Geschichten

Donnerstag, 29. Mai 2014

Gertrude

„Gestern hatte die Pflegerin einen Praktikanten mit. Ich hab nichts gegen Praktikanten, natürlich müssen die das auch lernen, aber warum ausgerechnet beim Hugo?“
Ich höre der alten, wohlhabenden Frau mir gegenüber zu, versuche zu verstehen, was sie zu der gemacht hat, die sie ist. Kalt. Ablehnend. Kontrollierend. Da ist viel Angst, denke ich und versuche ihr die Angst zu nehmen, indem ich sie bestätige, ihr zuhöre, mir Zeit nehme. Aber immer wieder watscht sie mich verbal ab. „Sie haben Glück, dass ich Sie hereingelassen habe“, sagt sie, „ich umgebe mich normalerweise mit gebildeten und distinguierten Menschen“, sagt sie. Ich wandere durch mein Lavendelfeld und spüre die Wärme, sage ich mir. Das mache ich immer, wenn ich davor bin, meine Gelassenheit zu verlieren. Schließlich bin ich nicht ihretwegen hier, sondern wegen ihres Mannes.

„Der Praktikant saß hier und hat mich die ganze Zeit angestarrt“, fährt Gertrude fort, „und alles an ihm war Sex. Einen Bart von hier bis hier.“ Sie deutet mit der Hand von einem Ohr zum anderen. „Die Beine hatte er von sich gestreckt. Das ist doch ein unmögliches Benehmen, finden Sie nicht?“
„Ach, ein junger Mann halt“, beruhige ich, „die sitzen heutzutage eben so“. Gertrude sitzt im Damensitz auf dem antiken Sofa, die Knie eng aneinander, die Beine schräg abgewinkelt. „Sie haben ja keine Ahnung“, sagt sie, „es bleibt Ihnen natürlich unvoreingenommen, das so zu sehen, aber wissen Sie, mein Empfinden ist noch normal.“ Ich nicke. Selbstverständlich. „Ich bin es ja gewöhnt, dass die Männer aufdringlich sind“, erklärt sie mir, „aber dieser Praktikant - das war zu viel des Guten. Aus jeder Pore strahlte er Sex aus, absichtlich. Ein Bart ist ein Signal von Sex und Männlichkeit, durch und durch. Letztens sah ich auf der Straße einen Türken – ich hab nichts gegen Türken – aber überall Haare auf den Armen und an der Brust. Unglaublich, denen geht es nur um Sex.“
Ich verdränge den undistinguierten Gedanken, dass Gertrude vermutlich nie richtig gut durchgefickt wurde und jetzt im Alter ihre ein Leben lang unterdrückte Sexualität an die Oberfläche kommt. Ich denke an mein Lavendelfeld.
Gertrude ist beunruhigt. Nicht nur wegen des jungen Mannes. Auch wegen der gar nicht mehr so jungen Damen des ambulanten Dienstes. „Stellen Sie sich vor“, erzählt sie mir, aber ich stelle mir das lieber nicht vor, sondern gehe in Gedanken durch mein Lavendelfeld und spüre die Wärme „die waschen ihn auch da untenrum, in seinem Intimbereich. Eine hat letztens seine Vorhaut zurückgeschoben. Das ist würdelos. Das ist doch die empfindlichste Stelle des Mannes. Was das bei ihm auslösen kann! Kein Wunder, dass die so gern Pflegerinnen sind, wenn sie den Männern dahin fassen.“
Ein ganzes Leben lang habe sie gekämpft, erzählt Gertrude, und sie wird erst aufhören zu kämpfen, wenn sie die Augen für immer zumacht. „Die eine Pflegerin ist ja ganz nett, die Erika“, sagt sie, „aber was soll ich sagen? Ein Nilpferd kann man nicht dazu bringen, wie eine Gazelle zu tanzen.“
Ich unterdrücke mein Lachen, das sich mit Ärger mischt und wage mich aufs Glatteis. Ob sie schon mal an eine 24-Stunden-Betreuung für den Hugo gedacht habe, frage ich, das würde ihr das Leben vielleicht auch ein bisschen leichter machen. Dabei kenne ich die Antwort ohnehin. „Also das darf jetzt nicht wahr sein!“, stößt sie empört hervor, „das sind ja alles Slowakinnen, ich mein, ich hab nichts gegen Slowakinnen, aber oben in dem Zimmer sind wertvolle Bücher und Gegenstände, die würde uns ja alles klauen. Ich könnte die ja nicht mit Hugo allein lassen. Möchten Sie das, dass ja ständig jemand Fremder in ihrem Haus ist und sie vielleicht beklaut?“

Die Betreuerinnen von der ambulanten Pflege lässt sie auch nicht mit ihrem Gatten allein. Sie zwängt sich sogar in das winzige Badezimmer, wenn die Pflegerinnen ihn duschen. „Aber ich hab die jetzt sowieso abbestellt, was das kostet!“
Es schleicht sich so etwas wie Mitleid mit der Frau, die immer kämpfen muss, in mein Herz, aber noch mehr Mitleid habe ich mit Hugo, ihrem 94-jährigen Mann, der nebenan im verdunkelten Zimmer sitzt und nicht ausreichend ernährt und gepflegt wird.
Was denn die Hausärztin zu der Situation sage, frage ich. Die wurde gewechselt, die Ärztin. Weil sie dem Hugo eine Infusion angehängt habe. „Hier an der Wandleuchte hat sie die angehängt. Was sagen Sie dazu? Man kann doch an diese wertvolle Wandleuchte nicht einfach eine Infusion anhängen. Und dann wollte sie den Hugo ins Heim stecken. Der hat doch alles bei mir!“

Ich glaube, es ist ohnehin sinnlos, mit ihr zu diskutieren. Ich wandere durch mein Lavendelfeld und spüre die Wärme.
„Mein Leben lang habe ich gekämpft“, sagt Gertrude, „und jetzt scheren Sie sich zum Teufel!“

Samstag, 19. April 2014

Sag mir dein schönstes Wort

„Nur eines von euch kann Germans Next Top Word werden und auf das Cover einer deutschen Wochenzeitung kommen“, lächelt Heide den Wörtern zu, die es ins Finale geschafft haben, „nur eines von euch kann den begehrten Werbevertrag mit dem Duden bekommen. Also strengt euch gefälligst an. Geht nach hinten, macht euch schön, und wir sehen uns gleich auf dem Walk.“


„Hallo Du“, begrüßt Heide das schmächtige Wort, das als erstes mit wackligen Beinen über den Catwalk schreitet und am Ende eine unsichere Pose einnimmt, „stell dich doch mal vor.“
„Hallo, ich bin Du“, antwortet das Du kaum hörbar.
Heide lacht. „Nein, du bist nicht Ich, das bin ja schon ich. Du bist noch ein wenig schüchtern, scheint es. Woher kommst du, was sind deine Hobbys, was zeichnet dich aus? Erzähl mal ein bisschen von dir!“
Das Du schüttelt den Kopf. „Ich rede nicht so gerne über mich. Das tun ohnehin alle anderen.“
„Warum glaubst du, dass ausgerechnet du das Zeug zu Germans Next Top Word hast?“
„Wegen des Gedichts von Rose Ausländer. Kennen Sie das?“
Ein paar der anderen Wörter im Backstagebereich, zwei blonde und blauäugige Wörter, beginnen zu tuscheln und zischeln. „Habt ihr gehört? Ein Ausländer! Jetzt mischen die hier auch schon mit! Und ein Gedicht will es aufsagen. Wie peinlich ist das denn? Wir sind ja nicht im Kindergarten.“

„Nein, das Gedicht kenne ich nicht“, sagt Heide und schmunzelt. „Was ist überhaupt so ein Gedicht?“
Das kleine Du stemmt mutig die Hände in die Hüften und rezitiert:

„Wir wohnen
Wort an Wort
Sag mir
dein liebstes
Freund
meines heißt
Du“

„Aha“, sagt Heide, zupft ihre Haare zurecht und betrachtet sich im Spiegel. „Ich muss sagen, du zählst heute zu den Wackelkandidaten. Du hast mich mit dem Gedicht nicht überzeugt.“
Das Du lässt den Kopf hängen und marschiert zurück in den Backstagebereich.

Als nächstes ist das Wort Habseligkeiten dran. Es fühlt sich unter den aufgetakelten, frisierten Wörtern sichtlich unwohl und steht ein wenig abseits. Es fühlt sich gemobbt, dabei wusste es bis vor einer halben Stunde noch gar nicht, was dieses englische Wort bedeutet. Habseligkeiten hat sich nicht freiwillig für den Bewerb angemeldet, sondern wurde von den Lesern einer großen Tageszeitung direkt in die Endrunde gewählt. Als es aufgerufen wird, trappelt es mit Bubikopf und in Riemchenschuhen in Krokodilleder nach vorne.
„Da ist etwas sehr Interessantes in deiner Attitude“, urteilt Heide, „etwas, das dich von deinen Mitbewerberinnen unterscheidet. Wenn du auch keine Schönheit im klassischen Sinn bist. Aber dein Ausdruck ist etwas zu kantig.“
Habseligkeiten schluckt tapfer die Tränen hinunter. „Wie meinen Sie das?“, fragt es und Heide hat keine Antwort, also wiederholt sie das Gesagte. „Nun ja, ich meine, dass dein Ausdruck ein wenig zu kantig ist. Was meint ihr, Jungs?“ Die beiden anderen Jurymitglieder geben ihr Recht. Sie geben Heide immer Recht.
„Auch dein Walk hat etwas sehr Altbackenes“, fährt Heide fort. „Geh doch mal mit der Zeit, die übt bestimmt mit dir. Was hältst du von einem kleinen Umstyling?“
Habseligkeiten hält nichts davon. Es hat Angst zum Plunder, zum Kram zu werden. „Ich möchte meine Seele nicht verlieren“, sagt es zur Jury. „Die Seele ist meine Mitte. Ohne sie bin ich nichts.“
„Wie du meinst.“ Heide verschränkt beleidigt die Arme vor ihrem Körper. „Ihr sollt wissen, wir meinen es hier nur gut mit euch. Wir reißen uns den Arsch auf, damit aus euch etwas wird. Nun, Habseligkeiten, ich habe heute leider kein Foto für dich.“
Habseligkeiten lässt die Schultern hängen, geht nach hinten und packt seine Habseligkeiten. Es verabschiedet sich von den anderen Kandidaten und macht sich auf den Weg. Auf seinen Weg.

