Freedom’s Just Another Word

Er ist ein attraktiver Mann, 49 Jahre alt, dunkles, längeres Haar. Er hat etwas Verwegenes. „Lassen Sie mich in Ruhe“ sagt er, bietet mir aber einen Sessel an, „ich sag sowieso nichts.“
Ich erkläre ihm den Grund meines Kommens. Sein Pensionsantrag wurde abgelehnt, laut Gutachter könne er trotz seiner Persönlichkeitsstörung arbeiten, wäre da nicht der Alkohol. Der Richter zweifelt an seiner Prozessfähigkeit. Ich zweifle am Gutachter. Der Mann ist verzweifelt.
„Das ist mir viel zu schnell“, sagt er, und als ich es langsamer erzählen will, unterbricht er mich: „Es interessiert mich sowieso nicht. Wissen Sie, meine Gedanken sind nicht gerade.“
Ziele hat er keine und Interessen auch nicht. Ein paar Bier, ein paar Stamperl und Fernsehen, das ist sein Lebensinhalt. In seinem Zimmer im Haus der Mutter, weil draußen regt ihn alles auf. Die Frauen haben ihn beschissen, sein Arbeitgeber hat ihn beschissen, und das Leben sowieso. „Solche Kabeln hab’ ich“, sagt er und deutet auf seinen Hals ¬– ich kann die Kabeln förmlich sehen – und schimpft über die „Tschusch’n“, die an allem schuld sind, mit Worten, die ich hier besser nicht erwähne. Wenn jemand im Wartezimmer des Arztes oder in der Straßenbahn solche rassistischen Äußerungen von sich gibt, sage ich meine Meinung. Das bin ich mir schuldig. Jetzt schweige ich. Das bin ich mir auch schuldig. Ich mag mein Leben. Ich spüre die Angst hinter seiner Aggression. Sie ist so ansteckend wie Masern.
Die alte Mutter sitzt in der Ecke der Küche und mischt sich immer wieder ein. Ich bin trotzdem froh, dass sie da ist.
„Eins sag ich Ihnen“, sagt er, „wenn ich geh, dann geh ich nicht allein. Ich nehm jemanden mit. Wenn man das nicht will, soll man mich in Ruhe lassen. Ich hab nichts zu verlieren.“ Der Satz trifft mich, und er macht mich nachdenklich. Ich hab so viel zu verlieren, denke ich.
„Was ist mit der Freiheit, die Sie zu verlieren haben?“ Kaum habe ich es ausgesprochen, beiße ich auf meine Unterlippe.
„Was denn für eine Freiheit?“, sagt er und denke ich gleichzeitig.
steppenhund - 11. Sep, 10:26

Sollte dies eine der Realität entsprechende Erzählung sein, dann ist die Äußerung "Ich nehme jemanden mit" anzeigepflichtig.
D.h. der Mann gehört in eine geschlossene Anstalt, damit er seinen Vorsatz nicht wahr machen kann.
Man könnte in der Zeitung lesen: hätte (ein) der Mord verhindert werden können, wenn man seine Ankündigungen ernst genommen hätte?
-
Eine wenig bemerkenswerte Situation, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass (von mir) nicht einmal Mitleid empfunden werden kann.
Das mit der Freiheit kann hier kein Thema sein. Freiheit besteht darin, dass man sich entscheiden kann. Der Mann hat sich bereits entschieden, unfrei zu sein.
Traurig aber (mich) nicht berührend.

Olaf (Gast) - 11. Sep, 11:46

Ihr Sicht auf den Mann ist mir zu einfach @ Steppenhund

Ob die Geschichte nun erfunden oder wahr ist spielt keine Rolle. Es gibt solche Menschen und ich kenne mehrere, bei denen ich beim Lesen des Textes Parallelen gesehen habe.

Der Mann hat sich eben nicht selbst entschieden unfrei zu sein. Er ist aufgrund seines Befundes und der Alkoholabhängigkeit, die nebenbei gesagt als Krankheit anerkannt ist, gar nicht in der Lage sich für eine Freiheit zu entscheiden. Er kann das Dilemma seines Daseins nicht ändern - noch nicht mal dann, wenn er es wollte.

Irgendwie ist es für mich so, als würden Sie sagen, dass ein Rollstuhlfahrer kein Mitleid "verdient" hätte, weil er keine Treppen steigen kann. Ja, das Beispiel hinkt ein wenig, aber im Kern ist es das Gleiche. Es ist eine Anmaßung zu definieren welcher Lebensentwurf gut, richtig und anerkannt ist und welcher nicht. Vor allem wenn klar ist, dass die Situation des Protagonisten nicht von ihm selbst verändert werden kann.

Der angekündigte erweiterte Suizid kann nicht nur dadurch verhindert werden, dass der Mann in einer geschlossenen Anstalt weggesperrt wird. Man könnte einer solchen Tat auch vorbeugen, in dem man ihm zuhört: "Lasst mich in Ruhe!"

