahrheit wartest du nur auf das erlösende „Z... Z... Z... Zehn!

„Wir haben eine Sechs“, sagt die Moderatorin und du musst dein Lächeln mit der Sicherheitsnadel festpinnen. Du schaust nicht, aus welcher Richtung die Bewertung kommt, denn obwohl du so überhaupt nicht zu Gewalt neigst, hast du Angst, du könntest dem Typen in die Fresse schlagen. Slam wie Zuschlagen. P... P... P... Poetry Slam. Tschack.
„Wir haben eine 8“, fährt die Moderatorin fort und du entfernst die Sicherheitsnadel. Danke vielmals.

O hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom gerettet ans heilige Land


„Wir haben eine Vier!“
Das hat nichts mit mir zu tun, redest du dir ein, wahrscheinlich hat der Kerl, der die Jurykarten in der Hand hat, schlecht geschlafen oder seine Frau mit dem Briefträger im Bett erwischt. Vielleicht hat sein Arzt ihm heute gesagt, dass er Prostatakrebs hat. Vielleicht steht er nicht auf rothaarige ältere Frauen mit bunten Strumpfhosen, sondern auf Blondbeinige mit schwarzen Strapsen. Möglicherweise hat seine Mama das Gulasch versalzen. Oder er arbeitet im Lagerhaus. Es gibt so viele Gründe, die nichts mit mir zu tun haben.

Vielleicht findet er mich aber auch einfach Scheiße, denkst du, und es tut weh.
„Wir haben eine Z... Z... Zehn!“
Die Frau hat die Eins bestimmt irrtümlich in die Höhe gehalten, in Wahrheit hält sie dich für eine Null. Oder sie meint nicht dich, sondern ist ein bisschen langsam und die Zehn gilt dem grandiosen Poeten mit der schönsten Stimme der Welt vor dir. Als du kapierst, dass sie doch dich meint, denkst du: Und warum keine Zehn komma fünf?
War ich nicht gut genug?

Was wollt ihr? rufst du vor Schrecken bleich,
Ich habe nichts als mein Leben


Du gehst von der Bühne, mit dem festgepinnten Lächeln. Es geht doch nur ums dabei sein, sagst du.
Ich schreibe nie nie nie nie wieder auch nur ein Wort, denkst du.

Und schweigend umarmt dich der treue Freund

Vielleicht solltest du dich auf das konzentrieren, was du kannst. Schlafen, Krautfleckerl kochen - mit karamellisiertem Zucker - und unter versifften Matratzen von versifften Klienten versiffte Sparbücher suchen. Nie wieder betrete ich eine Bühne!, sagst du dir.
Als du wieder sitzt, kramst du in der Tasche nach dem Merkheft und schreibst deine Gedanken auf. Für den nächsten Slam.

Zu Hause sinkst du in die tröstenden Arme deines Mannes, der dich an sich zieht und noch nie von einem Poetry-Slam gehört hat.

„Und? Wie war ich?“, fragst du danach in den verschwitzten Laken und wartest auf die erlösende: „Z... Z... Z... Zehn!“

Plötzlich steht jemand in der Schlafzimmertür.
„Ich sei, gewährt mir die Bitte“,
so der Poet mit der schönsten Stimme der Welt
„in eurem Bunde der Dritte.“

Samstag, 14. November 2015

Banal

Und plötzlich ist alles so banal. Die Freude über den Auftritt bei der Poetry Slam-Meisterschaft, der Ärger über den Strafzettel, der Flow in der Werkstatt, die Wickel im Büro, die Überlegung, was ich zum Geburtstagsbrunch koche, die Lust am Leben,...

Weil in Paris viele unschuldige Menschen gestorben sind und schwer verletzt und schwer traumatisiert. Und man sitzt hilflos da, und wegschauen geht nicht, weil man Terroranschläge nicht einfach weg schauen kann. Auch nicht weg schreiben. Und auch nicht verhindern. Schon gar nicht mit Zäunen und Stacheldrähten. Nicht an der Grenze und nicht im Hirn.
Und man fragt sich, wie damit umgehen? „Man“ schreiben, statt „ich“, weil es die eigene Hilflosigkeit zur kollektiven macht. Nicht einknicken vor dem Terror. Wie auch immer das geht. "Ja, das Leben ist riskant" murmeln und Ratatouille kochen?

