Jan

Wir saßen beim Italiener. Mama, meine zwei Schwestern, Mamas neuer Freund und ich. Meine Schwestern sind in Wahrheit nur meine Halbschwestern, wir haben drei unterschiedliche Väter. Eine Schwester einen New Yorker Maler mit jüdischen Wurzeln und die andere einen Geschäftsführer eines All-inclusive-Clubs in Djerba. Mein Vater war Arzt in Amsterdam. Irgendwie kann ich verstehen, dass keiner der drei es länger als zwei Jahre mit Mama ausgehalten hat.
Trotz der Entfernung sind sie alle ihre Freunde und unsere Väter geblieben. „Ich liebe sie immer noch“, sagte Mama oft, und jedes Mal, wenn sie das sagte, zuckte Klaus, ihr Neuer zusammen. „Vielleicht hätte ich sie nicht verlassen sollen“, sagte sie auch hin und wieder, dabei waren es immer die Männer gewesen, die gegangen waren. Mama war schön, bunt und schrill. Klaus war höflich und lieb, aber ein bisschen spießig. Er passte nicht zu uns.

Mama war Schauspielerin. Sie hatte zufällig gerade ein Engagement und daher Geld in der Tasche. Wie immer, wenn sie Geld in der Tasche hatte, lud sie uns zum Nobelitaliener ein. Wenn sie keines hatte, was viel häufiger vorkam, oder wenn der Unterhalt für uns Kinder nicht pünktlich eintraf, gab es Spaghetti in allen Variationen. Mit Tomatensoße, Aglio und Olio, mit Thunfisch, Carbonara, Bolognese. Oder Pizza aus dem Tiefkühlfach.

Es passierte zwischen Antipasti und Primo Piatto. Die erste, große Gier war gestillt, doch der Hunger noch lange nicht, die Vorfreude auf das, was noch kommen sollte, war groß. Es war einer dieser Momente, in dem alle Sinne und Poren aufnahmebereit sind. Ich schwöre, ich hatte es nicht geplant, irgendwann vielleicht, aber nicht für diesen Abend. Doch als Paolo Contes Max durch den Raum waberte, spürte ich, dass dieser Augenblick der richtige, ja, der einzig mögliche war.

Enrico, der schöne Oberkellner mit der Elvis-Tolle und dem verschmitzten Lächeln, hatte gerade die Vorspeisenteller abserviert, auf meiner Zunge lag noch der Geschmack von gerösteten Babycalamari auf Ruccola und gerösteten Pinienkernen. Ich verstand nicht, wovon Paolo Conte sang, aber das Lied erzeugte Gänsehaut auf meiner Seele. Nur ein paar Worte fing mein Geist auf, und unter diesen Worten waren vor allem zwei, die meine Aufmerksamkeit und mein Herz erregten. Max und segredo. Geheimnis.
Ich trank einen Schluck Sauvignon Blanc, obwohl mir Wein nicht schmeckte, und kratzte meinen Mut zusammen.