Was ist so schwer daran, ihm die paar hundert Euro Pension zu geben, damit er sein Leben leben kann? Weil jemand der nicht arbeitet auch nicht essen soll? Dieses ur- und veraltete Menschenbild will für mich so gar nicht mehr in unsere Zeit passen. Davon sollten wir endlich wegkommen. Denn die Qualität einer Gesellschaft erkennt man immer daran, wie sie ihre Kranken und Schwachen behandelt. Vor allem wenn es sich um so reiche Gesellschaften wie die unsrigen handelt.

Was dieser Mann braucht ist ein Mensch, der sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, sich sein Vertrauen zu erarbeiten (auch wenn das jetzt eine küchenpsychologische Ferndiagnose mit großem Fehlerpotential ist). Was er braucht ist jemand, der ihn da abholt wo er steht und seine Interessen vertritt, die ja nun wahrlich nicht sehr komplex sind. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert.

Was er nicht brauchen kann sind Beurteilungen nach Aktenlage und Analysen im Vorbeigehen. Wenn dieser Mann seine Ankündigung wahr machte, dann würde ich "die Schuld" zuerst in den Mechanismen einer Bürokratie suchen, die - ähnlich gehändicapt wie der Mann selbst - nicht in der Lage ist, das Individuum, also das potentielle Opfer des Mannes, in seinen Wünschen und Bedürfnissen zu erkennen und ernst zu nehmen.

Es würde mich sehr freuen, ihre Sicht auf meine Gegenrede zu lesen.

Beste Grüße aus'm Norden

Olaf
la-mamma - 11. Sep, 17:51

irgendwo in der mitte

als ich den text das erste mal gelesen hab, war ich berührt. mein helfersyndromreflex springt an, was kann man für so jemanden tun? was ändert es, ob er jetzt pension, mindestsicherung oder notstand bekommt? vermittelbar ist er am arbeitsmarkt ganz sicher nicht, vom alkoholismus wird er nicht loskommen wollen, wahrscheinlich das einzige, das sein leben in seinen augen überhaupt erträglich macht.

was soll man also jemandem sagen, dessen perspektiven gleich null sind? selber schuld, kein mitleid, kann es einfach nicht sein, oder? (wo er doch glaubt, dass NUR die anderen schuld sind, und sich jeden sündenbock sucht ...)

was soll man jemandem sagen, dessen soziale kontakte sich garantiert längst alle verabschiedet haben und dessen krankheitsbild (wenn ich das richtig interpretiere) den umgang mit anderen garantiert auch nicht leichter macht?

drum bin ich mir nicht so sicher, wie sehr sich das mit dem kümmern ausgehen kann ...
steppenhund - 11. Sep, 23:16

@Olaf

Selbstverständlich greift eine Sicht, die in 15 Zeilen ein Menschenschicksal beleuchtet, zu kurz.
Für mich ist es nicht egal, ob die Geschichte wahr oder erfunden ist. Ich kenne die Autorin und ihre Beoabachtungsgabe. Daher nehme ich bestimmte Darstellungen wörtlich.
Es stimmt, dass Menschen in den Alkoholismus hineinrutschen. Mir wurden Fallbeispiele präsentiert, die Mitleid erwecken. (Ich musste als Führungskraft an einem Seminar über Alkoholismus teilnehmen und ich habe danach vieles anders gesehen als zuvor.)
Es gibt exogene Gründe, dass ein Mensch zum Alkohol getrieben wird. Aber es gibt auch die Selbstbestimmung, keinen zu trinken. Wenn sich bereits Jugendliche ins Koma saufen, kann ich sie bedauern aber nicht bemitleiden. Das Gleich gilt für deren Eltern, die es nicht schaffen, solches zu verhindern.
Die beschriebene Person kann ihr Dasein nicht mehr verändern, da stimme ich zu. Doch ich unterstelle, dass er es nicht wollte, als die Umstände es noch zuließen.

Die Geschichte mit dem Lebensentwurf ist ein Problem für sich. Wenn ich heute meine Studenten frage, warum sie ausrechnet ein bestimmtes Studium wählen und sie keine schlüssige Antwort geben können, dann fehlt ein Lebensentwurf. Dann ist die eigentliche Antwort: mal schauen, was daher kommt. Und das hängt dann nicht von Intelligenz oder von einer Behinderung ab, sondern besteht in einer geistigen Trägheit, die möglicherweise durch die Umgebung bestimmt ist, aber nicht mein Mitleid erwecken kann.

Aussagen gewalttätiger Art sind für mich unentschuldbar, selbst wenn ich sie selbst tätige.

Was das sich um ihn kümmern angeht, stimme ich meiner Vorposterin zu. Dem stehen viele Hindernisse entgegen. Außerdem würde das ebenfalls für eine Einweisung sprechen.

Mit dem Paragraphen über Behördenverhalten und bürokratische Mechanismen kann ich mich Ihnen anschließen. Selbst wenn alle ähnliche Fälle eine Frühpension erhalten, könnten wir uns das leisten.