Ein Bild teilen, wahlweise von einem schwarzen Eiffelturm oder einer brennenden Kerze, als Zeichen der Solidarität und Hilflosigkeit? Beten, obwohl man nicht religiös ist oder Champagner trinken, weil Paris die Stadt der Liebe und der Lebenslust ist? Sein Leben einfach so weiterleben? Zynische Witze machen, weil die sich kurz wie eine Hornhaut um die Seele wölben und einen schützen? Ich weiß es nicht. Vielleicht einfach akzeptieren, dass jeder und jede seine und ihre eigenen Strategien hat, mit solchen ... ja, solchen was? Unglücken, Dramen, Dingen... umzugehen. Die einen weinen, die anderen teilen Bilder, die einen schreiben Texte, die anderen schalten den Fernseher ab, die einen versuchen die Angst weg zu lachen, die anderen ziehen die Decke über den Kopf. Die einen sagen Veranstaltungen ab und die anderen sagen „jetzt erst recht“. Und alles hat seinen Platz. Keine Strategie ist die richtige und keine die falsche. Um die Toten trauern und das Leben feiern. Man darf das. Ich darf das.

Und obwohl das eigene Leben so banal wirkt, wenn man diese Bilder sieht, so ist es doch das eigene Leben und auch die Freude am gelungenen Auftritt lässt sich nicht wegwischen, der Ärger über den Strafzettel, der Flow in der Werkstatt, die Wickel im Büro, die Überlegung, was ich zum Geburtstagsbrunch koche.. und die Lust am Leben.

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Vom Zaun gebrochen

„Und was soll das werden?“, fragt mein Nachbar. „Baust du einen Zaun? Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir das nicht wollen zwischen unseren Grundstücken?“
„Das ist kein Zaun, sondern eine besondere bauliche Maßnahme“, rechtfertige ich mich, und als ich seinen ungläubigen Gesichtsausdruck sehe, füge ich hinzu: „Na ja, es ist schon eine Art Zaun, aber irgendwie mehr eine technische Sicherungsmaßnahme.“
„So was wie ein antifaschistischer Schutzwall?“, fragt er. Er hat mal Geschichte studiert und kennt sich mit so Sachen aus.
„Eher so eine Art faschistischer Schutzwall“, gestehe ich. „Ein strachitischer Schutzwall“
„Und warum?“, fragt er.
Meine Güte, ist der begriffsstutzig. Immer diese lästigen Fragen. Er ist überhaupt so ein Gutmensch, bringt manchmal einfach Kuchen vorbei und will sich meine Probleme anhören. Und auf seiner Fußmatte steht „Welcome!“
„Um mich zu sichern, natürlich.“
„Und wovor?“
„Das weiß ich noch nicht so genau. Das muss ich mir erst überlegen. Der Zau... die Sicherungsmaßnahme geht auch nicht rund um mein Grundstück, sondern nur zwischen Apfel- und Birnbaum.“
„Du willst dich vor mir schützen? Was hab ich dir denn getan?“
„Es ist nicht wegen dir“, sage ich dann. „Nur wegen der spanischen Nacktschnecken. Die schauen so fremd aus und haben eine völlig andere Kultur. Und der Dings, der in dem blauen Haus auf der rechten Straßenseite wohnt, der sagt auch, dass die total gefährlich sind und die einheimischen Nacktschnecken bedrohen. Außerdem fressen sie mir die Ribisel von den Sträuchern und die Äpfel von der Wiese. “
„Die du liegenlässt, weil sie dir nicht schmecken.“
„Na und!“ Ich werde grantig. „Ich muss aber vorsorgen.“ Der Typ versteht überhaupt nichts.
„Und du glaubst, die Nacktschnecken drehen vor deinem Schutzwall wieder um?“
„Das müssen sie. Ich stell auch ein Schild auf: Illegaler Übertritt verboten.“
Mein Nachbar schüttelt den Kopf. Früher einmal mochte ich ihn total gern. Aber seit er sich den Gutmenschen angeschlossen hat, ist er so ein naiver Sozialromantiker geworden.

Vielleicht mach ich den Zaun doch um unser ganzes Grundstück.