Im Kopf war ich diese Szene schon unzählige Male durchgegangen. „Ich bin draufgekommen, dass ich homosexuell bin“ klang zu steril. „Ich bin ein stolzer, schwuler Mann“ zu pathetisch und hätte wahrscheinlich Lachanfälle meiner Familie ausgelöst. „Ich hab mit einem Kerl gevögelt“ war zu ordinär und die Wahrheit - nämlich „ich habe mich in Max verliebt“ - zu romantisch.
„Ach ja, hab ich vergessen zu sagen“, sagte ich so beiläufig wie Ich hab eine Zwei minus in Mathe, „ich bin schwul.“
Enrico stellte die Linguine mit Parmesancreme mit Trüffel vor mich. Ich schwöre, er hat mich noch eine Spur verschmitzter als sonst angelächelt.
„Armer Kleiner“, sagte Jacoba, meine große Schwester und strubbelte mir durchs Haar. Sie wusste, dass ich beides nicht leiden konnte, das Strubbeln und das Kleiner. „Das gibt nur Probleme, glaub mir. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Du weißt, wovon du...?“
„Sicher. Ich steh schließlich auch auf Männer. Die sind so ungeheuer kompliziert.“ Sie rollte die Augen und wickelte die Nudeln auf die Gabel.
Meine kleine Schwester konzentrierte sich auf ihr Smartphone und ich dachte erst, sie suchte nach einer Taste, mit der sie sich aus dieser peinlichen Situation wegbeamen konnte. „Ich hab’s!“, rief sie plötzlich und las einen Spruch aus Facebook vor: „Niemand sucht sich Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aus. Aber jeder kann wählen, ob er ein Arschloch ist.“
„Jamaal!“, sagte Mama.
„Ich hab doch nur gemeint, dass Jan ganz bestimmt kein Arschloch ist. Er ist einer von den Guten.“
„Danke, Süße.“ Sie konnte es nicht leiden, wenn ich sie Süße nannte.

Mama leckte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel, schenkte allen Wein nach und sagte: „Danke, dass du es uns gesagt hast, Jan. Ich hab mir so etwas Ähnliches eh schon gedacht“. Sie sagte es im gleichen Tonfall wie sonst Reichst du mir bitte mal das Salz rüber? Was bitte war etwas Ähnliches wie schwul?, dachte ich und wollte fragen. Aber Mama lächelte mich an und sagte nur: „Reichst du mir bitte mal das Salz rüber?“

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Kein Erdbeben, keine Tränen und keine Vorwürfe, dazu war meine Familie viel zu durchgeknallt und tolerant – oder war es bloß Gleichgültigkeit, weil alle mit sich selbst beschäftigt waren? Dass mein Outing sie weniger überraschte als hätte ich soeben gestanden, bei den Pfadfindern zu sein, das verblüffte – und kränkte mich jedoch. Ich hätte mir mehr Aufmerksamkeit für diesen denkwürdigen Moment gewünscht, in dem ich mich vor mir und meiner Familie zu meiner Sexualität bekannte. Vor allem von Mama.
Es war nämlich so: Auch, wenn ich es mir vormachte – es war doch nicht normal, schwul zu sein! Es machte mir Angst, verwirrte mich, wirbelte mich durcheinander. Ich wollte mich erklären, kämpfen, reden, mich rechtfertigen. Aber Mamas Aufmerksamkeit galt der Kalbsleber nach Borgo Art mit Zwiebeln, Sellerie und Polenta. „Heute hat der Koch sich wieder selbst übertroffen“, sagte sie.

Einzig und allein Klaus, Mamas biederer, lieber Freund, erkannte meine Notsituation und versuchte mich zu retten. Er hörte auf zu essen und legte das Besteck zur Seite. „Aber Jan, das kann man in dem Alter doch noch gar nicht so genau wissen“, sagte er und zwinkerte mir aufmunternd zu, „das geht bestimmt vorbei. Spätestens, wenn die Richtige kommt.“
viennacat - 10. Feb, 01:55

Danke, Verehrteste, You made my nite.;-)

Ich habe die Geschichte ganz genüsslich gelesen, genauso genüsslich wie ich den Krapfen, den ich beim Seminar geschenkt bekommen und jetzt im Rucksack gefunden habe, schnabuliert habe.

Genauso ereignislos ist das Outing bei meiner Familie passiert....

testsiegerin - 10. Feb, 10:54

Gab es denn wenigstens einen Klaus?
viennacat - 11. Feb, 10:35

nix.
kein klaus. keine claudine.
;-)
rosmarin (Gast) - 10. Feb, 18:41

hach....
ein schöner text, ein echter Testsiegerinnentext :-)

testsiegerin - 10. Feb, 19:10

danke! und nachträglich alles, alles liebe zum geburtstag!
katiza - 16. Feb, 18:51

It's wonderful, bezaubernde B....

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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