„Und wir“, lächelt Heide mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie immer in die Kamera, „wir sehen uns nach der Werbung wieder. Vorher noch ein paar Ausschnitte aus dem Casting. Wörter, die es leider nicht in die Show geschafft haben.“
Der Kameramann zoomt auf ein strammes Negerkonglomerat, das seine Hand zum Gruß gestreckt hat. Neben ihm sitzen ein entfesselter Leistungsträger und die Unschuldsvermutung, die gerade frisch vom Friseur kommt. Die Unschuldsvermutung kommt immer frisch vom Frisör. Die drei Unwörter verschaffen sich lauthals Gehör und fühlen sich ungerecht behandelt. „Wir sind anständige und vor allem inländische Wörter, wir sind nur zu schön, zu erfolgreich und zu dynamisch, um hier zu gewinnen.“
„Du bist wirklich sehr süß“, sagt Heide zur Rhabarbermarmelade und grinst. „Aber wir suchen nicht das süßeste Wort, sondern das schönste. Schau dich mal in den Spiegel. Du bist einfach viel zu dick. Zu dicke Beine, zu viel Speck um die Hüften, der Arsch zu fett.“

Die Angesprochene hat es so satt, immer ausgespottet und ausgelacht zu werden. Süße, zähe, rosarote Tränen quellen aus den Augen der Rhabarbermarmelade. Am liebsten würde sie sich mit einer Rhabarberstange das Herz aus dem Leib stechen, so gekränkt ist sie. Aber das ist der Jury egal. Die Show muss weitergehen, auch auf dem Rücken der Kandidaten.
Rhabarbermarmelade, ich würde dir eine Diät empfehlen, vielleicht hast du dann das nächste Mal als Rhabarbermarmelade Light bessere Chancen. Ich habe heute leider kein Foto für dich.“

Zum Glück wird Rhabarbermarmelade hinten von den anderen Wörtern gedrückt und getröstet, obwohl sie an ihr kleben bleiben. „Wir haben dich lieb“, sagen sie, „bleib bitte, wie du bist.“


Das nächste Wort ist ein dunkles Wort mit heller Lautfarbe. Selbstbewusst und kerzengerade schreitet es über den roten Teppich.
„Aber Hallo“, ist Heide beeindruckt. „Du schaust sehr exotisch aus. Wie heißt du und woher kommst du?“
„Ich heiße Palaver und komme aus dem Griechischen über das Lateinische, Portugiesische und Englische. Zu Hause bin ich vorwiegend in Afrika, da gehöre ich zum guten Umgangston. Wo immer Familienzwiste, nachbarrechtliche Fragen, oder andere Streite zu lösen sind, setzen sich die Beteiligten unter dem Vorsitz der Dorfältesten unter den Palaverbaum und reden. Eine Art von direkter Basisdemokratie.“

Die Unwörter im Hintergrund grummeln und pfeifen. „Palavern anstatt zu arbeiten!“, rufen sie, die sich noch nie im Leben die Hände dreckig gemacht haben, „das haben wir schon gern!“


Gleich ist die Liebe an der Reihe. „Wieso braucht dieses Palaver so lang?“, beschwert sie sich und bemalt sich die Lippen rot. Sie strahlt siegessicher. „Ich hab noch jede Castingshow gewonnen“, sagt sie zum Reporter. „Man braucht mich, wissen Sie? Und man liebt mich. Das ist manchmal unerträglich.“
„Setz mal diese dämliche Brille ab“, bittet Heide sie, als sie mit strahlendem Lächeln vor ihr steht, „ich möchte deine Augen sehen. Und mach den Lippenstift weg, er lenkt von deinem eigentlichen Aussehen ab.“
Die Liebe kommt der Bitte nach, presst die roten Lippen in ein Taschentuch und nimmt die Brille ab. Sie fühlt sich nackt und leer.
„Hm, so ungeschminkt und ohne rosarote Brille siehst du irgendwie sehr gewöhnlich aus. So wie ich und Du. Dir fehlt das Unverwechselbare. Du wirkst nicht authentisch, ja, sogar ein wenig be-liebig, wenn du weißt, was ich meine. Du weißt, ich war immer ein Fan von dir. Aber heute könnte es eng werden für dich.“

Als letztes kam ein kleines, unscheinbares Wort auf den Laufsteg. Ungeschminkt, in einem zeitlosen Outfit, mit ernstem Gesichtsausdruck. „Ich will noch nicht gehen“, flüstert sie zu sich selbst, "ich bin noch nicht bereit dafür."

„Guten Abend, liebe Zeit. Warum willst ausgerechnet du Germans Next Top Word werden?“
Die Zeit lässt sich Zeit mit der Antwort. „Ich habe etwas sehr Wandelbares“, sagt die Zeit. Ich kann Winter- Sommer- und Uhrzeit sein. Eiszeit und Neuzeit. Mahlzeit und Auszeit. Als Hochzeit mache ich Menschen glücklich. Vor allem aber habe ich eines. Zeit. Ich bin das, was alle Menschen brauchen. Noch dringender als die Liebe.“
„Danke, liebe Zeit“, sagt Heide. „Wir werden uns jetzt zur Beratung zurückziehen.
Trommelwirbel. Scheinwerferlicht. Auf der Bühne fassen sich die Zeit und die Liebe an der Hand. Das Palaver wurde disqualifziert, weil es kein reines, deutsches Wort war, was vom Negerkonglomerat, dem entfesselten Leistungsträger und der Unschuldsvermutung mit Applaus bedacht wurde.

„Eines von euch Beiden muss uns heute verlassen. Denn ihr wisst ja, nur ein Wort kann Germans Next Top Word werden und auf das Cover einer großen deutschen Wochenzeitung kommen“, lächelt Heide ihr professionelles Lächeln, „nur eines von euch kann den begehrten Werbevertrag mit dem Duden bekommen. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, doch nur ein Wort kann Germans Next Top Word werden", wiederholt sie sich.

"Liebe Liebe“, sagt Heide. „du bist es leider nicht. Ich habe heute leider kein Foto für dich.“
„Macht nichts“, sagt die Liebe und umarmt die Jurymitglieder, die Konkurrenten und die ganze Welt. „Danke, dass ich dabei sein durfte. Ich liebe euch alle.“ Mit dem Ärmel wischt sie sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und gratuliert der Zeit zu ihrem verdienten Sieg.

Die strahlt stolz und freut sich wie verrückt. Noch mehr als über den Sieg freut sie sich darüber, dass sie Woche für Woche das Cover einer großen, deutschen Wochenzeitschrift ziert.

Sonntag, 16. März 2014

Messie-Hirn

„Puh“, was für eine Messie-Wohnung“, sagt die Sozialarbeiterin der Bezirksverwaltungsbehörde und hält sich die Nase zu, als sie mein Gehirn betreten hat.

Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Tag- und Nachtträume liegen hier herum. „Völlig ungeordnet“, wie die Sozialarbeiterin sagt, was aber so nicht stimmt. Natürlich ist da eine Ordnung drin, diese Dulcinea kann sie nur nicht erkennen. In ihrem Hirn überwiegen wahrscheinlich Checklisten und Formulare. Sie setzt einen professionell empathischen, aber unehrlichen Blick auf. „Sie müssen verstehen, dass wir das nicht mehr mitansehen können“, sagt sie, verrät mir aber nicht, wer „wir“ ist. „Hier besteht akute Seuchengefahr. Aufgrund des sanitären Übelstandes muss ich leider den Amtsarzt und die Baubehörde verständigen. Es kann Ihren Mitmenschen nicht länger zugemutet werden, von diesem Gehirnmüll umgeben zu sein. Sie brauchen Hilfe, Frau Lehner.“

Zu meinen Gefühlen und Ambivalenzen gesellt sich die Angst, dass man mir wegnehmen will, was ich seit Jahrzehnten sammle und aufbewahre. Was mir wichtig und wertvoll ist. Was mein Leben ausmacht. „Ich kann das selbst“, beeile ich mich zu sagen, „ich bin heute nur noch nicht zum Aufräumen gekommen.“
„Sie sind seit Jahrzehnten nicht zum Aufräumen gekommen.“ Was für eine elende Besserwisserin! „Ich schlage vor“, schlägt sie vor, „wir mieten ein nettes Zimmer in einem leeren Kopfmotel und sie nehmen die wichtigsten Gedanken und ein paar Erinnerungsstücke mit, während wir uns darum kümmern, dass hier saubergemacht wird. In ein paar Wochen können Sie dann wieder zurückkommen und betreten ein schönes und aufgeräumtes Gehirn.“ Sie strahlt vor fremdem Glück und ich will mir ihr steriles Hirn voller Aktenschränken, in denen die abgestaubten Gedanken und Gefühle - auf denen sich trotzdem der Amtsschimmel abgelagert hat - als Akten kategorisiert und abgelegt sind, säuberlich beschriftet und nach Jahren und Alphabet sortiert, gar nicht vorstellen.
„Ich geh hier erst weg“, sage ich, „wenn ich nicht mehr gehen kann, sondern man mich mit einer Bahre hinaustragen muss.“ Ich lasse mich doch nicht aus meinem eigenen Leben schmeißen.

Sie organisiert gegen meinen Willen und angeblich zu meinem Wohl einen Putztrupp, der in meinem Hirn sauber machen soll. Gemeinsam mit zwei Kerlen von der Adventmission haben sie meinen Kopf aufgebrochen, weil ich - so behaupten sie - trotz Klopfens und Läutens nicht freiwillig aufgesperrt hätte. Dabei habe ich das Klingeln einfach nicht gehört, wegen der Stimmen. Das hab ich nicht gesagt, aus Angst, dass sie mich sonst in die Psychiatrie einweisen und mit Neuroleptika vollpumpen.

„Nicht die dreckigen Gedanken wegnehmen“, schreie ich, als sich der Mitarbeiter der Adventmission an meiner Pornosammlung zu schaffen macht, und klopfe ihm auf den Finger. Er blättert ein Heft durch, schüttelt verständnislos den Kopf und murmelt: „Und das in diesem Alter.“
„Die halten mich ja lebendig und jung!“ Ich reiße ihm meine Fantasien aus der Hand und setze mich schützend auf sie.

„Sie werden sehen“, sagt die mitfühlende Sozialarbeiterin mit Latexhandschuhen und sanfter Stimme, „wenn hier erst einmal gründlich ausgemistet ist, werden sie sich in ihrem Hirn wieder viel wohler fühlen.“
„Danke“, sage ich zynisch, „dass sie mir sagen, wann ich mich wohl fühle. Sie haben das bestimmt gelernt, als diplomierte Sozialarbeiterin.“

Sie hat Angst, sich trotz der Handschuhe schmutzig zu machen, greift mit den Fingerspitzen nach den Alben mit meinen Erinnerungen und schüttelt den Staub von ihnen. Ein paar davon fallen heraus. Ich bin nie dazugekommen, sie zu sortieren und einzukleben. „Das mach ich, wenn ich erst mal in Pension bin“, rechtfertige ich mich, als ich ihren vorwurfsvollen Blick sehe.