Donnerstag, 4. Juni 2015

Kurkolumne, der letzte Tag

„Die Kur hat dich von der Krankheit kuriert, aber wer kuriert dich von der Kur?“, hat Marie Ebner von Eschenbach gefragt.
Mich braucht niemand zu kurieren. Mir geht’s wunderbar.

Wäre das hier keine Kur, sondern ein Esoterikseminar, wir würden am letzten Abend im Sesselkreis sitzen und in der Mitte würde ein Blumenstrauß und eine brennende Kerze stehen, zur Fokussierung. Die Seminarleiterin würde uns einladen, einander die Hände zu reichen, die linke Hand empfangend, die rechte gebend. „3 Wochen sind jetzt vorbei“, würde sie sagen, als ob wir das nicht längst wüssten, und salbungsvoll hinzufügen: „Was nehmen wir mit? Was lassen wir da? Wer immer beginnen mag, der beginnt.“
Wir würden in das Flackern der Kerze, auf die Blumen oder auf den Boden starren und das Muster des Teppichs auswendig lernen. Ich würde denken: „Schöne Sonnenblumen.“ Sonnenblumen sind nämlich meine Lieblingsblumen.

Alle würden betreten und verlegen schweigen, bis Brigitte sich erbarmen und ein Herz fassen würde: „Ich nehme viele schöne Erinnerungen mit und die Tipps der Diätologin und die Buchtipps der Psychologin und die Fotos von der Kirche. Was ich hier lasse? Hier lasse ich das Gefühl, immer für die anderen da sein zu müssen und alles auf meiner Liste erledigen zu müssen. Danke!“ Brigitte würde nach diesen Worten aufstehen und zur Tür gehen. „Ich muss mich leider jetzt schon verabschieden, mein Mann wartet draußen, wir müssen noch auf den Friedhof, das Grab meiner Ururgroßmutter besuchen. Die kränkt sich, wenn wir nicht kommen.“

Pedro, der Taxitänzer, würde nur die Augen rollen und weder etwas mitnehmen noch dalassen. Er versteht nicht, was das hier soll.

„Ich nehme das Wasserbett mit dem Masseur innen drinnen mit, und das Körperfett lasse ich da“, würde ich das neuerliche Schweigen brechen, „und die Sonnenblumen nehme ich auch mit.“ Mit diesen Worten würde ich mir der Blumenstrauß greifen. „Ah ja: Und in meinem Herzen nehme ich die Heike mit.“ Beim Gedanken an sie wird mir ganz warm ums Herz.

Gustl lässt nichts da, das wäre ja noch schöner, er nimmt alles mit, was er hergebracht hat. Auch seine Dummheit.

Laura freut sich auf die Baustelle und lässt die Illusion da, die Wolfgang mit den türkisblauen Augen eine Woche lang in ihr erzeugt hat.
Susanne nimmt Abstand zu all dem Schmarrn zu Hause mit und lässt 5 Kilo da.

Die Seminarleiterin lächelt gequält und wirkt mitgenommen, obwohl sie dagelassen wird.

Weil es sich hier weder um ein Seminar noch um Urlaub handelt, gibt es keinen Sesselkreis und keine Seminarleiterin. Und so sitze ich mit der Handvoll Frauen, die ich liebgewonnen hab, in der Kurkonditorei. Wir scheißen auf die Kurkalorien, essen Heidelbeertorte, Punschkrapfen und Eiskaffee und jagen den Blutzuckerspiegel in ungeahnte Höhen. Wir reden über den Tod, übers Leben und über Marion, die Frau des ehemaligen Fabrikanten, die dem Zimmerservice verbietet zu putzen, weil ihr hier langweilig ist und sie die Dusche selber putzen möchte, damit die Zeit vergeht. Sie hat auch angeboten, unsere Duschen zu putzen.

A propos Dusche: Geduscht und gebadet hab ich in den letzten beiden Jahren nicht so oft wie hier. Zwischen meinen Fingern bilden sich Schwimmhäute und an meinem Körper wachsen Schuppen. Körper und Seele sind rein wie von der Jungfrau Maria. Susanne lacht bei diesem Vergleich laut, ich weiß nicht, warum.
Noch vor 200 Jahren hat Napoléon seiner Joséphine geschrieben: „Wasch dich nicht, ich komme.“ So ändern sich die Zeiten.

