Sonntag, 22. April 2012

Slamclog Millionaire

Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrem Nadelstreifkostüm, ein letztes Mal aus ihrer weißen Bluse, ein letztes Mal aus dem BH, der sie einengte. Ein letztes Mal schlüpfte Erika aus ihrer Rolle, die sie viele Jahre mit Befriedigung erfüllt hatte.

„Ich hab’s immer geahnt: Du hast sie wohl nicht mehr alle“, murrte Albert, ihr Mann, als sie packte. Erika antwortete nicht und schmiss anstatt der schwarzen Röcke, gestärkten Blusen und Stöckelschuhe Shirts, Jeansröcke und Sandalen in den Koffer.
„Überleg dir doch mal, was du hier alles aufgibst“, versuchte Albert sie abzuhalten, doch das hatte Erika längst getan. Sie gab das wunderbare Haus am Land und die kleine Wohnung in der Stadt auf, ihren schönen Beruf, das Kapitalsparbuch und den Bausparvertrag. Sie gab Sicherheiten und Sicherheit auf.
„Ich seh schon, wie du reuig zurückkommen wirst“, sagte Albert mit einer Mischung aus Hohn und Verzweiflung.

„Ich will mich selbst finden“, hatte sie ihren Bekannten und ihrer Familie gesagt und alle hatten verständnisvoll genickt. „Erika leidet an Prämenopause“, erklärte ihre Freundin und Ärztin Susanne deren Tochter, „das ist eine sehr schwere Erkrankung und hat ähnliche Auswirkungen wie die Pubertät – nur viel schlimmer.“
Erika hatte nur in sich hineingegrinst. Sich selbst finden, so ein Quatsch, das konnte man überall und nirgends, dafür musste man nicht nach Thailand reisen.
Genau drei Menschen kannten Erikas wahre Beweggründe und Pläne. Ihre Mutter, die immer zu ihr stand, sie an ihre Mutterbrust drückte und sagte: „Du musst tun, was du tun musst.“ Selbstverständlich würde sie sich um den Hund kümmern. Ihre Freundin Hannah meinte nur: „Scheiß dich nicht an, geh!“ Und natürlich wusste ihre Freundin Emma Bescheid. Die war gesetzliche Betreuerin und hatte sie erst auf diese Idee gebracht.

*

„Schon wieder neue Bestellung aus Deutschland, Chefin“, sagte Somchai, der Geschäftsführer, Sekretär und Vertriebsleiter in einer Person war. Er strahlte sie glücklich an und das lag nur zum Teil daran, dass der FC Chonburi das gestrige Spiel gewonnen hatte. Erika lag auf der Veranda in der Hängematte und las in ihrem Krimi. Früher hatte sie Menschen in Führungspositionen gelehrt, wie man richtig führt und kommunziert und sich als Unternehmensberaterin auf Strategieentwicklung, -planung und Umsetzung spezialisiert. Ihre Strategien kosteten vielen Menschen den Job, das hatte sie zu spät bemerkt.
Jetzt leitete sie Slam Clog, eine kleine Pantoffelfabrik in der Provinz Chonburi, die sie einem chinesischen Unternehmer abgekauft hatte. Anstatt wie bisher billige Plastikschuhe mit Giftstoffen wurden nun schwere Holzpantoffel hergestellt. Aus Gummibaumholz von der eigenen Plantage, selbstverständlich FSC-zertifiziert.
Ihre einzige Strategie als Unternehmerin bestand darin, alles zu unternehmen, damit es ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und ihr selbst gut ging und die Kunden zufrieden waren. Das Team von Slam Clog war bunt gemischt. Buddhisten, Muslime, Christen, Hindus, Junge, Alte, Behinderte, Intellektuelle, sogar ein schwuler Priester war darunter... sie waren alle anders und wurden alle gleich wertschätzend behandelt und bezahlt.

Erika schaukelte sanft und erinnerte sich an die Verwunderung, die sie mit ihrem Projekt hier anfangs ausgelöst hatte. Es war nicht wichtig, dass jeweils ein rechter und ein linker Schuh ein Paar bildeten. Es war nicht von Bedeutung, ob die Schuhe passten oder zwei davon jeweils die gleiche Größe hatten. Schön sollten sie sein und gut in der Hand liegen. „Gut in der Hand liegen?“ hatte Thanawat erstaunt gefragt und überlegt, ob er vielleicht etwas falsch verstanden hatte. Ein paar Tage später hatte er den ersten Schuh mit Griff präsentiert.
Bei der Gründungsversammlung hatte Erika ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erzählt, wofür die Schuhe dienen sollten. Nämlich zur Abwehr von Übergriffen, Freiheitsbeschränkung und respektlosem Verhalten vom Pflegepersonal in Alters- und Pflegeheimen.
„Was ist das, ein Altersheim?“, fragte Nermina und schüttelte über Erikas Erklärung fassungslos den Kopf. „Man verstößt in deinem Land die weisen Menschen von der Familie und steckt sie in ein Lager?“
Erika lächelte betroffen über Nerminas Sicht der Dinge. „Nicht nur in meinem Land. In fast allen sogenannten zivilisierten Ländern der Welt.“

