Kurkolumne, die Dritte

Halbzeit ist es auf meiner Forschungsreise in fremde Welten, wilde Riten und exotische Sitten. Ich habe viel erlebt, bin in bedrohliche Dickichte eingedrungen (Gerry aus Kärnten, Fremdenhass), habe mit Schweinehunden gekämpft und mich neuen Herausforderungen (unter anderem dem Überraschungsei) gestellt.

Ich muss euch sagen: Hier geschehen schreckliche Dinge.
Das Schrecklichste zuerst. Setzt euch bitte hin und seid jetzt ganz stark. Ich wollte es euren Nerven zuerst nicht zumuten, aber nachdem ich bereits besorgte Anrufe bekommen haben, was denn nun mit Heike passiert ist, sage ich euch die Wahrheit. Wie ich gestern von Meister Toni erfahren habe, kommt Heike nicht mehr. Sie hat ihren Traumjob hier in der Kuranstalt aufgegeben und einen neuen Lebensabschnitt begonnen. Eine Ausbildung möchte sie machen. Als wäre sie nicht ohnehin schon nahe der Perfektion. Heike, ach Heike! Ich versteh das ja, Bildung ist ein wichtiges Gut für die Jugend, aber hättest du damit nicht noch zwei Wochen warten können?
Wahrscheinlich bewirbt sie sich für Kärntens Next Topmodel und stolziert demnächst über den Laufsteg. Da ist Lächeln nicht nur nicht gefragt, sondern verboten. Ich werde für dich anrufen, Heike, ich verspreche es. Damit du ein Foto bekommst und am Ende nicht mit 0 Punkten dastehst, wie Österreich.
Damit nicht genug.

Ich war heute im Rahmen der kurärztlichen Zwischenuntersuchung das zweite Mal in den letzten drei Jahren (das erste Mal war bei Kurantritt) mit einer Menschenwaage konfrontiert. Sonst habe ich mit Waagen nur beim Kuchenbacken zu tun und halt mit meiner Tochter und einem lieben Freund.
Mit Menschenwaagen geht’s mir wie mit meinem Konto, da schau ich einfach nicht hin, weil das Wissen um eine unpersönliche und vermeintlich objektive Zahl nichts an der Realität ändert, einem aber mitunter ein grausliches Gefühl vermittelt, einerseits, weil es zu wenig, andererseits, weil es zu viel ist. Manche sagen, ich bin Verdrängungsexpertin, aber ich glaub nicht, dass es sich dabei um die klassische Verdrängung handelt, weil ich diese Sachverhalte ja nicht von der bewussten Wahrnehmung ausschließe, sondern mich ganz bewusst nicht damit konfrontiere.

Weil eine Kur, wie wir mittlerweile aber wissen, kein Urlaub ist, und man eine schwerwiegenden Entscheidungen wie das Betreten einer Waage nicht alleine treffen darf, bin ich eben hinaufgeklettert.
Die Kurärztin strahlte mich an (ich weiß nicht, warum sie sich darüber freute, denn sie kann definitiv nichts dafür). Zwei Kilo. Weniger. Ich gestehe, es ist mir einfach so passiert, ich verspreche, ich habe das nicht geplant. Ich hab nicht gehungert und keine Diät gehalten, ich hab mich nur viel bewegt und am Abend keinen Benzin (keine Sorge, das ist nur eine Metapher für Kohlehydrate) getrunken und vor dem Fernseher Nüsse statt Trockenfrüchte genascht, die enthalten zwar Kalorien, aber keine Glukose. Und wenn ich ganz ehrlich bin, freu ich mich ein bisschen, vielleicht, weil es einfach so passiert ist und ich nicht mal auf das köstliche Dessert (Buttermilch mit Zimt) verzichtet habe. Zum Glück ist der Rock, den ich letztens gekauft habe, ein Wickelrock und passt mir trotz des massiven Gewichtsverlustes noch.
Dann gibt es hier noch eine Supersensationswaage, die kann fast alles. Vor allem kann sie das diabolische Alter ausrechnen. Laura, die hübsche, schlanke Jungkurgästin, die in Wahrheit 30 ist, ist auf der diabolischen Waage satte 40 und geht seitdem auf die Midlifekrise zu. Da man mich ausnahmsweise frei entscheiden lässt, ob mir die Wahrheit zumutbar ist, habe ich beschlossen, mich da nicht draufzustellen. Ich muss mein Hochgefühl nicht gleich wieder von einer blöden Waage kaputttrampeln lassen.