Nachdem ich das letzte Mal die 45 Stufen zu meinem Zimmer gegangen bin, packe ich in meine vielen Koffer hauptsächlich Ruhe, jede Menge Gelassenheit und eine fröhliche Zufriedenheit. Vor allem packe ich die Gewissheit ein, dass ich richtig bin, wie ich bin, auch mit zu viel Körperfett und einer Zahnlücke. (Dafür war ich die Heldin des Koordinationstrainings, yeah! In den ersten Reifen einen Schritt, in den zweiten zwei Schritte, in den dritten drei... Man glaubt gar nicht, wie viele Leute damit überfordert sind.)

Den Ausdruck der metabolischen Waage verbrenne ich in einem kleinen Ritual auf dem Balkon und der Ausdruck in meinem Gesicht hellt sich dabei auf, nicht nur vom Feuerschein. Fettverbrennung ganz ohne Anstrengung, so mag ich sie. Ich hoffe, dass der Brandmelder nicht los geht und die Feuerwehr nicht aufgrund meines Körperfetts ausrücken muss. Das kostet 500 Euro, hat der Kurdirektor bei seiner Antrittsrede betont. Egal, Freiheit kostet eben.
Ich atme tief aus, verscheuche den Rauch mit meinen Händen und fächle mir bei jedem Einatem frische Luft zu. Dabei wiederhole ich dreimal: „Alles Schlechte weg von mir, alles Gute her zu mir.“

In der Früh gebe ich meinen Schlüssel zurück. Die Rezeptionistin legt die Lade mit den Gehirnen an die Theke und sagt: „Suchen Sie sich eins aus.“
Ich schaue mir die Gehirne der hochbegabten und tiefbegabten Kurgäste noch einmal genau an, um nicht irrtümlich das von Pedro oder Gustl zu erwischen.
Da ist meines! Rosig durchblutet, gut erholt und wunderschön. Zwischen den Windungen Witz und Ironie. Das will ich, und kein anderes.

Im Auto hat es 38 Grad. Vielleicht hätte ich doch in die Kältekammer... ? Vielleicht beim nächsten Mal.

Ich starte und drehe den Radio auf. Aus den Lautsprechern ertönen The Cure („Die Kur“). Wie passend. Ich lasse die Scheiben herunter und singe ganz laut mit:

You
Soft and only
You
Lost and lonely
You
Just like heaven!



Ende



Danksagung und Epilog:
Ich bedanke mich bei der Pensionsversicherungsanstalt, die meine Beiträge für diese Kur verwendet hat. Ich danke meiner Familie, die auch ohne mich überleben kann. Vor allem aber danke ich euch, meine lieben Leser und Leserinnen, denn ohne euch hätte es diese Kurkolumne nie gegeben. Aus den anfänglich dahingerotzte Gedanken, die ich teilen wollte, wurde eine tägliche Routine, die nie zur Routine wurde. Danke für die vielen Likes und Kommentare, die mich ermutigt haben, weiterzuschreiben. Für mich war es ein spannender Prozess, und ich habe in den letzten drei Wochen wieder gemerkt, dass ich zwar nicht vom Schreiben leben, aber vom Leben schreiben kann. Vor allem aber, dass ich ohne Schreiben nicht leben kann.
Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, zwischen den Anwendungen die 45 Stufen in mein Zimmer zu laufen und meine Gedanken auf Papier oder den Bildschirm zu bringen. Sie sind mir nie ausgegangen. Diese Kolumne hat sich quasi von selbst geschrieben.
Jetzt muss ich nur noch meine Mitdreisten davon überzeugen, mit mir eine Bühnenfassung der Kurkolumne auf die Beine zu stellen.
Danke!