Die Erinnerung an Brian, einen englischen Freund – jetzt nenne ich ihn lieber Bekannten - ist unter denen, die aus dem Album gefallen sind. Ich war mit meiner Tochter und ihrer Freundin bei ihm und seiner Frau Denise zu Gast. Er hat mit den Mädels im Garten gespielt , mit mir lange Spaziergänge gemacht und mir von seinen Eheproblemen erzählt, mit uns gegrillt, war witzig und liebenswert. „Alles wird gut“, hat er gesagt, als er sich von uns verabschiedet hat, im Bademantel.
Nichts ist gut geworden. Drei Tage später hat er seine Frau erwürgt, weil sie sich scheiden lassen wollte. Er hat ihre Leiche in den Kofferraum ihres Cabrios gepackt und ist mit ihr nach Frankreich gefahren. „Denise war gern in Frankreich“, erzähle ich der Sozialarbeiterin, die das Bild in einen braunen Sack wirft.

„Da sehen Sie, wohin dieser Saustall führt“, sagt sie, „Sie beginnen schon Traum und Wirklichkeit zu verwechseln.“ Als sie kurz in der Küche ist, bei den Gerüchen und Gerüchten, wühle ich im Müllsack und hole diese Erinnerung wieder heraus. Bei Gelegenheit erzähle ich euch die Geschichte. Aber jetzt muss ich aufpassen, dass sie mir nicht alles wegnehmen.

„Ich schlage vor“, schlägt sie schon wieder etwas vor und ich zucke zusammen, weil ich mich von ihren Vorschlägen erschlagen fühle, „ich schlage vor, Sie stapeln den Kram in Ihrem Gehirn auf drei Häufchen... nun ja, Haufen. Auf dem einen das Zeug, das auf den Müll kann, auf den zweiten das Zeug, bei dem Sie noch nicht wissen, wohin damit, und auf den dritten den Kram, den Sie unbedingt behalten wollen.“
Die Arme, denke ich. Die hat zu viele schlechte Reality-TV-Sendungen gesehen, die mit Realität ungefähr so viel zu tun haben wie Lionel Messi mit einem Messie. Soll sie doch die Scheiße in ihrem eigenen Gehirn auf Häufchen stapeln. Trotzig verschränke ich die Arme vor dem Körper und setze mich in eine Ecke.

Der zweite Mann aus dem Putztrupp findet in verschlungenen Hirnwindungen unnützes Wissen und einen Stapel Wörter und Sätze, die er nicht lesen kann. Russisch, Chinesisch, Griechisch, Niederländisch. „Das brauchen Sie bestimmt nicht mehr.“
„Jetzt nicht, aber ich könnte es brauchen. Für den Fall, dass die Chinesen einmarschieren. Oder die Russen. Oder die Holländer.“
„Verdacht auf Paranoide Persönlichkeitsstörung“, kritzelt die Sozialarbeiterin in ihren Kalender und glaubt, ich sehe das nicht.

Ich bin erschöpft. Der Eingriff in meine Intimsphäre macht mich nicht nur wütend und ohnmächtig, sondern auch müde. Irgendwann schlafe ich über meinen Emotionen und Affekten, meinen Aufregungen und meiner Angst ein.

Ich werde wach, als die Sozialarbeiterin sich bei den Männern der Adventmission verabschiedet und sie hinausbegleitet.
Ich ergreife die Chance und mein Stanley-Messer und schlitze einen nach dem anderen Sack auf. Alles, was sie hineingestopft haben, alle Ideen, Gedanken, Visionen, Fantasien, purzeln heraus. Ich leere die Säcke aus. Ich werde wochenlang damit beschäftigt sein, alles wieder an seinen Platz zu stellen.

„Wir meinen es ja nur gut mit Ihnen“, sagt die Sozialarbeiterin, die sich zu mir auf den Boden gesetzt hat und zu ihrem Handy greift. „Sie brauchen Hilfe, Frau Lehner. Professionelle Hilfe. Ich rufe jetzt die Rettung an, ja?“

Ich schaue auf die aufblitzende Klinge des Stanley-Messers in meiner Hand.

Mittwoch, 12. Februar 2014

Revolution im Satzbau

„An die Arbeit!“, rief der Minenbesitzer, ein älteres Hauptwort mit grauen Schläfen und einer brummigen Stimme, und die Wörter packten ihre Speckbrote ein um sich wieder an die Arbeit zu machen. Es galt, nach Buchstaben zu schürfen, glänzende Sätze aus dem Felsen zu schlagen und Geschichten daraus zusammenzusetzen. Ein paar besonders abenteuerlustige (und romantische) Wörter hofften immer noch darauf, endlich den Wortschatz zu finden.

Manche der Wörter waren schon alt, wie der Oheim, der alleine in einer Ecke verschnaufte und sein Gabelfrühstück schnabulierte. Er fühlte sich nicht mehr wertgeschätzt, nicht gebraucht, und er verstand die vielen jungen Wörter nicht mehr. „Es ist, als würden wir eine andere Sprache sprechen“, vertraute er dem Werkspsychologen an, zu dem der Minenbesitzer ihn geschickt hatte, weil seine Arbeitsleistung zusehends schwand. „Das ist nicht gut“, sagte der narzisstische Psychologe, der sich gern in seinem Wissen spiegelte, „denn gemocht zu werden, gebraucht zu werden, zu verstehen und verstanden zu werden zählt zu den wichtigsten emotionalen Grundbedürfnissen. Sie sind von einem Burnout bedroht.“
„Sie sind fürwahr ein Philister!“, sagte der Oheim und verstand nichts, denn er war nicht nur alt, sondern auch ein bisschen schwerhörig.

„An die Arbeit!“, schrie der Minenbesitzer abermals, diesmal ein wenig lauter, und auch die letzten Wörter seufzten und griffen zu Schlägel und Eisen.

Alle, bis auf eines. Ein kleines Wort machte nämlich keine Anstalten, auf seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. „Ich streike!“ rief es, und die anderen Worte erstarrten.
„Du Zwerg!“, rief der Minenbesitzer, aber das kleine Wort ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ja, ich streike. Und ich kann euch auch erklären, warum." Es kletterte auf einen Felsvorsprung, damit alle es gut hören konnten. „Wer arbeitet denn wirklich am meisten hier in der Grube, wer bewegt Unmengen von Gedanken und Buchstaben, wer schuftet und schwitzt und schindet sich, wer malocht und ackert von früh bis spät?“
„Wir, die Zeitwörter!“, schrien die Zeitwörter und schwenkten ihre Fahnen.
„Und wer steht nur herum und kommt sich wichtig vor?“
„Die Hauptwörter“, skandierten die emsigen Zeitwörter. „Buuuuh!“ Die Pfiffe wurden lauter.
„Und wer verdient trotzdem mehr, bekommt die ganze Aufmerksamkeit und hat ein Haupt- wie Häuptling vor seinem Namen stehen?“
„Die Haupt-wör-ter! Die Haupt-wör-ter!“ Die Zeitwörter trommelten rhythmisch mit ihren Werkzeugen auf die Helme, die sie abgenommen hatten und machten einen Höllenlärm.
„Sogar, wenn wir nicht Schicht haben, wenn wir ruhen, schlafen, genießen, tun wir etwas, während die Hauptwörter so gut wie unbeweglich sind! Dabei sind wir es, die wichtig sind. Ohne uns würde kein Stern glänzen, keine Blume blühen und keine Katze schnurren, und was wäre das für ein Leben, ohne glänzende Sterne, blühende Blumen – seien es noch so ausgefallene Orchideenarten - und ohne schnurrende Katzen?“
Bei den Wörtern glänzend, blühend und schnurrend wurden auch die Eigenschaftswörter wach.
„Wir streiken auch!“ rief ein mutiges, freches Eigenschaftswort und bekam von seinem Nachbarn sogleich einen festen Stoß in den schmerzenden Rippenbogen. „Wir streiken solidarisch mit!“, korrigierte ihn sein überheblicher Kollege.
„Wie?“ „Was?“ „Wer?“ „Wann?“ „Wo?“, kreischten die Fragewörter durcheinander. Sie hatten viele Fragen, aber keine Antworten und gaben sich nicht besonders politisch engagiert.
„Warum eigentlich?“, fragte eines, „wollt ihr denn mehr Lohn?“

„Es geht nicht um Geld“, hallte die Stimme des streitbaren Verbs durch die Bäuche des Bergwerks, „es geht um Anerkennung und Gleichberechtigung. Wir fordern, dass unsere Arbeit gewürdigt und wertgeschätzt wird, dann packen wir gerne weiter zu.“ Oh, dachte der Oheim, das Kleine war wohl auch beim narzisstischen Werkspsychologen.
„Genau“, bestätigte ein Eigenschaftswort wichtig, „mit der schweren, rostigen Schaufel in der zerfurchten linken Hand!“

„Viva la revolucion!“, schrie ein spanisches Wort mit einer Che Guevara Mütze und die anderen Wörter verstanden zwar nicht, was es sagte, wiederholten aber mit voller Inbrunst die Worte: „Viva la Revolucion!“

Plötzlich sackte eines der Worte zusammen. Es hielt sich verkrampft den Bauch. „Ist dir schlecht?“, fragte ein Hilfszeitwort und beugte sich zu ihm. „Ich bin in anderen Umständen“, sagte das Umstandswort, „eigentlich dürfte ich in diesem Zu- und Umstand gar nicht im Satzbau arbeiten, aber meine Familie ist auf das Geld angewiesen. Außerdem wurde heute der Kumpel des Monats gewählt, das wollte ich nicht versäumen.“
„Und? Wer ist es geworden?“
„Habt ihr gehört? Schon wieder hat ein Hauptwort gewonnen!“, ereiferte sich das kämpferische Verb. „Immer gewinnen die Hauptwörter die Wahl zum Kumpel des Monats, nie ein Zeitwort!“ Die Hauptwörter spendeten Applaus, die Verben und die Eigenschaftswörter pfiffen den Mitarbeiter des Monats gnadenlos aus.
„Welches Hauptwort hat überhaupt gewonnen?“
„Babo hat gewonnen. Einer von uns“, sonnte sich ein Hauptwort im Ruhm des Siegers.
Es wurde wieder laut im Schacht. Vor allem rechts außen regte sich Widerstand. „Was heißt hier einer von uns? Babo ist ein dreckiges Fremdwort! Ausländer haben in unserem Satzbau nichts zu suchen“, erboste sich jemand.
„Was heißt das überhaupt, Babo?“, wollte der Oheim wissen, dem das alles zu viel war und der spürte, wie sein Herz gelegentlich aussetzte. "Wie ist mir blümerant zumute", raunte er.

„Babo ist türkisch für Cheffe“, erklärte ein Gastarbeiter, der schon seit vielen Jahren im Schacht beschäftigt war und zu den anständigen und fleißigen Ausländern zählte und sogar von den Verben respektiert wurde.

Der Streit eskalierte zusehends. Hauptwörter prügelten sich mit Zeitwörtern, Fürwörter mit Vorwörtern, jeder war gegen jeden. Sogar die Hilfszeitwörter gingen auf die Zeitwörter los, weil auch sie sich ungerecht behandelt fühlten, wie Hilfsarbeiter unter Knappen. Umstandswörter bezeichneten die Eigenschaftswörter als „lästige Anhängsel“, die ohne Hauptwörter nicht überlebensfähig waren. Unglaubliches im war Tohwabohu Satzbau. Wortfetzen Gegend durch die flogen,Verstand alles keiner war niemand durcheinander.

Der große Kampf ging als der blutigste in die Geschichte des Satzbaus ein. Der Oheim und der Barbier starben einen qualvollen Tod, andere Wörter hatten einander offene Wortbrüche oder andere schwere Verletzungen zugefügt. Die Bindewörter kamen kaum mit dem Verbinden nach.

„An die Arbeit“, die Stimme des Minenbesitzers war schwach, auch ihm hatten die Tumulte in seiner Grube zugesetzt.

Beim hochschwangeren Umstandswort setzten vorzeitige Wehen ein. „Wir müssen jetzt alle zusammenhalten“, sagte das kriegerische Zeitwort, das längst bereute, diese blutige Revolution angezettelt zu haben, kleinlaut.
„Klar. Wir helfen“, sagten die Hauptwörter, die ebenfalls ein schlechtes Gewissen hatten, krempelten die Ärmel auf und packten zu.

So kam es, dass tief unter Tag ein neues Wort geboren wurde.
„Und, was ist es?“, stichelten die Pressefotografen, die von den Unruhen gehört und sofort in die Grube geeilt waren. „Ein Hauptwort, ein Zeitwort, oder etwas anderes? Gar ein Fremdwort?“

Drei Security-Wörter schmissen den Pressefritzen aus der Grube. „Das ist nicht wichtig“, sagten sie einstimmig, „Hauptsache, es ist gesund!“

Freitag, 31. Januar 2014

Und-Oder und die Liebe / Version mit Happy End

Es war einmal ein Und. Das Und verliebte sich in ein Oder. Das Oder verliebte sich zurück, zum Glück. Zumindest zum anfänglichen Glück. Sie waren ein seltsames, ungleiches Paar. Das Und konnte nicht genug kriegen, während das Oder sich nicht entscheiden konnte. Das Oder grübelte beim ersten Date, ob es die Krautfleckerl oder das Steinpilzrisotto nehmen sollte. So lange grübelte es, bis sowohl das eine als auch das andere vom Wirt auf der Schiefertafel ausgelöscht wurde. Zum Glück hatte das Und beides bestellt und teilte. Bald teilten sie nicht nur das Essen, sondern auch Bett und Tisch.

Das Lieblingswort von Und war: Beides. Bier und Wein. Duschen und Baden. Freiheit und Sicherheit.
„Du musst dich entscheiden“, sagte das Oder eines Tages, als es beobachtete, wie das Und begehrliche Blicke auf das Sowohl warf, „du kannst nicht alles haben.“
„Verlang nichts Unmögliches von mir“, bat das Und. „Ich liebe dich doch. Und ich kann doch neben dir auch noch andere Wörter lieben.“
Das Oder aber verlangte das Unmögliche und blieb hartnäckig. „Ich oder das Sowohl“, sagte es und das Und gab nach.

Es war eine schöne, schlichte Hochzeit. Als der Standesbeamte die Worte „lieben und achten und die Treue halten“ sprach, zwinkerte das Und dem Oder zu. „Oder?“, grinste das Und. Das Oder stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Und, ausnahmsweise.“
„Wie soll denn der Name lauten?“, fragte der Standesbeamte, als sie die Urkunde unterschrieben. Das Oder dachte nach. Darüber hatten sie sich noch nicht unterhalten. „Also, entweder jeder behält seinen , oder wir nehmen Oder als gemeinsamen Familiennamen?“, schlug es unsicher vor. "Oder vielleicht Und, ich weiß nicht, was meinst du?"

„Wir nehmen einfach beide“, sagte das Und. „Einen Doppelnamen. Und-Oder, das klingt hübsch.“
Sie einigten sich auf Oder-Und.


„Machen wir die Hochzeitsreise ans Nordkap oder ans Kap der guten Hoffnung?“, fragte das Oder, nachdem sie sich in der Hochzeitsnacht heftig geliebt hatten. Das Und presste das Oder an sich und lachte. „Wieso oder? Wir machen einfach eine Weltreise! Erst zum Nordkap und dann zum Kap Hoorn und dann zum Kap der guten Hoffnung.“
Trotz ihrer Gegensätze waren sie guter Hoffnung.

Guter Hoffnung war auch das Oder wenig später. Seine Rundungen wurden runder, seine Stimmung gereizter und es wollte entweder Essiggurkerl oder Chilischokolade. Zum Glück hatte das Und beides und noch viel mehr gekauft.

„Wie soll das Kleine denn heißen?“, fragte die Hebamme die strahlenden, aber erschöpften Eltern. "Sowie", sagte das Und. "Entweder", das Oder. Die Hebamme rollte mit den Augen. Das würde ja noch schwieriger werden als die Geburt.
„Na gut, dann eben wie wir“, sagte das Ehepaar Oder-Und.
„Doppelnamen sind für Kinder verboten“, murmelte die Hebamme, schon etwas genervt. „Sie müssen sich schon für einen entscheiden.“

So bekam das Kleine mit dem zerknautschten Gesicht den Namen Beziehungsweise. „Das kann entweder Und oder Oder bedeuten“, erklärten sie. „Und man kann es gut abkürzen. Bzw.“

Beziehungsweise hatte es nicht leicht im Leben. Es wurde von den anderen Kindern wegen seines komplizierten Namens gemobbt und wegen seiner Identitätsstörung zur Schulpsychologin geschickt.

Ach das Ehepaar Oder-Und hatte es nicht leicht im Leben. Was sie am Anfang so anziehend aneinander fanden, war mit der Zeit nur noch mühsam. Immer wieder schlich sich ein Aber in ihre Beziehung und vergiftete sie.

„Ich kann nicht mehr“, sagte das Oder eines Abends, Beziehungsweise lag schon im Bett und schlief. Zumindest dachte das Ehepaar Und-Oder das. „Entweder du bleibst oder ich gehe“, sagte das Oder.

„Wohl besser so“, antwortete das Und und begann seine Sachen zu packen.

„Und was ist mit mir?“, brüllte das Beziehungsweise, das auf der Treppe stand und den Streit mitgehört hatte. „Ich will nicht auch noch Beziehungswaise werden! Ich hab’s ohnehin schon schwer genug.“ Sein Schluchzen kam tief aus seinem Inneren.
Das Und und das Oder schauten erschrocken erst ihr Kind und dann einander an. „Es hat recht“, fanden sie und nahmen das Beziehungsweise behutsam in ihre Arme. "Wir dürfen nicht so egoistisch sein".
„Die Eltern vom Vielleicht machen eine Paartherapie“, schniefte das Beziehungsweise, „Das fiel ihnen nicht leicht, aber mittlerweile ist alles viel leichter. Möglicherweise wäre das etwas für euch?“

„Was haben wir für ein kluges Kind“, zwinkerte das Oder. Das Und wuschelte ihm zärtlich durchs Haar und fügte hinzu: „So klein und schon so beziehungs-weise.“

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Das Weihnachtswunder vom Weinviertel

Ich betrete die Boutique. Die Verkäuferin strahlt mich an. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein, danke, ich will nur schauen.“ Sie ignoriert meinen Wunsch. „Hier hätten wir ein paar total schöne. Gestrickt aus nepalesischem Kaschmir, von einem arbeitslosen Sherpa handgefertigt. Das Unregelmäßige in der Textur ist kein Fehler, sondern liegt daran, dass sich der Sherpa auf einer Expedition mit französischen Bergsteigern drei Finger abgefroren hat. Deshalb ist er ja nun arbeitslos. Sehen Sie hier, die feinen Applikationen aus Abenteuern, Schneesturm, Konflikten und Hunger. Fair gestrickt.“
Das Strahlen ist ihr während der Erzählung nicht aus dem Gesicht gewichen. Sie strahlt, als hätte sie den Mount Everest bestiegen.
Nein, das Werk gefällt mir nicht. Zu düster für eine Weihnachtsgeschichte. Ich will keinen Hunger und keine Konflikte in meiner Geschichte und schon gar keinen Schneesturm, in dem sich Sherpas Finger abfrieren.
In einer Weihnachtsgeschichte muss es duften, glitzern und klingen, nach verkohlten Vanillekipferln, eisglatter Fahrbahn und einer Massen-karambolage, in der alle überleben und niemandem ein Finger fehlt.
Ich brauche eine Weihnachtswundergeschichte.


Ich schlendere weiter durch den Ort, auf der Suche nach der perfekten Weihnachtsgeschichte. Aber ich finde nur Stress in den Gesichtern der Menschen, an den Ständen gepanschten Punsch und geschmacklose Geschenke. Also wandere ich weiter.

Erst auf dem kleinen Adventmarkt in der Kellergasse finde ich Menschen, die lächeln. Es riecht nach Sternanis, Orangenschalen und Muskat, ich finde wunderschöne Kunstwerke und selbstgekochten Glühwein. Vor allem aber finde ich hier Geschichten. Lebensgeschichten, die mir Kunsthandwerkerinnen freimütig erzählen, wenn ich höflich und interessiert eines ihrer Werke berühre und bewundere anstatt einfach an ihnen vorbeizugehen.

Eine der Künstlerinnen erzählt mir gleich mehrere Lebensgeschichten. Ihre eigene Lebensgeschichte erzählt sie mir, und dass sie mit ihrer Arbeit kaum sich selbst und ihr kleines Kind über die Runden bringen kann, aber dass sie diese Arbeit liebt, mehr als alles andere. Bei dieser Bemerkung zucke ich kurz zusammen. Dann erzählt sie mir die Lebensgeschichte des Ahornbaums, aus welchem das Holz geschnitzt ist, mit dem sie die Schale gedrechselt hat. Schließlich noch die kurze Lebensgeschichte ihres jüdischen Großvaters und die längere ihrer jüdischen Großmutter, die es nach Amerika geschafft hat und als Schriftstellerin die kurze Lebensgeschichte des jüdischen Großvaters aufgeschrieben hat.
Ihre Augen glänzen traurig, und ich weiß nicht, ob es wegen der jüdischen Großeltern ist oder weil ich nach einer halben Stunde die Schale wieder zurücklege ohne sie zu kaufen. Beim nächsten Stand erfahre ich neue Geschichten, und beim übernächsten auch.
Irgendwann kann ich diese traurigen Geschichten und ihr trauriges Gesicht nicht mehr ertragen und ertränke mein Leid in rotem Glühwein.