Ich finde Ihre Einwände gegen meine Darstellung durchaus berechtigt. Ich habe mir Gedanken gemacht, ob ich überhaupt so hart formulieren soll. Da in meiner Verwandschaft einige Leute mit Behinderten (Menschen mit besonderen Fähigkeiten - oder wie das heißt) zu tun haben, teilweise ihr ganzes Leben mit ihnen arbeiten, sind mir bestimmte Probleme durchaus aus Erzählungen bekannt. Selbst meine Tochter hat ein ganzes Jahr nach der Matura in einem Dorf in der Schweiz gearbeitet. Das hätte sie wohl nicht getan, wenn sie in unserer Familie nur meinen dargelegten Standpunkt hören hätte können.

Ich gebe allerdings auch zu bedenken, dass es bei Alkoholikern auch das Problem der Ko-Abhängigkeit der nahen Personen gibt.
Jossele - 12. Sep, 09:47

@Steppenhund, soweit scheint die Lösung mit der geschlossenen Anstalt einfach zu sein, aber nicht realisierbar.
Nicht nur, dass wir jemand nicht so einfach die Freiheit nehmen sollten, wären die Kapazitäten heillos überfordert, jeden und jede, die irgendwann Mordfantasien aussprechen, einzusperren.
Es gibt menschenwürdigere Lösungen, ihn und seinem Umfeld zu helfen (allerdings macht eine politische Partei, mit dem Schüren von Feindbildern in einfachem Schwarz-Weiß mögliche Ansätze ein bisserl schwieriger, weil es ist einfach, wenn jemand da draußen schuld hat).
Olaf (Gast) - 12. Sep, 12:38

@ Steppenhund

Ja, es gibt "externe" und "interne" Gründe für Alkoholmissbrauch. Manch einer rutscht im Laufe der Zeit in die Abhängigkeit ohne es zu merken, was recht schnell geschehen kann, ist doch Alkohol die Droge Nr. 1 bei uns, weil gesellschaftsfähig - wenn man damit umgehen kann. Insofern haben Sie recht, die meisten Alkoholiker hatten dereinst eine Wahl.

Der von Barbara beschriebene Mann hat aber auch eine Persönlichkeitsstörung und es wäre interessant zu wissen, inwieweit diese für seine Abhängigkeit ursächlich ist.

Aber auch die von Ihnen beschriebene Orientierungslosigkeit bei den Lebensentwürfen ist nicht immer unbedingt einer "Faulheit beim Denken" geschuldet. Wenn ich in die Welt schaue, dann sehe ich viel Orientierungslosigkeit, vor allem auch wegen der Abnahme des eigenen Denkens von anderen. Lebensentwürfe, Ideologien, Lebensarten, Ansichten und Einsichten - alles kann man leicht von andern ein wenig aufgewärmt übernehmen. Manchmal fehlt den Menschen auch einfach nur der Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, manchmal fehlen ihnen aber auch die Fähigkeit das zu tun. Sie haben es nie gelernt.

Aber das alles sind Fragen, deren Antworten nur in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs erarbeitet werden können. Jossele hat angesprochen um was es mir geht: die Menschenwürde. Auch jemand wie der Protagonist in Barbaras Geschichte hat ein Recht darauf. Die Erhaltung, ja vielleicht sogar die Errichtung, dieser seiner Menschenwürde wäre die beste Vorbeugung, dass er seine Phantasie nicht in die Tat umsetzt.

Aber ich respektiere Ihre Meinung und kann durchaus sehen, dass Sie nicht falsch liegen. Denn auch das setzen von Grenzen ist absolut notwendig, wenn es allen gut gehen soll.

Ihnen allen ein schönes Wochenende.

Olaf
rosmarin - 11. Sep, 23:37

ein schöner text.
so unseicht... und einfach schön wie er ist.
das wort "befund" löst bei mir allergien aus. ebenso wie die sache mit den ko-alkoholikern.
diese diagnostiziererei ist eine einzige drückerbergermasche, um sich um die eigentlichen fragen (die naturgemäss unbeantwortbar sind) zu drücken.
schön, dass er die autorin nicht mitgenommen hat.
verständlich, dass er so empfindet.
unverständlich, dass er so empfindet.

datja (Gast) - 12. Sep, 17:35

oh,das kenn ich...
beschissen fühlt man sich, und hilflos auch.
so oft empfinde ich tiefste empörung: gutachter, ärzte, behörden, das system, das die menschen vergisst, nur zahlen, geld und macht kennt.
pfui deibl, dauernd so viel niedertracht !

bei 2 klienten hab ich's - ??? mit hilfe des universums ??? - nach jeweils 3 jahren betreuung geschafft.
nicht nur aus der "geschlossenen" wieder raus, nicht nur in eine eigene wohnung rein, sie wurden und sind noch immer trocken, erfolgreich integriert, haben zukunftsperspektiven...vor allem aber die paar hundert euro pension, die die grundlage für ein leben ohne dieses "PFEIF DRAUF" ist.
was muss ich an mir halten, wie diplomatisch muss ich agieren, damit ich als begleitperson bei behörden die chancen erhöhe ...
reine nervensache ...
;)))

meine empörung, meine wut, mein trotz und eine große portion glück verhalfen mir zu manchen erfolgserlebnissen, die mir so wichtig sind.

FREEDOM IS...


nicht entmutigen lassen, liebe testsiegerin, weiterkämpfen, weitermachen !
es lohnt !

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"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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