Eure Kurtisane

Mittwoch, 3. Juni 2015

Kurkolumne, die Zehnte

So eine Kur fühlt sich an, als hätte jemand eine riesige Käseglocke über das Leben gestülpt. Das Leben spielt sich fortan ausschließlich unter der Glocke ab, und alles was draußen ist, ist weit weg und dringt nicht durch. Der Alltag mit all seinen Sorgen, der volle Terminkalender in den kommenden Wochen, die Schneckenplage im Garten, das Loch im Dach, alles unwichtig.
Hier zählt die Kurkarte, die Bibel der Kurgäste, ohne die man sein Zimmer nicht verlässt. Sie dient nicht nur zur Orientierung, sondern ist gleichzeitig Grundlage für sämtliche Gespräche.
„Was hast du jetzt?“
„Badewanne, und selbst?“
„Wart mal... um 8:40 Interferenz, 9:30 Unterwassergymnastik, 10:10 Teilkörpermassage und 13:30 Hydroelektrisches 4-Zellenbad.“ (Ich lerne jeden Tag ein neues Wort dazu.)
„Ah, ich hab heut um 11:20 Druckkreiselmassage, da kann ich erst um zwölf zu Mittag essen.“
Man beachte: ERST um zwölf. Erst um zwölf frühstücke ich zu Hause manchmal.

Ja, so aufregende Gespräche haben wir hier drin.
Manche Leute ärgern sich, wenn sie zwischen Kryojet und Melissenbad eine halbe Stunde warten müssen und schauen ständig auf die Uhr. Sie haben in den vergangenen Wochen nicht gelernt, die geschenkte Zeit zu genießen. Einfach in die Luft zu schauen, durchzuatmen und zu sein, anstatt zu tun.

Das Leben während einer Kur ist bei weitem nicht so entspannend, wie es hier wirken mag, denn Wir-sind-hier-nicht-auf-Urlaub und es herrscht ein unerbittlicher Wettstreit unter den Kurgästen. Weil wir sonst nichts zu tun haben, vergleichen wir alles und jedes miteinander, nicht nur die Ausdrucke der metabolischen Waage.
Vergleiche machen Menschen nicht glücklicher, sondern unglücklicher. Weil wir uns ja in der Regel nicht mit denen vergleichen, die ein verrostetes Auto, kein Swimmingpool und keinen Schulabschluss haben, sondern mit denen, die auf die Buttermilchseite des Lebens gefallen sind.
„Ich bin 6,5 Kilometer genorditschwalkt.“
„Ich 8,9, aber bergauf.“
„Ich bin 42 Kilometer mit dem Rad gefahren, bergauf und bergab.“
„Ich bin 98 Längen geschwommen.“
„Ich hab 3 Kilo abgenommen.“
„Ich 4, und zwar viszerales Fett.“
„Ich hab auf dem Laufband 321 Kalorien verbrannt.“
„Ich hab 4 Kilo Fett in Muskelmasse umgewandelt.“
„Ich hab heut früh 160 Blutdruck gehabt.“
„Ich 220.“
„Ich habe 10 Stunden geschlafen“, sage ich, um den Wettstreit zu beenden.

Ich bin nicht wieder auf die böse Waage gestiegen, und ich hab mich zwar ein paar mal in den Finger gestochen, aber immer noch nicht kapiert, wie man den Zuckerstreifen richtig in das Gerät steckt. Puls hab ich, das ist das wichtigste.
Ich bin froh, dass es keine Waage gibt, die Glück und Zufriedenheit messen kann, sonst würden die Leute auch diesbezüglich in Konkurrenz gehen.
„Ich hab 7,5 Glücksmomentpunkte.“
„Ich dafür 9 für chronische Zufriedenheit.“
„Mein Impedanzwert zwischen Gelassenheit und Nachdenklichkeit liegt bei 128.“

Meinen Kurkollegen gegenüber wollte ich nicht angeben, aber euch kann ich es verraten: 45 Stufen sind es vom Erdgeschoß in mein Zimmer. Im Schnitt bin ich sie acht plus zwei mal täglich hoch und wieder runtergestiegen, die zwei mal extra, weil ich die Kurkarte oder das Handtuch im Zimmer vergessen habe. Das sind insgesamt 9450 Stufen. Oder 17,73 mal den Kölner Dom bis zur Turmspitze. Ich bin von meiner eigenen Leistung beeindruckt. Außerdem klingt das gut. „Wo warst du in den letzten drei Wochen?“
„Ach, ich bin 17,73 mal den Kölner Dom hinaufgeklettert.“