Genau, in einer Weihnachtsgeschichte müssen Kinder vorkommen, denke ich, als ich durch das Guckloch in einen Weinkeller schaue, in dem die Heilige Familie aus Stroh nachgebaut ist und ein Holzkind in der Krippe liegt. Bestimmt fair gedrechselt.
Ich brauche eine Geschichte über Kinder, denke ich. Oder über ein Kind. Kind, Kitsch und ein Weihnachtswunder.
Da sehe ich einen kleinen Buben ganz allein unter einer Föhre sitzen. Er knabbert an einem Müsliriegel und weint.

*

Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, was dann über mich gekommen ist. Vermutlich hat sich das Bild des Kellers mit der Krippe mit dem Kind drin tief in mir eingeprägt. Die Worte der Kunsthandwerkerin. Vielleicht war es der Glühwein. Vielleicht aber auch die in Niederösterreich tief verwurzelte jahrhundertelange Tradition, Kinder in Keller zu sperren.

Er ist ungefähr drei und seine Mama ist Künstlerin, erzählt er, als ich ihn an der Hand fasse und mit nach Hause zerre. Ein entzückender Bub, mit schwarzem Wuschelkopf und olivbraunen Augen. Bei mir soll es ihm an nichts fehlen.
Er heißt Samuel, aber ich nenne ihn Adrian, der Name passt besser zu ihm. In den ersten Tagen weint er viel, das verunsichert mich, weil ich wirklich lieb und freundlich zu ihm bin und seine Wünsche erfülle. Er fragt oft nach seiner Mama, obwohl die sich auf dem Adventmarkt nur um ihre Kunden kümmert und ihre Kunst mehr liebt als ihn. Vielleicht ist er einfach zu jung dafür, um zu verstehen, dass ich es nur gut meine mit ihm. Irgendwann wird er mir dankbar sein für diese schöne gemeinsame Zeit, da bin ich mir sicher.

Ich hab ihm unseren kleinen Keller, in dem wir sonst nur Winteräpfel und Kartoffel lagern, liebevoll hergerichtet. Die Tiefkühltruhe habe ich mit einem Tischtuch mit weihnachtlichem Dekor abgedeckt, die Weihnachtslieder aus dem CD-Player übertönen ihr Summen. Er schläft auf dem japanischen Futon, auf dem meine Kinder manchmal geschlafen haben, als sie noch nach Hause gekommen sind. Das ist lange her, sie wollen mit mir nichts mehr zu tun haben, weiß Gott warum.
Die ersten Nächte hat Adrian kaum geschlafen, sondern nur bitterlich geweint. Ich habe ihm deshalb Rohypnol in den Tee gemischt. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, damit er es im Keller gemütlich hat. Sogar den alten Elektrostrahler hab ich in den Keller geschleppt, damit er es schön warm hat. Ein paar Tannenzweige hab ich an der Ziegelwand aufgehängt, und wenn ich bei ihm unten bin, zünde ich Kerzen an und singe Weihnachtslieder mit ihm. Wenn ich dann wieder hinaufgehe, blase ich die Kerzen aus, damit nichts passiert.

Im Gegensatz zu seiner Mama habe ich Zeit für ihn. Ich lese ihm viel vor, am liebsten mag er die Geschichte vom Sherpa Santosh, der auf der Expedition im heftigen Schneesturm fast erfroren wäre, wie seine beiden besten Freunde, und dem die Handschuhe des toten französischen Bergsteigers das Leben und sieben Finger gerettet haben.

Ich koche und backe für ihn. Am Anfang hat Adrian kaum etwas gegessen. Nur die Buchteln, gefüllt mit selbst gemachtem Powidl und mit Vanillesoße dazu haben ihm geschmeckt. Deshalb gibt es jetzt jeden zweiten Tag Buchteln. Spaghetti mag er auch, am liebsten mit Ketchup. Nachts sitze ich oft stundenlang neben ihm und schaue ihn einfach an. Streiche über seine ebenmäßige, zarte, blasse Haut. Kringle seine Locken in meinen Fingern. Adrian ist wunderschön. Ich bin glücklich.

Drei Wochen ist Adrian jetzt schon bei mir. Er weint nicht mehr so oft wie in den ersten Tagen. Wenn ich oben koche, spielt er unten mit den alten Puppen meiner Tochter. Vor allem die Geschichte vom Sherpa Santosh hat es ihm angetan und er spielt sie gerne nach. Die Puppe Laura - eine Negerpuppe mit Kraushaar - ist Santosh, der Sherpa. Aus bunten Decken baut er den Mount Everest, das alte Holzkreuz aus meinem Herrgottswinkel – ich bin eine fromme Frau - dient als Gipfelkreuz. Auf dem Dachboden hab ich noch eine große Schachtel mit kleinen Styroporkugeln gefunden, die dienen Adrian als Schneesturm. Ich muss lächeln, als ich ihn beim Spielen beobachte. Jetzt hab ich doch einen Schneesturm in meiner Geschichte. Der Negerpuppe hat Adrian mit der Bastelschere drei Finger abgeschnitten.

Morgen ist Heiliger Abend. Morgen werde ich mich von Adrian verabschieden. Nein, ich werde ihm nicht weh tun, obwohl es mir schwer fallen wird, ihn gehen zu lassen, denn ich habe den Kleinen in den letzten Wochen in mein Herz geschlossen. Aber es muss sein. Ich bin kein schlechter Mensch, keine Verbrecherin, die einfach so zum Spaß Kinder entführt und im Keller versteckt. Ich bin nur ein Mensch, der auf der Suche war. Auf der Suche nach einer Geschichte. Ich habe sie gefunden.

Ich werde morgen mit Adrian im Keller noch Weihnachten feiern, die Kerzen des kleinen Christbaums anzünden und Stille Nacht singen, wir werden Hühnersuppe und Buchteln mit Vanillesoße essen, mit echter Vanille. Den Sherpa Santosh darf Adrian behalten, als Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit. Auch ein paar Buchteln werde ich ihm in Stanniolpapier wickeln und in den kleinen Rucksack packen, den ich für ihn gekauft habe. Dann werde ich ihn zur Polizeistation bringen, die Klingel drücken und Adrian das letzte Mal an mich.

Ich werde traurig sein, dass er nicht mehr da ist, und gleichzeitig werde ich mich gut und zufrieden fühlen, wenn ich mich am Abend an den Schreibtisch setze und die Geschichte aufschreibe. Eine Weihnachtsgeschichte mit Kind und Vanilleduft und glitzerndem Schnee und Happy End.


Der Titel der Geschichte lautet genauso wie die Schlagzeile der morgigen Zeitung lauten wird: „Das Weihnachtswunder vom Weinviertel.“

Sonntag, 20. Oktober 2013

Die Prüfung

Die junge Frau hielt sich am Lenkrad fest und heulte. Ein tiefes Schluchzen, die Flüssigkeit quoll nicht nur aus ihren Augen, sondern auch aus der Nase und aus den Mundwinkeln. Sie schniefte und zog auf.

Ich halte die Tränen nicht mehr aus. Die Tränen der jungen Frauen, die bei der Prüfung durchsausen. Die ich bei der Prüfung durchsausen lasse. Durchsausen lassen muss, weil sie die Kriterien nicht erfüllen. Ich kann sie doch nicht nur aus Mitleid in den Straßenverkehr schicken und auf andere Verkehrsteilnehmer loslassen. Manchmal würde ich diese Heulsusen gerne an den Schultern fassen und schütteln. „Das ist nur eine Führerscheinprüfung, Süße“, würde ich sie gern anschreien, „das ist nicht das Leben!“ Zumindest nicht deines, denke ich. Es ist mein Leben. Und ich verdamme dieses Leben manchmal.
Es ist unglaublich, wie unsagbar unselbstständig und dumm manche der Schüler und Schülerinnen sind. „Was machen Sie, wenn die Ölkontrollleuchte aufleuchtet?“, habe ich sie gefragt. Eine Standardfrage. „Ich ruf meinen Papa an“, hat sie gesagt. „Und wenn du den nicht erreichst?“ „Den erreich ich immer. Der hat WhatsApp.“

Ich reichte ihr ein Taschentuch. „Nicht weinen, junge Frau“, sagte ich hilflos, „in zwei Wochen können Sie wieder antreten. Arbeiten Sie bis dahin an Ihrem Blickverhalten und fahren Sie vorausschauend. Das waren keine kleinen Fehler, über die man hinwegsehen kann, da geht's ums Eingemachte.“

Ich schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte ich einen Termin beim Arzt. Die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchung nachbesprechen. „Diesmal werde ich Sie auf Herz und Nieren prüfen“, hatte er gesagt und sich wahrscheinlich auch noch lustig gefunden.

Meistens prüfe ich junge Mädels und Burschen. Im Gegensatz zu den Mädels machen die Burschen auf cool und tun, als ob sie das alles nichts anginge. Besser Autofahren können Sie trotzdem nicht.
Gestern hatte ich eine Fahrschülerin der anderen Art. „Was ist das eigentlich für ein Gefühl, immer nur das Negative zu sehen?“ hat sie mich gefragt, als ich das Ergebnis mit ihr nachbesprochen habe. Sie war keine der schlanken, blassen jungen Mädels, ganz im Gegenteil. 71, zu dick, in wallenden Kleidern, eine violette Strähne im Haar. Natürlich ist sie mit Pauken und Trompeten durchgefallen.
„Wie jetzt – Gefühl?“, hab ich geantwortet. Dabei ist es nicht so, dass ich keine Gefühle habe. Es bereitet mir auch keine Freude – im Gegensatz zu einigen meiner männlichen Kollegen – die Prüflinge zur Schnecke zu machen. Ich fühle mich ihnen nicht überlegen und Wertschätzung ist mir sehr wichtig. Wertschätzung, Fairness und korrekte Umgangsformen. Weil ich mich von den Tränen nicht erpressen lassen möchte, verbiete ich das Weinen schon im Vorfeld. „Manche Übertretungen bedeuten den sofortigen Abbruch der Prüfung“, erkläre ich und lächle dabei, „zum Beispiel das Überfahren einer roten Ampel, die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um mehr als 20 km/h - und Tränen.“ Es ist mir unangenehm, dass manche sich trotzdem nicht an meine Vorgaben halten.