Der aktuelle Stand bezüglich der Kältekammer ist der: Ich weiß, ihr wartet jetzt alle auf den Bericht und Vorher-Nachher-Fotos aus der Kältekammer. Die Sache ist aber die: Wenn ich die Kältekammer besuche und noch mehr an Gewicht verliere, kann ich den Wickelrock zweimal um den Körper wickeln und ich weiß nicht, ob das dann noch hübsch aussieht. Außerdem hab ich mir gestern überlegt, dass ich mir, wenn ich die Kältekammer viermal nicht besuche, 80 Euro spare. Ich rechne viel hier auf der Kur. Weil ich nicht gewusst habe, wohin mit dem Ersparten, hab ich mir schöne Strumpfhosen bestellt. Weil ich mit denen vielleicht doch schöner anzuschauen bin als ich im Badeanzug mit Bergschuhen mit Eiszapfen an den Nasenlöchern und Erfrierungen an den Ohren.

Und dann ist da noch etwas, über das ich seit einer Woche nachdenke. Über Winston Churchill. Also nicht über Winston Churchill an sich, sondern über sein Zitat auf dem wöchentlichen Kurnewsletter: „Die Kunst ist, ein Mal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“
Wie soll das gehen? Reicht es nicht, genauso oft aufzustehen, wie man umgeworfen wird? Vielleicht meint er ja damit, dass es eine Kunst ist, aus dem Stehen aufzustehen. Aber warum sollte man das überhaupt versuchen? Wir werden es nie erfahren, genauso, wie wir nie erfahren werden, ob Heike in ihrem neuen Job als Topmodel glücklich wird.
Heute ist Sonntag. Frühstückseitag. Schwefel- und aufzugsfrei. Fast ein bisschen wie Urlaub. Aber das sag ich nicht laut, wenn ich Herrn Direktor Schnösel über den Weg laufe.

*
Hier war gestern Pfingsten. Nur einen Tag lang, weil an einem Feiertag normaler Kurbetrieb herrscht. Wir-sind-ja-schließlich...
Und weil Pfingsten ist, kommen viele Angehörigen angereist, mit Koffern und Blumen und Salamistangen. Bei den Begrüßungsszenen hat man den Eindruck, es handelt sich um Familienzusammenführungen nach vielen Jahren der Trennung. Ich suche nach der versteckten Kamera.
Hallo?, möchte ich schreien, entspannt euch, es sind nur drei Wochen! Außerdem sind wir hier nicht auf einer siebenjährigen Expedition in Alaska, sondern auf Kur. Wir bekommen auch genug zu essen. Ich hab in meiner Kolumne nur übertrieben!

Die Frauen ziehen sich ihr Sonntagsdirndl und die Männer ihr Trachtenjackerl an, die Omas zeigen stolz ihre Enkelkinder und die Männer und Frauen mehr oder weniger stolz ihre Ehegatten. Wenn eine arme Frau ohne Besuch, also so eine wie ich, in der Nähe ist, fassen die Frauen ihre Ehegatten demonstrativ um die Mitte, um zu signalisieren: Finger weg. Der gehört mir. Sie sagen auch Dinge wie „der Meinige“ oder „mein Schatz“, um die Besitzverhältnisse ein für allemal klarzustellen.

Kurgast Laura, die diabolische 40jährige, die erst 30 ist und die vor ein paar Tagen in die türkisblauen Augen von Kurgast Wolfgang gefallen ist, freut sich nicht, dass ihr Freund kommt. Er kommt trotzdem. Gewissenhaft spult sie das Pflichtprogramm herunter, lächelt ein bisschen gekünstelt und stellt uns „den Meinigen“, also den Ihrigen vor. Ihre Augen glänzen nicht annährend so strahlend, wie wenn sie über Wolfgang erzählt. „Ich hab überhaupt keine Lust, mit ihm zu schlafen“, vertraut sie uns an.
„Sag ihm, du hast morgen um 5 Uhr 30 Beckenbodengymnastik und darfst vorher 24 Stunden lang keinen Sex haben“, flüstere ich ihr ins Ohr, als ihr Freund aufs Klo geht.

Zu mir kommt niemand. Meine Tochter sitzt auf einer sonnigen Wiese in Dänemark, mein Sohn auf dem Traktor und mein Mann mit Headset am Computer, wo er Planeten erobert, mit Rohstoffen handelt und damit Raumschiffe baut und Allianzen bildet. Die Vorstellung, dass er hier überraschend mit Blumen auftaucht, löst einen Lachanfall bei mir aus. Der Kurbetrieb wäre für ihn außerirdischer als wenn seine Flotte von Klingonen angegriffen würde. Er würde auch nicht höflich wie ich feststellen, dass Helene Fischer nicht seine bevorzugte Musikrichtung ist, sondern es auf den Punkt bringen: „Wos is’n des für a Schaas?“

Weil sich angesichts der herzergreifenden Wiedersehensfreude Tränen der Rührung in meine Augenwinkel schleichen und sich auch in meinem Herzen kurz so etwas wie Sehnsucht nach meiner Familie breit macht, rufe ich meinen Mann an.
„Vermisst du mich schon?“, frage ich.
„Nein, warum, ich weiß ja eh, wo du bist“, sagt er.
„Und, wie geht’s so im Männerhaushalt?“, frage ich, nachdem ich Schauergeschichten gehört habe über Männer, die die Lieblingswollweste in die Kochwäsche getan und bei der Mikrowelle den Einschaltknopf nicht gefunden haben. Na gut, wir haben keine Mikrowelle, aber trotzdem.
„Super“, sagt er, „ich koch, was uns schmeckt, keiner macht einen Saustall und niemand sägt und schleift um Mitternacht.“
Ich weiß, es ist seine Art, mir zu sagen, dass ich ihm fehle und er mich liebt.

Die Familienzusammengeführten lassen den Mittagstisch ausfallen und gehen mit ihren Angehörigen in die umliegenden Gasthäuser und schlagen sich mit Schnitzeln den Bauch voll, als hätten sie nie etwas von einer metropolischen Waage gehört. Zwei Stunden später, als sich der Fettverbrennungsstaubsager endlich in Bewegung setzen will, tanken sie mit Sachertorte nach.

Beim Abschied spielen sich ähnlich ergreifende Szenen wie am Flughafen von Casablanca zwischen Rick und Elsa ab, nur dass Brigitte Pospischil nicht wie Ingrid Bergmann und ihr Mann Helmut nicht wie Humphrey Bogart aussieht. „Was ist mit uns?“, sagt Brigitte-Elsa mit Augenaufschlag und Helmut-Rick antwortet: „We will always have Eisenstadt.“

Am Abend stochern die Kurgäste in ihren Erinnerungen und im Salat herum und erzählen von dem wunderschönen Tag und dem Besuch der heiligen Messe, die großartig war, mit Predigt und Chor und Musik und überhaupt.
„Was denn für eine Messe?“, heuchle ich höfliches Interesse.
„Die lateinische.“
„Und du hast die Predigt auf Latein verstanden?“ Vielleicht habe ich die Menschen hier unterschätzt.
„Sie war ja auf Deutsch.“
Da soll sich einer auskennen. „Und was wurde so gesungen?“
„Unter anderem Gloria und Hallelujah.“
„Gloria von Patti Smith oder das Original von Van Morrison? Also das Hallelujah mag ich ja in der Fassung von K.D. Lang am liebsten.“

Als auch die letzten Gäste der Kurgäste weg sind, kehrt wieder Kuralltag ein. Man trinkt wahlweise Kräutertee oder die gefährliche Buttermilch, tauscht sich über Beschwerden aus und überprüft die morgigen Termine auf der Kurkarte. Lauras Augen glänzen wieder, als sie unter Wolfgangs Bettdecke kriecht.

Ich schreibe eine SMS an meinen Mann. „Ich glaub, ich bin auch auf einem fremden Planten gelandet.“
steppenhund - 25. Mai, 09:19

Köstlich!

Lisa (Gast) - 26. Mai, 11:14

Bitte, Kurkolumne, die Vierte!


Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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