*

„Kannst du dir den Ultraschall selber machen?“, fragt die Therapeutin, da eine Kollegin von ihr heute ausgefallen ist.
„Sicher. Ich lass mir dann auch das Bad selber ein und massier mir die Lendenwirbelsäule.“
Ich tiefenwärme mit dem Ultraschallgerät mein Knie und starre auf den Bildschirm. Ich hoffe, dass da ein undefinierbares Gebilde auftaucht und die Therapeutin - in diesem Fall ich – sagt:. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Lehner, Sie bekommen einen Knorpel!“
Aber sie schüttelt enttäuscht den Kopf und sagt: „Oh je, sehen Sie, er ist abgegangen. Es tut mir sehr leid für Sie. Für einen neuen sind Sie zu alt.“ Das hört man gerne.
„Aber mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten, kann man da nicht...In Vitro und so?“, frage ich verzweifelt.
„Nein. Auch ein Leben ohne Knorpel kann sehr glücklich sein, Frau Lehner. Stellen Sie sich bitte darauf ein. Suchen Sie sich Hobbys.“
„Kann ich einen Knorpel adoptieren? Vielleicht aus Afrika? Einen armen Waisenknorpel? Ich werde ihn mit Hyaloronsäure füttern und behandeln, als wäre es mein eigener.“
Pieps.
„So, das war’s für heute.“

*

Die Käseglocke über dem Kuralltag sorgt dafür, dass der Ballast, die Sorgen und die Ignoranz von draußen nicht herein und der Gestank nach Schwefel, Butter und Ignoranz von drinnen nicht hinausdringt.
Morgen wird sich die Glocke lüften, die Gerüche von draußen und drinnen werden erst hart aufeinanderprallen und sich dann zu einem neuen Duft vermischen.
Alles, was hier 3 Wochen lang unwichtig war, der ungemähte Rasen, die ungeliebte Ehefrau, das ungelebte Leben zeigen auf und schreien: „Hier sind wir!“

*

Zum Abschluss wird noch ein Gruppenfoto mit Herrn Direktor Schnösel gemacht. Zuhause werden wir das Foto herzeigen und sagen: „Schau, die mit den roten Locken, das ist die Susanne, und das ist die Laura, die ihren Freund gar nicht betrogen hat, weil der Sex so schlecht war, und das ist die Brigitte, die drei Wochen vorgekocht hat und das der Generikum-Italiener.
„Und wer ist die in den peinlichen Leopardenleggings?“
„Keine Ahnung, wie die heißt, aber von Sternzeichen ist sie Schnepfe, Aszendent Dumpftussi.“

*

Morgen werden wir abreisen, ich werde die letzte Kurkolumne schreiben und nichts wird sich ändern.
Frische Gäste werden ankommen, im Gepäck Sehnsüchte, Schmerzen, Ängste und Hoffnungen. Sie werden Buttermilch trinken und Linsen mit Tofu essen und in der Konditorei heimlich über eine Kardinalschnitte herfallen. Sie werden wildfremden Menschen ihre Kranken- und Lebensgeschichten anvertrauen und Muskelpartien stärken, von denen sie nicht gewusst haben, dass diese existieren. Sie werden zu „Atemlos“ tanzen und in Augen fallen, die nur im Discolicht türkisfarben leuchten.
Sie werden sich von Meister Toni durchkneten und „Madalan“ nennen lassen und für Kathrin im Pool in die Knie gehen und ertrinken. Kathrin wird dazu lächeln und sagen: „Und jetzt spannen wir die Beckenbodenmuskeln an.“
Und irgendwie freue ich mich, dass wir die letzte Gruppe waren, die Heike kennenlernen durfte. Was die wohl jetzt macht?

Wir Abreisenden werden Adressen austauschen, die wir nach einem Jahr in den Tiefen unserer Handtaschen finden und uns fragen werden, wer noch mal Birgit Pospischil war.

*

„Freust du dich schon auf zu Hause?“
„Hast du schon gepackt?“
Das sind die am meisten gestellten Fragen heute.
„Wenn ich hier bin, freue ich mich hier zu sein“, antworte ich weise, „und wenn ich zu Hause bin, freue ich mich zu Hause zu sein. Wenn ich ein letztes Mal Aquafit brutal mache, mache ich Aquafit brutal und schwitze im Wasser. Packen tu ich zehn Minuten vor der Abreise.“

Mein neues Mantra gefällt mir.

Wir lesen uns morgen. Ein letztes Mal.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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