Die 71jährige hat nicht geweint, sondern schallend gelacht. „Ich wollte Sie einfach kennenlernen“, hat sie gesagt, „wissen Sie, ich wollte die Frau kennenlernen, die meine beiden Enkelkinder und die Tochter der Nachbarin bei der Prüfung durchfallen lassen hat. Ich wollte wissen, was für ein Mensch hinter so einer Prüferin steckt.“
„Aha.“ Ich habe die Papiere ausgefüllt und ihr gereicht. Für Smalltalk werde ich nicht bezahlt. „Sie können in zwei Wochen noch einmal antreten“, habe ich gesagt, „fahren Sie weniger weit links, halten Sie vor und nicht hinter der Haltelinie und führen Sie auf dem Übungsparkplatz den Drei-S-Blick konsequenter aus. Außerdem fahren Sie bitte nicht so schnell auf ungeregelte Kreuzungen zu. Da geht's ums Eingemachte, verstehen Sie? Üben Sie vor allem das Fahren im Siedlungsgebiet. Lernen Sie Ihr Auto kennen und schauen Sie sich noch einmal an, wie man die Standbremsprobe korrekt durchführt.“
Üblicherweise nicken die Schüler und Schülerinnen zu meinen Vor- und Ratschlägen oder murmeln „ich verspreche es“, obwohl ich ihre Versprechungen weder brauche noch will. Ich bin nicht ihre Erziehungsberechtigte, zum Glück, denn bei vielen der jungen Menschen habe ich das Gefühl, dass sie noch nie von jemandem erzogen worden sind. Manchmal amüsiere ich mich darüber, wie die Mädels ihre kurzen Kleider nach unten ziehen und den Lippenstift ins Taschentuch pressen, wenn sie begreifen, dass ihr Prüfer eine Frau ist.

Die Alte mit den kurzen grauen Haaren hat nicht genickt und sich nicht für meine Unterstützung bedankt. Sie hat einfach weitergelacht. „Sicher nicht“, hat sie gesagt. „Wissen Sie, ich fahre seit 54 Jahren Auto. Hat mein Großvater mir beigebracht. Seit 54 Jahren fahre ich ohne Führerschein und das werde ich auch die nächsten Jahre meines Lebens so halten. Aber in Zukunft werde ich bei jeder Kreuzung halten und die Lichtanlage kontrollieren. Und wenn ich nachts losfahre, überprüfe ich vorher die Hupe.“ Dann hat sie in ihrer überdimensionalen Handtasche gekramt und mir eine Flasche Champagner überreicht. „Genießen Sie das Leben“, hat sie gesagt, „es ist zu kurz, um es sich und anderen kaputtzumachen. Schön, Sie kennengelernt zu haben.“

Ich hätte sie anzeigen müssen. Aber irgendetwas hinderte mich daran. Am Abend machte ich die Flasche Champagner auf. Nach dem dritten Gläschen begann ich zu weinen. Niemand war da, der es mir verbot. Ich wollte doch nur alles richtig machen. Immer hatte ich alles richtig machen wollen, vor allem nach dem Tod meiner Mutter.
„Sei perfekt“, dröhnte es in meinem Kopf, „du musst immer alles besser machen, es ist nie gut genug.“ Es war die Stimme meines Vaters. Ganz leise mischte sich auch die sanfte Stimme meiner Therapeutin ein. „Du darfst Fehler machen und aus ihnen lernen.“ Aber sie hatte keine Chance gegen den autoritären Ton meines Vaters. Weil ich von mir selbst Perfektion fordere, meinte meine Therapeutin, verlange ich sie auch von den anderen. Die sollten es auch nicht einfacher haben als ich.

Die Therapie habe ich nach dem Scheitern meiner letzten Ehe begonnen. Ehemann Nummer eins war alles andere als perfekt gewesen. Dabei hatten wir es schön gehabt miteinander, mit dem VW-Bus durch die Wüste. Aber ich habe ihn in die Wüste geschickt, als mein Vater gesagt hat: „Such dir einen, der eine Familie erhalten kann.“
Ehemann Nummer zwei konnte. Er arbeitete Tag und Nacht. Zumindest dachte ich das. Irgendwann kam ich drauf, dass er nachts im Büro nicht nur arbeitete. Der Klassiker. Sie war jünger, blonder und dümmer.
Ehemann Nummer drei war treu, fleißig und langweilig. Nummer vier weigerte sich Ehemann zu werden. „Mein Leben ist mir auch ohne dich Prüfung genug“, hat er zum Abschied gesagt.
Ich habe das Kapitel Männer abgeschlossen.

Das Mädchen neben mir heulte immer noch. Ich konnte sie unmöglich so aus dem Auto schmeißen. „Na na, jetzt beruhigen wir uns aber wieder.“ Sie beruhigte sich nicht, sondern ihr Schluchzen wurde lauter und hysterischer. „Haben Sie Angst?“, fragte ich.
Sie nickte. „Wissen Sie, mein Vater wird so enttäuscht sein von mir. Bei ihm zählt man nur, wenn man sich anstrengt und alles richtig macht. Sonst ist man in seinen Augen nichts wert. Und ich mach immer alles falsch!“, steigerte sie sich hinein.
Ich schluckte. „Ach was“, tröstete ich sie, „das bilden Sie sich nur ein.“ Aber ich wusste, dass meine Worte gelogen waren. Sie bildete sich das nicht ein. Ich sah mich selbst hinter dem Lenkrad sitzen und weinen, aus Scham, versagt zu haben und aus Angst vor der Enttäuschung meines Vaters. Ich hätte uns beide, also das Mädchen und das Kind in mir, gern tröstend in die Arme genommen. Ich konnte nicht. Ich konnte aber auch nicht beide Augen zudrücken und sie durchlassen, damit sie zu Hause keine Schwierigkeiten bekam.
„Ich bring Sie jetzt nach Hause“, sagte ich und brachte sie nach Hause. „Schimpfen Sie bitte nicht mit Ihrer Tochter“, bat ich den Vater, „es ist wichtig, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen.“

*

„Und? Haben Sie mich auf Herz und Nieren geprüft? Hab ich bestanden oder muss ich noch mal antreten?“
„Herz und Nieren sind in Ordnung. Aber im Lungenröntgen haben wir Rundherde entdeckt, sehen Sie hier, diese weißen Flecken?“ Ja. Sie waren nicht zu übersehen, die Flecken. Große, weiße Schatten lagen über Lunge und Leben. „Auch die Harn- und Blutwerte deuten auf eine Veränderung hin“, fuhr er fort. Seine Miene wirkte besorgt. „Wir müssen weitere Untersuchungen machen, um eine genaue Diagnose zu stellen.“
„Krebs?“ Ich konnte plötzlich fühlen, wie er mich von innen her auffraß, der Krebs. „Was ist es eigentlich für ein Gefühl, Patienten solche Nachrichten zu überbringen?“, wollte ich wissen.
Er wich aus. „Ich schreib Ihnen eine Überweisung für die Untersuchungen und wir sehen uns in zwei Wochen wieder. Vielleicht ist ja alles nicht so schlimm.“
Auf einmal konnte ich seine Gedanken lesen. „Hoffentlich sehen wir uns in zwei Wochen wieder“, dachte er, „es ist nämlich noch schlimmer.“

Auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir eine Flasche Champagner und violette Haarfarbe. Vielleicht hat er ja nur einen Fehler gemacht bei der Untersuchung, dachte ich. Ich klammerte mich ans Lenkrad und weinte.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Es ist Dienstag

Ein Dienstag wie jeder andere. Zumindest war er das zunächst. Sie hatte noch im Bett gelesen, mit der Kleinen, die mittlerweile nicht mehr klein, sondern Studentin war, gefrühstückt und gequatscht, war ins Büro gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht.

Die Stimmung im Büro war schlecht, wie so oft in letzter Zeit. Jeder saß in seinem Kämmerchen, arbeitete still vor sich hin und nahm die anderen nicht mehr wahr.
Immer öfter hatte sie in letzter Zeit daran gedacht, zu kündigen, aber sie war nicht mehr die Jüngste, und feige war sie auch. Vielleicht würde ein Lottogewinn sie mutiger machen. Aber das Glück war ein Vogerl und schiss ihr höchstens auf den Kopf.
Seit ihr Kollege gestorben war, war nichts mehr wie früher. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Natürlich war nichts mehr wie früher. Die Zeit vergeht und wir mit ihr. Alles ist immer im Wandel, die Welt verändert sich und die Menschen und das war gut so.
"Nur die Dümmsten und die Weisesten können sich nicht ändern“ (Konfuzius), steht auf dem Kalenderblatt im Büro ihrer blonden Kollegin. Ich fürchte, ich gehöre zur ersten Gruppe, dachte sie.

Heute war sie wütend gewesen, so wütend wie selten zuvor. Und mutig war sie gewesen.

Sie spaziert durch den Regen und weiß noch nicht, ob die Mischung eine gute ist. Die Mischung aus Wut und Mut und Dienstag. Warum heißt es mutig und wütend?, fragt sie sich. Nicht mutig und wutig. Oder wütend und mütend. Egal. Nichts würde mehr so sein wie früher. Vielleicht hat das Buch, das sie heute früh gelesen hat, sie beeinflusst. In ihm hatte nämlich Heiner, der Protagonist, von einem Tag auf den anderen, ohne irgendwelche Anzeichen, die seine Entscheidung angekündigt hätten, gekündigt. Er hatte sein Erspartes abgehoben und ein Taxi zum Flughafen genommen. Er wollte in den nächstbesten Flieger steigen und in der Ferne ein neues Leben beginnen. Sein Leben. Der nächstbeste Flieger ging nach Novosibirsk und Heiner hatte sich seine Zukunft dann doch etwas anders vorgestellt. Plötzlich hatte er Angst vor seinem eigenen Mut bekommen und war mit der Bahn wieder in die Stadt gefahren. Er wollte die Kündigung zurücknehmen, aber sein Chef hat gesagt: „Tut mir leid, wir haben die Stelle schon ausgeschrieben. Wir suchen ohnehin einen Jüngeren, Billigeren.“ So hat Heiner weiterhin jeden Tag um dieselbe Uhrzeit dieselbe Frau geküsst, dieselbe Aktentasche genommen und dasselbe Reihenhaus verlassen. Seine Tage verbrachte er im Sommer im Park und im Winter in Einkaufszentren und Cafés. Am Abend küsste er seine Frau, murmelte „was für ein anstrengender Tag“, schenkte sich ein Bier ein und legte die Beine hoch. So lange spielte er seiner Familie und sich selbst Normalität vor, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür stand, weil weder die Stromkosten noch die Miete bezahlt worden waren.
An dieser Stelle war es Zeit gewesen mit dem Lesen aufzuhören.

Sie steht am Bahnsteig. Und jetzt?, fragt sie sich. Nach Hause fahren ging nicht, denn sie würde sich erklären müssen. Sie könnte „ich fühle mich krank“ sagen und ins Bett legen, aber Lösung ist das auch keine. Sie hat keine Lust, wie Heiner zu enden.
Sie würde es einfach allen erzählen, ihrer Familie und ihren Freunden. „Ich habe gekündigt. Punkt.“ Die Menschen haben Mitleid, wenn man gekündigt wird, aber wenn man mit 47 kündigt, ohne Ersparnisse und ohne einen neuen Job in Aussicht, hat keiner Mitleid. Sie würden sich an die eigene Stirn greifen oder an ihre und fragen: „Hast du Fieber?“

Sie schämt sich. Und fühlt sich lächerlich. Wegen so einer Kleinigkeit wirft man doch nicht alles weg, was einem in den letzten 20 Jahren wichtig war? Im Prinzip mag sie ihren Beruf ja gerne. Gut, sie hat sich nicht mehr gebraucht gefühlt, nicht mehr wichtig genug, seit die blonde Kollegin da war, die alles, was bisher gegolten hatte, hinterfragt hat und alles ändern wollte. Für die einmal vereinbarte Regeln nichts galten, weil sie nicht dabei war, als sie vereinbart worden sind. Aber deshalb alles hinwerfen? Und was jetzt?

Sie steht am Bahnsteig. Ihre wichtigsten Grundbedürfnisse, eigentlich die wichtigsten Bedürfnisse aller Menschen wurden in der Firma nicht mehr erfüllt. Gemocht und respektiert zu werden, nützlich zu sein, gebraucht zu werden und verstehen und verstanden werden. So einfach, im Prinzip. Und so schwierig zugleich.

Sie starrt auf die Gleise. Das ist eine Möglichkeit. Sie würde nichts erklären müssen, nicht ihren Kindern, nicht ihrer Mutter, nicht den Freundinnen. Einfach weg, wenn auch nicht nach Novosibirsk. „Sie war doch immer so fröhlich“, würden ihre Mutter und ihre Kinder sagen; „wir hatten immer noch ein sehr gutes, freundschaftliches Verhältnis“ ihr Exmann. „Nein, sie hatte weder Krebs noch eine andere schwere Krankheit“ ihr Hausarzt, „bei der letzten Gesundenuntersuchung waren alle Werte in Ordnung“. Ihr Chef würde sagen: „Ich kann mir das nicht erklären. Weder die überraschende Kündigung noch ihren Selbst...äh... Freitod. Sie war eine sehr engagierte langjährige Mitarbeiterin. Alle hier mochten sie.“
Ihre Freundinnen würden fassungslos sein und sagen: „Warum hat sie nicht mit uns drüber geredet? Sie war die Lebenslustigste von uns allen.“ Irgendein Psychiater, den man für das Bezirksblatt befragen würde, würde eine professionell-ernste Miene aufsetzen und sagen: „Depression ist ein Tabuthema. Oft wird sie lange nicht wahrgenommen und ein klitzekleiner Auslöser reicht aus, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.“ Ha ha. Klitzekleiner Auslöser, der hat leicht reden. „Sie betrifft häufig die nach außen hin fröhlichen, selbstbewussten Menschen, ganz oft Kabarettisten und Clowns. Sie glauben, immer witzig und schlagfertig sein zu müssen, auch wenn es in ihrem Inneren ganz anders ausschaut.“ So ein Idiot.

Nur die blonde Kollegin würde sich schuldig fühlen. Sie würde schlaflose Nächte haben und alle Worte, die sie je mit ihr gewechselt hat, dreimal im Kopf herumdrehen und sich fragen, was sie hätte anders machen können. Sie würde leiden und schreckliche Gewissensbisse haben. Das ist wohl das mindeste, was ich erwarten kann, denkt sie und lässt die Bahn abfahren. Vielleicht würde die blonde Kollegin schon morgen ihre Sachen in eine Kiste packen und in ihr Büro übersiedeln. Vielleicht würde sie „Alles Leben ist Veränderung“ murmeln und zufrieden das Foto ihres Gatten auf ihren neuen Arbeitsplatz stellen. Vielleicht würde der einzige, der tatsächlich Schuldgefühle haben würde der sein, der am wenigsten dafür kann. Der Lokführer.

„Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten“, tönt es durch den Lautsprecher, „Zug fährt durch“. Scheiße, denkt sie. Scheiße, dass ich so verdammt gerne lebe. Sterben ist einfach keine adäquate Alternative.

Heute früh hat sie selbstgebackenen Zwetschkenfleck ins Büro mitgebracht, für die Kollegen. Aus feinem Germteig und mit knusprigem Streusel drauf. Sie wollte den Kollegen eine Freude machen, und sich selbst auch, denn Kochen und Backen bereitet ihr Trost und Wärme. Zu Mittag ist der Kuchen immer noch unberührt von den Menschen und berührt von den Obstfliegen am Tisch gestanden. „Ich nehm grad ab“, hat eine Kollegin gesagt, ausgerechnet diejenige mit Kleidergröße 36. „Ich esse nur bio-ökologisch und vollwertig“, die andere und sich eine Zigarette angesteckt. Dabei waren die Zwetschken und Nüsse aus ihrem Garten selbstverständlich biologisch, weil sie viel zu faul war, um Gift zu spritzen. Außerdem liebte sie die Bienen und Schmetterlinge und die Zwetschken viel zu sehr, um sie zu vergiften. „Ich bin nicht so ein Süßer“, hat der süße Kollege gesagt und die blonde Kollegin hat mitleidig gelächelt und gemeint: „Ich hab keine Zeit zum Kuchenessen. Zu viel Arbeit.“
Am Abend würde die Putzfrau kommen und den schönen Zwetschkenkuchen in den Müll werfen.

Ich hab gekündigt, denkt sie, nach zwanzig Jahren hab ich gekündigt, ich hab keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen wird und ich steh hier und mach mir Gedanken um Zwetschkenkuchen.

Sie ist ins Büro ihres Chefs gegangen, ohne anzuklopfen. Weil sie vorher geahnt hatte, dass ihr in dieser Situation die Stimme wegbleiben würde, hatte sie die Worte auf ein kleines Stück abgerissenes Papier gekritzelt. Ein Zettel wie einer, den ein nervöser Bankräuber dem Schalterbeamten vor die Nase knallen würde, aus Angst, seine Stimme könnte versagen oder der Beamte könnte ihn am Akzent erkennen, weil die Bank seine Hausbank war. Weil er viel zu feige war, eine fremde Bank zu überfallen, wo er die Beamten nicht kannte und in der Aufregung den Fluchtweg nicht finden würde.
Auf dem Zettel, den sie vorhin ihrem Chef auf den Tisch gelegt hat, stand nicht „Das ist ein Banküberfall, handeln sie erfahrungsgemäß“, sondern nur zwei Worte: „Ich kündige.“


„Warum?“ kreischt die junge Frau neben ihr am Bahnsteig und sie merkt nicht, dass die Frage nicht ihr gilt, sondern irgendeinem Kerl, der weit entfernt von ihr auch ein Handy ans Ohr gepresst hält und ihr vielleicht gerade gesagt hat, dass er sie nicht mehr liebt.
„Sie haben meinen Zwetschkenkuchen nicht gegessen“, sagt sie laut und die Umstehenden lächeln peinlich berührt. Wahrscheinlich denken sie, dass ich verrückt geworden bin, denkt sie. Wahrscheinlich haben sie Recht.
„Also dann“, sagt sie, macht auf der Stelle kehrt und geht durch den Regen zurück in die Firma. Völlig durchnässt kommt sie dort an, denn sie hat ihren Schirm auf der Bank auf dem Bahnsteig liegenlassen.

Die blonde Kollegin ist gerade dabei, den Kalender mit den Sprüchen über ihren neuen Schreibtisch zu hängen. Sie hält kurz inne. „Oh, hallo!“, sagt sie, „deine Sachen stehen da drüben.“
Der Chef sitzt in der Küche und trinkt Kaffee. Er schaut auf und lächelt sie an. „Oh, hallo!“, sagt auch er. „Sind Sie gekommen um die Kündigung zurückzunehmen?“
„Nein. Nur den Zwetschkenkuchen.“
Er errötet. „Oh, das tut mir jetzt leid. Ich habe ihn gegessen. Er hat ganz wunderbar geschmeckt.“

Sonntag, 18. August 2013

Martin will nicht stören

Martin ist unglücklich verheiratet. „Ich weiß, damit bin ich nicht alleine“, sagt er. Seine Frau wäre eine wunderbare Mutter ihrer gemeinsamen Tochter, aber sie interessiere sich nicht für Sex oder Zärtlichkeiten. Nur für den Schrebergarten und die Gartenzwerge, und wenn Martin das erzählt, klingt er ein wenig verbittert. Er habe doch nur ganz normale männliche Bedürfnisse, sagt er.
Früher, vor dem Kind, da war das ein bisschen besser, aber auch nicht viel. Da ging noch hin und wieder was, und außerdem war da noch die Hoffnung.
Die Mutter seiner Frau nämlich, also seine Schwiegermutter, die wäre sehr temperamentvoll - als Martin das erzählt, verschwindet die Traurigkeit für ein paar Momente aus seinen Augen. Nein, er habe natürlich nicht mit der Schwiegermutter, er lacht, niemals hätte er so etwas getan, obwohl gedacht habe er schon daran. Die Hoffnung habe er wegen der Gene gehabt. Gehofft habe er halt, dass seine Frau ein bisschen mehr Charaktereigenschaften von ihrer Mutter entwickle, wen sie älter würde. Na ja, war wohl nichts.

Manchmal geht Martin in einen Club. In „Angelikas Wunderland“. Nein, seine Frau wisse nichts davon. Seine mausgraue Frau mit dem mausgrauen Haar, mausgrauen schmalen Lippen und dem mausgrauen Namen Helga habe keine Ahnung davon.

Das einzig Bunte in Helgas Leben sind die Zipfelmützen ihrer Gartenzwerge. Damit sie schön glänzen, putzt sie die Kerle und ihre Mützen mit Kernseife, die vertragen sie gut. Zweimal im Jahr werden sie frischgestrichen, im Frühjahr und im dunkelblauen Herbst. Die Helga hat die schönsten Gartenzwerge vom ganzen Schrebergartenverein.
Was Martin nicht weiß: Helga ist gar nicht so mausgrau, wie er denkt; aber nur, wenn Martin nicht da ist. Wenn Martin sagt, dass er Kegeln geht oder Bauernschnapsen, und in Wahrheit hinaus ins Industriegebiet, in den Club fährt, treibt Helga es mit dem stellvertretenden Schriftführer vom Schrebergartenverein. Was Martin außerdem nicht weiß: Herbert, der stellvertretende Schriftführer vom Schrebergartenverein, hat beim Sex mit Helga eine Zipfelmütze auf. Das entlockt ihr nämlich die spitzesten Lustschreie aller Frauen des Schrebergartenvereins, aber das wissen weder Martin noch Helga selbst, die glaubt, sie wäre die einzige, der Herbert Schreie so spitz wie die Zipfelmützen entlockt. „Steck mir deinen Zipfel in meine Elfenhöhle“, sagt Helga und während sie solche Dinge sagt, wechselt ihre Gesichtsfarbe von einem blassen Mausgrau zu einem glühenden Rot.

Martin geht manchmal in den Club. Er ist ein höflicher, zurückhaltender Mensch, auch im Club. Meistens schaut er nur. Martin will nicht stören. Vor kurzem hat er in Angelikas Wunderland ein Paar kennengelernt. Er lernt oft Paare kennen dort, erzählt ihnen ein bisschen von seinem Leben als EDV-Spezialist und von seiner unglücklichen Ehe mit Helga. Die Menschen, denen er das erzählt, haben dann Mitgefühl mit Martin. „Ach, du Armer“, sagen sie, „du hast es auch nicht leicht.“ Sie haben Verständnis für seine Clubbesuche und waschen ihn damit ein bisschen von seiner Schuld frei.
Martin fühlt sich trotzdem schuldig. Er ist keiner von den Männern, die auswärts essen, weil es ihnen zu Hause nicht schmeckt. Er ist einer von denen, die heimwärts verhungern.
Zweimal im Monat oder so, erzählt er, das würde ihm doch schon reichen, er erwarte auch keine besonderen Perversionen, aber Helga sage immer: „Nicht jetzt, die Kleine“, oder - wenn die Kleine bei ihrer Mutter schlafe - nur „nicht jetzt.“

Martin weiß nicht, dass Helga mit dem stellvertretenden Schriftführer des Kleingartenvereins „Zur goldenen Zukunft“ fickt. Früher, als Herbert noch nicht stellvertretender Schriftführer, sondern noch Kassaprüfer war, hat sie mit seinem Vorgänger, dem damaligen stellvertretenden Schriftführer, geschlafen. Auch für ihn hat sie Zipfelmützen gestrickt. Ein Fetisch von Helga. Sie hat eine Schwäche für stellvertretende Schriftführer. Für Gartenzwerge. Und für Zipfelmützen. Drei Schwächen.

Martin sucht keine wilden Orgien in Angelikas Wunderland. Er sucht Menschen, die ihn verstehen. „Ihr seid ein schönes Paar“, sagt er zu dem schönen Paar, welches das erste Mal im Club ist, und das schöne Paar freut sich. Das wiederum freut Martin, weil er Menschen gerne eine Freude bereitet.
„Ich hoffe, meine Anwesenheit stört euch nicht“, sagt er zu dem schönen Paar, denn Martin will nicht stören.
Er schaut zu, wie der Mann des schönen Paars vor der Frau des schönen Paars in die Knie geht und sie leckt. Martin schaut nur, er fasst sich auch nicht an dabei, aus Angst, es könnte das schöne Paar stören. Er würde die schöne Frau gerne berühren oder gar lecken, aber er fragt nicht. Helga möchte nicht geleckt werden. „Das ist ja pervers, wenn du mich da untenrum küsst“, hat sie gesagt, als er es einmal versucht hat.

Martin will das schöne Paar nicht stören. Als er merkt, wie ineinander versunken sie sind und wie die schöne Frau den Kopf des schönen Mannes gegen ihren Unterleib presst, schleicht er sich leise davon. Still freut er sich über das Glück des schönen Paars, das sich alles andere als still daran erfreut.
Martin schaut noch ein paar anderen Paaren zu, erzählt ein wenig von seiner unglücklichen Ehe und dass er nicht stören will.
Dann fährt er nach Hause zu seiner Frau. Helga schläft schon. Als seine Hand sich behutsam zwischen ihre Schenkel drängt, presst sie diese abrupt zusammen und sagt: „Nicht jetzt. Die Kleine!“

„Irgendwann“, nimmt Martin sich mutig vor, bevor er einschläft, „irgendwann frag ich so ein schönes Paar einfach, ob ich die schöne Frau auch ein wenig lecken darf.“
Oder – und das wagt er beinahe nicht zu denken – oder seine Schwiegermutter.

Sonntag, 28. Juli 2013

Herwig und Raphael

Herwig hat mich heute besucht, der Waldviertler Mohnbauer. Mohn hat er mitgebracht, Blaumohn, Weißmohn und Graumohn. Und ganz viele frische Mohnzelten, ich hab ihm ja erzählt, dass ich die so mag. Ich hab ihm Kaffee angeboten und er hat mich angestrahlt. Ich bin erst in seine Augen gefallen und dann über den Stein, der auf dem Weg in den Garten lag. Dabei hab ich mir den Knöchel verstaucht. Umgeknackst, weil ich die hohen Schuhe anhatte, um attraktiv zu sein für ihn.
Herwig und ich haben im Garten Kaffee getrunken. Er hat ziemlich gestaunt, als er Raphael, den Elefanten, im Garten gesehen hat. „Herwig – Raphael, mit ph – weil man Elefant früher auch mit ph geschrieben hat“ hab ich die beiden einander vorgestellt. Herwig hat gestaunt, aber er hat nicht weiter gefragt. Bin ich so durchgeknallt, frage ich mich, dass die Leute nicht mal fragen, warum da ein Elefant in meinem Garten ist?

Als Herwig seine Wunde auf der Pfote, die beim Elefanten nicht Pfote, sondern einfach Fuß heißt, gesehen hat, hat er gemeint: „Versuch es mit Mohnwickeln. Hat meine Mutter auch immer gemacht.“ Nach dem Lindenblütentee mit frischen Ringelblumen, die Raphael ja irrtümlich ausgetrunken hat, versuchen wir es jetzt mit Mohnumschlägen. Ich finde die Mohnmühle nicht. Herwig und ich sind drei Stunden lang damit beschäftigt, Mohn im kleinen Steinmörser zu mahlen. „Ich habe eine Kaffeemühle“, schlage ich vor, aber Herwig ist mohnmäßiger Purist. „Wenn ich wiederkomme, nehme ich dir eine Mohnmühle mit“, sagt er.
„Oh“, ich erröte. Nicht wegen der Mohnmühle, sondern weil er wiederkommen will. Trotz Raphael. Vielleicht auch wegen Raphael.
Herwig hat eine Hand für Elefanten. Behutsam und sicher hebt er den verletzten Fuß, nachdem er den Mohn in ein großes Tuch gewickelt hat, und schlingt es um Raphaels Vorderfuß. Raphael nimmt ihm dafür mit seinem Rüssel seine Kappe weg. Raphael hat viel Humor. Den muss man auch haben in unserer Familie, sonst hält man das nicht aus.
Ich strecke Herwig auch meinen verstauchten Fuß hin und Herwig streicht den Mohn auf ein kleines Tuch und bindet mir den Wickel um den Fuß. Dann küsst er mich.
„Was wird jetzt aus uns“, frage ich Herwig. Herwig lacht. Er hat auch viel Humor. Den muss man bei uns auch haben.
„Nichts wird aus uns“, sagt er. „Ich bin nämlich echt, im Gegensatz zu dem Bezirkshauptmannschaftsherwig, den du dir ausgedacht hast. Mit mir kannst du nicht machen, was du willst und dir deine Geschichte selbst schreiben. Und ich glaub dir nicht, dass du wirklich ins Waldviertel ziehen willst. Aber ich bin da oben daheim, verstehst du? Außerdem suche ich keine Frau. Ich bin glücklich.“
Ich erzähle ihm von meinem Freund, der auch glücklich ist und sich trotzdem immer in Frauen verliebt, die sich nur in Arschlöcher verlieben.
Herwig hört zu. „Das kenn ich“, sagt er, und wischt sich eine Träne aus dem Auge.
„Du auch?“, frage ich.
„Nein“, sagt er. „Aber ich verliebe mich immer nur in verheiratete Frauen. In solche, die ich nicht haben kann, weil sie schon jemand anderem gehören.“
„Ich gehöre niemandem“, sage ich, „auch wenn ich verheiratet bin.“ Meine Tochter singt aus Elisabeth: „Denn ich gehör nur mir.“ Raphael spielt die Trompete dazu.
„Das ist ein Muster“, sage ich zu Herwig. „Das mit dem Verlieben. Du verliebst dich deshalb in verheiratete Frauen, weil sie für dich ungefährlich sind.“ Ich schmiege mich an ihn.
„Gar nicht ungefährlich“, sagt er, und schiebt mich vorsichtig von sich weg. „Spiel nicht mit mir, ja?“
„Ich spiele nicht mit dir“, lüge ich und biete ihm noch einen Kaffee an, weil mir nichts anderes einfällt. Wir essen Mohnzelten. Und dann reden wir über die Politik. „Ich kenn einen“, erzähl ich ihm, „der trifft sich dauernd mit lebenden und toten Menschen und spricht mit ihnen über die Politik.“
„Du kennst Leute“, sagt Herwig.
„Ja“, erzähle ich, „und die streiten dann schon auch mal über Kapitalismus und Realismus und Idealismus und wie die ganzen Ismen heißen. Ich tät mich gern mit Johanna Dohnal treffen und mit Konstantin Wecker und mit Axel Prahl und mit meiner Oma“. Ich erzähle ihm von meiner Oma, die auf dem Schneeberg gearbeitet und mir immer Mannerschnitten mitgebracht hat. „Irgendwie sind wir alle allein, oder?“ Die Hitze macht mir zur Philosophin. „Wir kommen allein und wir gehen allein.“ Ich grinse. „Ganz selten kommen wir gemeinsam, aber auch dabei sind wir oft allein.“

Ich bin nicht allein. Ich habe meine Familie. Ich habe die Katzen. Ich habe Raphael. Ich habe meinen Freund, der sich immer nur in Frauen verliebt, die sich immer nur in Arschlöcher verlieben und jetzt hab ich auch Herwig, der sich immer nur in verheiratete Frauen verliebt. „Magst du mein Freund sein, Herwig?“ frage ich.
„Ich muss darüber nachdenken“, sagt er.
Wir sitzen da und denken nach. Herwig darüber, ob er mein Freund sein will – aber vielleicht denkt er in Wahrheit über etwas ganz anderes nach. Ich denke darüber nach, was sein wird, wenn Raphael älter wird? Während ich nachdenke, frisst Raphael alle Mohnzelten auf. Er wird eine Elefantenkuh brauchen. Elefanten sind Herdentiere. Ich blicke mich im Garten um. So groß ist unser Garten nicht, dass wir hier eine Elefantenherde halten können, denke ich. „Warte kurz“, sage ich zu Herwig und Herwig wartet kurz.

Ich rufe meinen Mann an.
„Raphael ist einsam, oder?“, sagt er.
„Ich weiß nicht. Er mag Mohn“, sage ich, „aber bitte bestell trotzdem keine weiteren Elefanten.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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