Damrong und Nayton, die beiden jüngsten Arbeiter, wurden in den Pausen durch unzählige Versuche zu Ballistikern und entwickelten die geeignete Schuhform für die perfekte Wurfbahn. Nermina und Joy bemalten die Schuhe mit thailändischen Ornamenten, die alte Malee brannte mit einem Brenneisen weise Sprüche in die Holzpantoffel. In der Ruhe liegt die Kraft, oder Der Weg ist das Ziel, Wer sich nicht wehrt, wird nicht geehrt oder Man muss lange leben, um ein Mensch zu werden.
Die Schuhe gingen weg wie die warmen Semmeln. Nicht einmal die holländischen Klompen waren eine Konkurrenz, die wurden vorwiegend für die Touristen hergestellt und ließen sich schlecht werfen.

Erika gründete weitere Niederlassungen, mehr Menschen fanden bei ihr Arbeit, vor allem im Landesinneren. Die Arbeitsbedingungen blieben die gleichen wie im Hauptwerk, Erika sorgte dafür, dass die Leute in dem Ausmaß und in dem Tempo arbeiteten, wie sie wollten, dafür, dass sie das machten, was sie gut konnten oder das lernten, was sie lernen wollten. Niemand sollte ausbrennen, die Arbeit hatte den Menschen und nicht die Menschen der Arbeit zu dienen. Ihre Arbeiter sollten nicht nur ihren Lebensunterhalt mit ihrem Job verdienen, sondern die Arbeit sollte Sinn stiften und Freude machen. Deshalb wurde in den Werken viel gelacht, gut gegessen und Freundschaften geknüpft.

„Es geht mir nicht darum, reich zu werden“, sagte Erika zu dem Journalisten, der extra aus Deutschland angereist kam, um sie für die Sonntagsbeilage zu interviewen, „sondern darum, die Philosophie der Wertschätzung auch für die, die angeblich nicht mehr funktionieren weiterzugeben.“

*

Hannah, Emma, Erika und Erikas Mutter saßen in Bang Saen am Strand und tranken Thai Watermelon Cocktails. Am Nachmittag hatten sie den buddhistischen Tempel Wat Yansangwararam und andere Sehenswürdigkeiten der Gegend besucht. Vor allem aber hatten sie geredet, geredet und geredet.
„Bist du glücklich?“, wollte Hannah wissen.
„Ich glaub schon“, sagte Erika. „Es ist schön zu sehen, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Aber, wenn ich Nachrichten höre, zweifle ich manchmal daran, dass ich mit meinem Projekt tatsächlich etwas bewegen kann.“
„Täusch dich da nicht“. Emma zog die Zeitung aus ihrer Tasche und entfaltete sie.

DIE ALTEN SETZEN SICH ZUR WEHR!, lautete die Schlagzeile. SLAMCLOGS gründen eigene Partei

Erika musste lächeln, als sie ein Bild von sich im bunten Pareo in der Zeitung sah. „Wisst ihr, ich kam mit so viel Wut im Bauch hierher. Aber Gewalt ist doch in Wahrheit auch keine Lösung, oder? Ich hab Angst, dass es irgendwann die ersten toten Pflegerinnen gibt, und ich bin schuld daran. Das will ich nicht.“
„Lies weiter“, sagte Emma.
„Wir Slammies werfen aus Prinzip daneben“, so die 91-jährige Trude Stadler, Listenerste der SLAMCLOGS im Interview. Das ist Teil unseres Parteiprogramms. Viele von uns hängen die Holzschlapfen an die Wand, weil sie mit so viel Liebe gearbeitet und viel zu schön und schade zum Werfen sind. Sie sind ein Symbol geworden. Die Schuhe sind ein Symbol geworden. Ein Symbol dafür, dass wir uns nicht mehr alles gefallen lassen. Ein Symbol für Menschenrechte und Freiheit im Alter.“

„Ich soll dich von Albert schön grüßen lassen“, sagte Erikas Mutter später am Abend, als die anderen schon ins Bett gegangen waren. „Er möchte wissen, ob du wiederkommst. Er ist einsam in dem großen Haus und überlegt sich, Susanne zu heiraten, damit eine Frau im Haus ist. Es sei denn, du überlegst es dir noch und kommst zurück.“
Erika schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie leise und überreichte ihrer Mutter ein Paket, „nimm ihm bitte diese Clogs mit. Als Symbol für Menschenwürde und Freiheit im Alter. Mit persönlichen Widmung.“

Leck mich am Arsch, stand drauf.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

Web Counter-Modul


Briefverkehr mit einem Beamten
Erlebtes
Femmes frontales
Forschertagebuch
Gedanken
Gedichte
Geschichten
Glosse
In dreißig Tagen um die Welt
Kurzprosa
Lesungen
Menschen
Sex and the Country
Toll3ste Weiber
Vita
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter