Forschertagebuch

Montag, 6. Juni 2016

Tagebuch

Für Leser, die kein Facebook haben...

Spoiler: Es geht mir schon wieder besser.

Tag 1

Das wird kein lustiger, netter Beitrag, leider. Auch kein neues Geschmeide. Außerdem schreib ich am Handy und mach bestimmt viele Fehler. Und meine Arme sind verkabelt. Und bin verzagt und voller Selbstmitleid und hab Angst.
 Aber langsam.

Die letzten Wochen und Monate ging es mir richtig gut, ich glaub, das hab ich das eine oder andere Mal erwähnt.
Ich dachte, das macht dem Leben und mir Spaß, aber dem Leben wurde es anscheinend zu langweilig. Also hat es mir den Samtteppich, auf dem ich stand und lag, einfach unter den Füßen weggezogen.

"Soll ich dir auch Erdbeeren mit Joghurt machen?" Man könnte meinen, ein einfacher Satz. Aber er wollte weder von meiner Intention in die Gedanken noch von den Gedanken auf die Zunge, sondern drehte sich im Kreis und aus meinem Mund fielen unzusammenhängende Wörter. So sehr ich mich auch bemühte, ich kriegte diesen Satz nicht heraus. Irgendwann begann ich zu weinen.
Jetzt lieg ich da, wo ich - die stolze, starke, souveräne Frau Lehner -sonst oft dienstlich bin, Patienten besuche, mit Ärzten diskutiere und Angehörige tröste. Auf der Stroke Unit der neurologischen Abteilung. Und jetzt hält die Stationsschwester mir die Hand und ich bin froh, dass ich immer freundlich war zu ihr.

Der erste Gedanke war: Aber ich muss ja am Wochenende schulen. Zum Glück haben mir den zwei Kollegen schnell aus dem Kopf getrieben.
Und ich lieg da und frag mich, was los ist mit meinem Kopf, ob er vielleicht so verstopft ist mit Ideen und Plänen und Bühne und Arbeit und allem, was mir im Leben so viel Freude macht, dass das Blut nicht mehr durchkommt.

Ich hab den Schlag verstanden, liebes Leben, aber können wir uns für die Zukunft darauf einigen, dass du mir nicht das nimmst, was mir neben meinen Lieben am wichtigsten ist? Nämlich meine Sprache und meinen Humor?
Schlag ein statt zu.


Tag 2

Heut Nacht sind ein paar rosa Flecken auf die weißen Krankenhauswände gemalt worden. Vielleicht lag es auch Schlafmittel, dass ich rosiger sehe als gestern. So starke Drogen konsumiere ich ja sonst nie.
Für Beileidskundgebungen ist es zu früh, auch werde ich keine ausgiebige Reha brauchen (höchstens eine kleine Kur), die Seh- und Sprachsymptome haben sich ja wieder verzogen. Nur die Angst hockt noch trotzig an meinem Bett und will auch nach Ende der Besuchszeit nicht gehen. Die Angst, dass Dr. Google recht hat und auf so eine transitorische ischämische Attacke mehr folgt. Oder halt in meinem Hirn irgendwas nicht stimmt, dass es überhaupt so weit gekommen ist.
Und so starre ich aus dem Fenster über die Dächer Mistelbachs und murmle in regelmäßigen Abständen Sätze wie ...auf dem Dach sitzt eine Katze... oder … willst du Erdbeeren mit Joghurt?... nur damit ich mich vergewissere, dass sie noch da ist, meine Sprache.

Ja, liebes Leben, wir zwei sind noch nicht fertig miteinander. Dein Schlag hat mich nicht getroffen, sondern nur gestreift. Ich habe deine Botschaft verstanden. Das nächste Mal nimm statt des Zaunpfahls (Zäune sind sowieso total out, die haben so gar nichts verbindendes) bitte für solche Nachrichten japanische Essstäbchen. Mit denen könnten wir dann auch Sushi essen. Und ich versprech dir, liebes Leben, den Abstand zwischen Liebes und Leben kriegen wir auch wieder weg.


Tag 3

Heute sind die Krankenhauswände nicht rosa, sondern grün. Was nicht an irgendwelchen bunten Pillen liegt, sondern daran, dass sie mich im Schlaf auf ein anderes Zimmer verlegt haben, weil ein Notfall kam und auf die Überwachungsstation musste. Was schlecht für den Notfall ist, aber gut mich, weil ich jetzt definitiv keiner mehr bin.
Wenn man hier im Krankenhaus eines hat, dann Zeit zum Nachdenken. Außer man verfolgt im Standard liveticker, wie Dominik Thiem Paris aufmischt.

Und wenn man da so nachdenkt, merkt man, dass ja ganz nüchtern betrachtet alles beim Alten ist. Man kann gehen, kriegt die Fingerspitze mit geschlossenen Augen fast punktgenau zur Nasenspitze, sieht den Kollegen nicht mehr kopflos (was ihm ubrigens nicht wirklich steht) und kann fehlerfrei “soll ich dir Erdbeeren mit Joghurt machen”? sagen.

Wenn ich wenigstens einen Gips hätte, würden die Leute sagen: lass, ich mach das, schon dich! Aber wie schont man sich, wenn das Gehirn verstopft war und man noch nicht mal weiß, warum?

Von Außen betrachtet hat sich also nichts verändert, außer dass ich grad zerstochen bin und an Infusionen hänge und meine Blässe in Konkurrenz zum schicken Krankenhaushemd steht. Und doch ist alles anders in Tagen wie diesen, in denen man so intensiv Bekanntschaft (nein, Freundschaft ist das noch keine) mit der eigenen Verwundbarkeit gemacht hat. An diese neue Begleiterin muss man sich erst gewöhnen.Die Momente, in denen man gespürt hat, wie es sich anfühlt, wenn die Wörter weg sind oder nur die falschen da sind und man keine Kontrolle über sie hat, die haben mich verändert. So selbstverständlich hab ich die Sprache als mein Werkzeug verwendet, bis sie mir aus der Hand gefallen und durcheinander geraten ist.
Um loslassen geht's ja grad in meinem Leben, aber nach dem Kind auch noch die Sprache? Ja, ich weiß, sie sind noch da, ein Kind auf dem Traktor und eins in Dänemark und die Sprache wieder in meinem Kopf, aber ihr fehlt die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit.
Wenn ich in Zukunft Vorträge über Sachwalterschaft halte und flapsig sage “wir wissen alle, wie schnell so etwas gehen kann”, dann wird das weniger flapsig klingen... wenn ich mit der Oberärztin über eine Peg-sonde diskutiere, werde ich das Bild nicht aus dem Kopf kriegen, wie sie meine Hand gehalten hat und ich geschluchzt habe, obwohl es mich viel schlimmer treffen hätte können. Wenn ich zu Klienten, die auf die Frage nach ihrem Alter mit grün antworten, sage: ich kann verstehen, dass sich das scheiße anfühlt, dann werde ich es tatsächlich ein bisschen besser verstehen konnen..

Gestern hab ich noch großgoschert verkündet, ich hätte die Botschaft verstanden? Aber welche Botschaft eigentlich? Als meine Freundin gestern da war - mit Essstäbchen für die Sushi statt mit Zaunpfählen - haben wir gerätselt, ob wir die Strategien des Lebens nicht vielleicht maßlos überschätzten und nur blöd heruminterptetieren. Dass sich das Leben - so wie bei der Schaffung der FPÖ - vielleicht gar nichts gedacht hat, sondern ihm einfach fad und es ein bisschen aggro war und es sich gesagt hat: die Lehner, die steht grad so blöd herum, der braten wir kurz eins rüber.

Wie soll ich mich jetzt eigentlich schonen? Statt alle zwei Jahre nur noch alle 5 Jahre Fenster putzen? Weniger reden und die Sprache schonen? Weniger denken und das Gehirn…?
Weniger von dem machen, was mich erfüllt und dafür Löcher in die Luft starren? Und was sagt die Luft dann dazu, wenn sie aussieht wie ein Emmentaler?
Ihr müsst meine verschwurbelten Gedanken natürlich nicht lesen. Aber ich muss sie aufschreiben.
Alles ist wie immer. Und nichts, wie es mal war.
Nur so zum Üben: Soll ich euch Erdbeeren mit Joghurt machen?

Tag 4

An der Wand hängt ein Akt. Also kein Gerichtsakt, sondern ein Bild von zwei ineinander verschlungenen Liebenden. Die Wand ist nämlich meine Schlafzimmerwand.
Das Leben fühlt sich noch nicht wieder normal an. Obwohl ich in meinem eigenen Bett mit der frisch gewaschenen Rosenbettwäsche liege, keine Geräte um mich surren und piepsen, weil mein Puls unter 45 fällt und eigentlich alles so ist wie immer. Eigentlich. Das Blut in meinem Körper fühlt sich anders an. Dünner irgendwie. Das wird am Thrombo Ass liegen. Meine Haut fühlt sich auch dünner an. Das wird nicht am Thrombo Ass liegen.

So, Frau Lehner, jetzt ist dann wieder Schluss mit Selbstmitleid und damit, dass sich alles um Sie selbst dreht. Sie können jetzt wieder schöne Gedichte schreiben und Ringe schmieden und Erdbeer-Rhabarberkuchen backen und für andere da sein.

Oder so: Frau Lehner, es ist völlig in Ordnung, wenn sich jetzt alles um Sie selbst dreht, aber es muss nicht die ganze Welt davon erfahren. Sie müssen Ihr Tagebuch nicht an die Gemeindetafel hängen. Es interessiert niemanden, was sie mitgemacht haben. Wir alle haben genug mitgemacht und machen uns nicht damit wichtig.

Oder: So, Frau Lehner: Es ist gut, wie es ist. Ihr Leben darf sich um Sie selbst drehen, so eine Attacke ist kein Lercherlschaas (Flatulenz eines Singvogels) , auch wenn sie nicht mit Lähmungen einhergegangen ist. Es ist auch in Ordnung, das Tagebuch in der Kronenzeitung zu veröffentlichen - Stopp! - Also dort nun wieder nicht, jetzt reißen Sie sich ein bisschen zusammen... aber es ist in Ordnung, Ihr Tagebuch auf Facebook zu veröffentlichen, dort lesen es eh nur die paar Freunde. Was Sie übersehen haben, Frau Lehner, ist aber die Tatsache, dass die paar Freunde dann auch die anrufen, von denen Sie denken, die ruf ich erst an, wenn es mir wieder gut geht, damit sie sich nicht unnötig Sorgen machen. 
(Es tut mir leid, wenn ihr euch Sorgen um mich gemacht habt. Ich hab mir übrigens auch ziemliche Sorgen um mich gemacht.)

Es ist also gut wie es ist, Frau Lehner. Sie dürfen Ihr Tagebuch veröffentlichen, wo Sie wollen, verstopfte Gehirnwindungen, fehlende Köpfe und fehlende Wörter sind den Menschen ebenso zumutbar wie Katzen- und Essensfotos und Poesiealbumsprüche, es wird ja niemand genötigt, zu lesen, was Sie schreiben, das nennt man ja Autonomie.
So ein Hirn ist schon eine sehr seltsame Konstruktion. Nicht nur, weil es aus - noch - unerfindlichen Gründen den Strom nicht durchgelassen hat, auch, weil es sich ständig neue und unnötige Gedanken macht.
Gestern beim Abendspaziergang zum Beispiel, da denkt mein Gehirn sich: Hoffentlich sieht mich jetzt niemand (was ziemlich unwahrscheinlich ist, wenn man zum Bäcker geht). Hoffentlich sieht mich jetzt niemand, der meine Facebookeinträge gelesen hat und mich jetzt für todkrank hält und mir schnelle Genesung gewünscht hat und der denkt sich jetzt: Da spaziert die einfach so herum und zieht nicht mal ein Bein nach und „Bitte zwei Packungen Vollwertbiomüsli, eins mit und eins ohne Rosinen“ hat sie auch ohne Probleme herausgekriegt. Und Lippenstift hatte sie drauf, also bitte! Drama Queen. Wisst ihr noch, wie sie vor ein paar Jahren in der Aula der Schule diese Pornogeschichte gelesen hat?
Vielleicht find ich noch die Krücken, die mein Mann nach dem Riss der Achillessehne (jetzt hätte ich beinahe Achillesferse geschrieben) gekauft hat, mit denen geh ich dann morgen in den Wald, damit man sieht, dass mit mir etwas nicht stimmt.

„Gusch, verdammt noch mal!“, brülle ich mein Gehirn an, weil es so einen Schwachsinn denkt. Vielleicht sind da doch noch ein paar Synapsen ein bisschen hinüber? „Jetzt reiß dich doch ein bisschen zusammen. Du sollst dich schonen!“, erinnere ich es an den ärztlichen Rat.
„Wie geht das?“, fragt das Gehirn mich. 
Hm. Vielleicht das Krone-Rätsel statt dem Standard-Rätsel. Oder nicht überlegen, wie schonen geht.
Man sagt ja, dass das chinesische Schriftzeichen für Krise das gleiche ist wie für Chance. Ich kann es nicht bestätigen, ich bin nur bis tausend Zeichen gekommen, das war nicht dabei. Vielleicht ist da ja etwas dran. Ich hab nämlich gestern ein Mail bekommen, von jemandem, der mir sehr wichtig ist und dieser jemand hat mir gesagt, dass ich ihm auch sehr wichtig bin. Das war wunderschön. Und vielleicht hat sich mein Gehirn diesen ganzen Streich nur ausgedacht, damit das passieren kann und wir wieder einen Schritt aufeinander zu machen. Wer weiß das schon?


Tag 5

Der am häufigsten gehörte Satz in Tagen wie diesen: „Sag einmal, was machst du denn für Sachen?“
Ja, was mach ich denn für Sachen? Ich dachte, ich erschreck euch und vor allem mich ein bisschen. Mir ist der Stoff zum Schreiben ausgegangen, da hab ich das Leben gefragt: „Sag einmal, hast du eine Ahnung, worüber ich schreiben könnte? Aber bitte nichts Erotisches, das regt mich immer so an und stößt manche Leser ab. Die Kurgeschichten haben den Leuten damals sehr gefallen, so etwas in der Art vielleicht, nur ein bisschen spektakulärer. Aber halt auch nicht ganz schlimm, also kein Todesfall oder so. Gib mir doch mal eine Steilvorlage bitte!“
Das Leben hat nicht lang nachgedacht, sondern zum Schlag ausgeholt. 
„So?“, hat es dann gefragt. 
„Sag einmal, was machst du denn für Sachen?“, habe ich kopfschüttelnd gemurmelt, als der medizinisch indizierte Dadaismus vorbei war und ich wieder ganze Sätze formulieren konnte. Das Leben hat die Schultern gezuckt. „Du wolltest es so.“
Ich bin gespannt, wann der nächste Zuhörer bei einer Lesung fragt: „Sagen Sie einmal, wie kommen Sie eigentlich auf Ihre Ideen?“

Österreich hat nicht nur 8 Millionen Cheftrainer, sondern mindestens so viele Neurologen, die auf Ferndiagnosen spezialisiert sind. Das beruhigt mich. Der zweithäufigste Satz in Tagen wie diesen war: „Und da hast du nicht sofort die Rettung gerufen? Das weiß man doch?“ 
Ja Leute, genau das ist das Problem, dass man in Situationen wie dieser gar nichts mehr weiß. Nicht einmal, wie man das Kind fragt, ob es auch Joghurt mit Erdbeeren will.

„Sag es bitte, wenn ich irgendwas für dich tun kann“ ist auch in die Top 3 der Hitparade der beliebtesten Reaktionen geschrammt. Ein schönes Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die etwas für einen tun wollen. 
„Das ist lieb, aber ich hab hier alles, was ich brauche“, sagst du meistens. Gute Neurologen, einen piepsenden Monitor, der mich überwacht, Infusionen, ein sexy Nachthemd und einen wunderschönen Ausblick über die Stadt.
„Ein Eis hätte ich gerne“, bist du einmal völlig unbescheiden, weil du weißt, dass die Person, die dich ermuntert hat, ihr zu sagen, wenn sie irgendetwas für dich tun kann, ganz in der Nähe wohnt. Das war dann aber doch ein bisschen zu viel verlangt. Diese Person hat sich seit dem ungeheuren Wunsch auch nicht mehr gemeldet. Hoffentlich hast du sie nicht vor den Kopf gestoßen, indem du nicht Trost und Rat, sondern ein Stanitzel mit Schoko- und Bananeneis wolltest.

Aber wenn du ehrlich bist, dann spürst du sowieso, wer diesen Satz ernst meint und für wen er nicht mehr als eine Floskel ist, weil ihm „Sag einmal, was machst du denn für Sachen?“ grad nicht einfällt. Es ist schön zu spüren, dass die meisten deiner Freunde ihn sehr ernst meinen. Aber die Lust auf Eis ist dir inzwischen vergangen und wird durch Gusto auf Sushi ersetzt. Der wird prompt erfüllt, von einer Freundin, die nicht in der Nähe wohnt und die deine Tränen und deine Hilflosigkeit aushält.
Ich hab übrigens die besten Freunde der ganzen Welt. So schaut‘s nämlich aus.

Der Körper ist eine komplexe Wundermaschine. Das wird mir spätestens beim Aorta-Ultraschall klar. Ich kann mein Blut, das durch meine Gefäße rauscht und pocht, hören. Es klingt wie eine kaputte Klospülung. Aber die Neurologin ist zufrieden. „Super klingt das!“, findet sie. Sie scheint ein Faible für rauschende Klospülungen zu haben. Na ja, manche stehen auf schöne Strumpfhosen, manche eben auf solche Geräusche.
Die EEG-Spezialistin lobt mich, weil ich so still liege und die Aufzeichnungen über meine Gehirnströme so deutlich und so klar sind. Das wundert mich, bei den Gedanken, die mir ständig durch den Kopf geistern. 
Nächste Station Echo. Ich bekomme einen Echo verliehen? Aber ich kann doch gar nicht singen!
Ah, Echo steht für transthorakale Echokardiografie. Herzultraschall.

Was ich schon oft gehört habe: Du hast ein großes Herz, ein weiches Herz, ein warmes Herz, ein reines... nein, wir wollen nicht übertreiben. 
„Sie haben ein wunderschönes Herz“, sagt die rumänische Herzspezialistin und kann sich gar nicht satt sehen an meinen Kammern und Herzohren.
Es macht mich glücklich zu sehen, mit welcher Leidenschaft die Leute im Krankenhaus ihrem Beruf nachgehen. Die kleine, resolute Krankenschwester mag ich am liebsten. „Der Stützpunkt heißt nicht Stützpunkt, weil du ihn stützen musst“, sagt sie zum dicken, gemütlichen Praktikanten, „der steht von ganz allein. Du kannst in der Zeit was arbeiten.“

Die Zivis machen Wettrennen mit den Patientenbetten mit Patienten drinnen, die sie zu den diversen Untersuchungen führen. Bastian nimmt die Kurven am engsten und wir gewinnen souverän. Wenn auch nicht den Echo.
Auch die Pharmavertreterin scheint ihren Beruf zu lieben. Unbeirrt lächelt sie und sagt zu allen vorbeieilenden Ärzten: „Ah, Sie haben es bestimmt grad eilig, Herr/Frau Doktor. Macht nichts, dann schau ich morgen wieder vorbei.“ 
„Tut mir leid, ein Notfall“, sagen die Angesprochenen. Es scheint vor Notfällen nur so zu wimmeln, denn alle beschleunigen beim Anblick der Pharmavertreterin in der pinkfarbenen Hose ihre Schritte und das liegt wahrscheinlich nicht an der pinkfarbenen Hose. Ich habe Mitleid mit ihr. 
Zum Glück erbarmt sich die rumänische Herzspezialistin ihrer und lässt sich die neuesten Studienergebnisse aufschwatzen und ein paar Muster überreichen. Vielleicht sind in der Tasche auch Gutscheine für Fernreisen, man weiß nichts genaues.

„Du bist schon wieder ganz die Alte!“ ist übrigens nicht aufs Treppchen gekommen und knapp auf Platz 4 gelandet. Na ja, man kann nicht immer gewinnen. 
Um ehrlich zu sein, ich fühl mich noch nicht alt. Auch nicht wie die Alte. Da hat das Leben eine kräftige Einkerbung in meine Linie geschnitzt. Wozu die gut sein soll, weiß ich noch nicht genau.

Aber jetzt muss ich mich wieder ausruhen und die vielen guten Ratschläge beherzigen.


Tag 6

Die Wahrheit ist: Ich hab das Patientenbettrennen gar nicht gewonnen im Krankenhaus. Es gab nämlich gar keines. Sie waren zwar flott unterwegs und mir wurde zum ersten Mal klar, warum in jeder Kurve Spiegel angebracht waren - nämlich, damit die mit den Schwerverletzten nicht zusammenstoßen - aber sie sind durchaus vorsichtig gefahren. 
Es ist nur so: Maßlos zu übertreiben und Geschichten zu erfinden nimmt mir meine Angst ein bisschen. Ich versuche die Angst einfach wegzuschreiben. Wer witzig ist, fürchtet sich nicht. Wer über sich selbst lachen kann, die Angst nicht auf ein Podest stellt, sondern einfach auslacht, dem geht‘s besser. Damit kenn ich mich aus. War meine Abschlussarbeit bei der Trainerausbildung. Humor wirkt sich tatsächlich auch körperlich aus, fördert unter anderem die Durchblutung und den Stoffwechsel.

Heute nacht hab ich geträumt, dass ich ständig irgendwelche Dinge in der Hand hatte, von denen ich nicht wusste, wie sie dahin gekommen sind. Einen Schlüssel, der nicht mir gehört. Einen Stoffhund. Eine Selbstbräunungscreme. Was bitte mach ich mit einer Selbstbräunungscreme?

Ist es eigentlich besser, wenn sie finden, warum ich diese Aussetzer hatte oder nicht? Ein Teil von mir wünscht sich, dass bei irgendsoeinem Ultraschall der Fehler im System gefunden wird und die Ärztin glücklich aufschreit: „Ha, da haben wir den Schurken!“ Es sollte natürlich nur eine Kleinigkeit sein, die leicht behandelbar ist, ein rostiger Auspuff oder eine falsch montierte Schraube. Und die Schraube würde an die richtige Stelle montiert und die Angst gezogen werden. Mitsamt der Wurzel.

Damals, vor Jahren, war es auch leichter, eine Diagnose zu haben, zu wissen, warum mein Sohn mit 6 noch keine Kerze ausblasen konnte und dass es nicht an meiner schlechten Erziehung (welcher Erziehung eigentlich?) lag. Die Diagnose hat zwar im Prinzip nichts geändert, aber die Last hat sie leichter gemacht.
„Dein Hirn ist auch nur ein Mensch“, hat ein Freund gesagt, „das darf auch manchmal einfach nicht funktionieren, ganz ohne Grund. Wenn sie nichts finden, geh einfach davon aus, dass du gesund bist.“ Seh ich nicht so, dass mein Hirn das Recht hat, nicht zu funktionieren.
Auf der Suche nach dem Warum entwickle ich täglich ein neues Erklärungsmodell.
Hier mein heutiges: 
Vielleicht habt ihr ja gestern auch gelesen, dass der ehemalige Kärntner Landeshauptmann Dörfler anlässlich des Todes des größten Boxers aller Zeiten gesagt hat: „Cassius Clay und Mohammed Ali haben die wildesten Boxkämpfe des Jahrhunderts geliefert und haben danach ein Bier getrunken“.
Ja, lasst es ruhig sickern. Dabei sollte ein FPÖ-Politiker doch wirklich wissen, dass Moslems sich unserer westlichen Wertekultur verweigern und keinen Alkohol trinken. Da hätte ja Cassius Clay alle drei Bier alleine trinken müssen!

Ihr werdet euch jetzt vielleicht fragen, was das mit meinem Hirn zu tun hat. Langsam, ich werde es euch erklären. Mir ist klar geworden, wie viele Fehlfunktionen die Gehirne der Blaubraunen täglich haben. Und wahrscheinlich war die Ischämische Attacke nur ein Versuch einer noch unbekannten unheimlichen Macht, unter deren Einfluss diese Neubraunen stehen, auch mein Gehirn in Besitz zu nehmen. Bei vielen anderen haben sie das ja schon geschafft, vermutlich mittels Chemtrails.

Meine Sehstörungen waren ein Versuch dieser Macht, mich für das Wesentliche blind zu machen, weshalb ich meinen Kollegen ohne Kopf gesehen habe. Kopflose Menschen braucht ihre Politik nämlich. Und dann haben sie mich Schwachsinn reden lassen, wie sie selbst es jeden Tag tun, irgendeinen Scheiß. Sie wollten, dass ich statt „Erdbeeren rein“ „Ausländer raus!“ sage, aber mein Gehirn war zwar außer Gefecht, aber so blöd nun auch wieder nicht. Sie haben gemerkt, dass ich für diese Umpolung nicht geeignet bin und geben auf. Hoffentlich.

Ja, und so witzele ich mich auch heute wieder in den Tag und spuck der Angst ins Gesicht.
„Kribbelt es in ihrem Kopf?“, hat die Ärztin gefragt. 
„Nein“, hab ich gesagt.
Aber jetzt, wo ich wieder zu Hause bin, kribbelt es ständig. Und ich hab natürlich nicht gegoogelt, was das bedeuten kann. 
Und wenn mir ein bisschen schwindlig wird, was bei einem Puls von 45 schon mal vorkommt, atme ich tief aus und versuche ganz nervös diesen einen, den wichtigsten Satz zu sagen: „Soll ich dir auch Erdbeeren mit Joghurt machen?“

Sonntag, 29. Mai 2016

Spieglein, Spieglein an der Wand

Ich lausche den Texten der jungen, schönen Autorinnen und Autoren auf der Slambühne. Lächle, weil ich mich in meine Jugend zurückversetzt fühle, an meine Liebes- und Lern- und Leidensgeschichten. Die Welt ist eine andere mit 50+, denke ich. Die Gegenwart abgeklärter. Die Vergangenheit verklärter.

Die letzte Nacht durchgemacht hab ich ... ja, vor einer Woche. Aber nicht aufgrund von 13 Tequilas, sondern, weil ich nicht schlafen konnte, weil meine Tochter am Tag der Bundespräsidentenwahl nach Dänemark geflogen ist und ich sie um 4 Uhr morgens zum Flughafen gebracht habe. Sie ist nicht wegen der Wahl ausgereist, sondern wegen eines rotblonden Wikingers mit Vollbart, nachdem sie mir 20 Jahre lang erzählt hat, dass sie Männer mit Bart nicht mag, außer den Papa. 
Der Kopf nach dieser durchgemachten Nacht hat sich ähnlich angefühlt wie vor Jahrzehnten nach den 15 Tequilas, aber die Traurigkeit jetzt lässt sich nicht hinter Tomatenstauden kotzen wie die Übelkeit nach den 17 Tequilas. Oder waren es 19?

Wie gesagt, mein Leben ist ein anderes als das der jungen Autoren und Autorinnen. Nicht Generation Praktikum, sondern seit 25 Jahren mit dem selben Mann verheiratet und seit 23 Jahren mit dem selben Job. Wie langweilig muss das klingen in den Ohren der anderen?

Wenn ich aber in den Spiegel schaue, und zwar unter die glänzende Oberfläche, ganz tief hinein, wo es dunkel und geheimnisvoll ist, dann sehe ich nicht eine 54jährige Frau mit grauen Schläfen, dann bin ich wieder das kleine Mädchen, das Angst davor hat, dass Papa und Mama sich nicht mehr lieb haben, und das glaubt, schuld daran zu sein, weil es sich an den Süßigkeiten in Papas Naschlade vergriffen hat.
Dann sehe ich das Volksschulkind, das kluge und intelligente Mädchen, das der Lehrerin die Tasche mit den Hausübungsheften nach Hause trägt und immer eine extra Zierzeile für diese Lehrerin malt. Gibt es Zierzeilen überhaupt noch oder sind sie vom Aussterben bedroht? Der geliebten Lehrerin die Hausübungshefte nach Hause zu tragen war nicht einmal in den 60ern cool. Weil ich aber so gerne cool sein wollte, erzählte ich zu Hause bei Eingebrannten Erdäpfeln (die sind auch vom Aussterben bedroht und das zu Recht), dass ich zur Lehrerin „Arschloch“ gesagt habe, was natürlich nicht gestimmt hat, weil ich sie angehimmelt habe. 
Was gestimmt hat: Ich habe die schönsten Aufsätze für sie geschrieben und dafür Sternchen bekommen. Und für 6 Sternchen gab es ein Klebeherz. Aber Sternchen und Klebeherzen waren auch in den 60ern nicht cool. Cool war der Rudi, der das Tintenfass ausgetrunken hat, ohne mit der Wimper zu zucken. 
„Arschloch“ zur Lehrerin zu sagen war mindestens genauso cool. So gerne wollte ich Pippi Langstrumpf sein und brachte es doch nur zur Annika. Ein liebes, nettes Mädchen war ich, umkompliziert und unauffällig. Ein VW Käfer, der gern ein Citroen DS gewesen wäre.
Für das "Arschloch", das ich nie gesagt hatte, bekam ich Watschen vom Papa statt Sternchen von der Lehrerin. Watschen waren auch in den 60ern nicht cool, aber durchaus üblich. Rebellion hat eben ihren Preis. 


Meine Mama ging in die Schule und entschuldigte sich bei der Lehrerin für das "Arschloch", und später gab es noch mehr Watschen, fürs Lügen. Und der Dieter durfte der Lehrerin die Hausübungshefte nach Hause tragen, was viel mehr weh getan hat als die Watschen, die nur auf der Oberfläche schmerzten, aber nicht im Herz innen drinnen.
Im Spiegel sehe ich eine trotzige Pubertierende, die Hesse liest und Gedichte schreibt und die ein Stückchen Wüste grün machen möchte. Die die Schulkollegin, die stolz die Flecken der ersten sexuellen Erfahrungen auf der Bluse präsentiert und diese „Sportflecken“ nennt, naiv fragt „von welchem Sport?“ und dafür Spott und Hohn erntet.
Ich sehe die ungeschickte, tollpatschige Schülerin, die nicht in die Mannschaft gewählt wird. Die bei den Tauen grad mal zwei Meter schafft und sich den Medizinball auf die Zehen schmeißt.

Der Spiegel, in den ich schaue, bekommt Risse. Oder ist es in Wahrheit die Haut, die Falten wirft?

Die jungen Autorinnen und Autoren auf der Bühne erzählen vom Anderssein, vom Sichausgeschlossenfühlen und von der Sehnsucht dazuzugehören. Wenn ich so nachdenke, kenne ich niemanden, der sich rundum geliebt gefühlt und dazu gehört hat, cool war und beim Völkerball als erstes in die Mannschaft gewählt wurde. Wo sind sie, die Menschen, die das Gefühl hatten und haben, zu entsprechen und gut genug zu sein, für das Leben und die Herausforderungen, die es uns vor die Füße knallt. Wo sind sie, die Helden und Heldinnen der Nation, die uns das Leben schwergemacht haben? Sind sie nur eine Projektion, eine Illusion?

Vielleicht ist die Welt der jungen Autorinnen und Autoren auf der Bühne gar nicht so anders als die meine.

Nur jetzt.

Samstag, 21. Mai 2016

Die Autorin in mir

Nackt, wie die Natur ihn schuf, liegt der Tag vor mir. Unberührt wie die Jungfrau Maria. Zumindest unberührt von mir, andere haben längst mit ihren Fingernägeln Spuren in seinen Rücken gekratzt und ihre Lust in seinen Leib gebohrt. Oder mit ihrer Wut dem Tag ein paar Platzwunden zugefügt.

Wenn ich im schlafwarmen Bett liege, an so einem Tag, einem Tag, wo auch der Wecker ausschlafen darf, kommen mich die Gedanken besuchen. Die Worte. Ich will sie einfangen, die Worte, mit dem Schmetterlingsnetz meiner Erinnerungen, nicht flüchten lassen, weil diese unberührten und nicht zu Ende gedachten Worte und Sätze oft wunderschön und noch nie gedacht sind. Anstatt sie einfach zu genießen und kommen und gehen zu lassen, will ich sie dem Tag entreißen, auf Papier bannen, oder auf die Tastatur. Und damit mit einem Skalpell Narben in den Tag schneiden. Sein Lächeln ist so ansteckend wie Masern, schreibe ich. Dabei hat mich niemand angelächelt, nicht einmal der Tag, weil die Rollos noch unten sind.

Die Autorin in mir geht mir manchmal gehörig auf die Nerven. Nie kann sie Dinge einfach sein lassen. Vor allem kann sie Dinge nie so sein lassen, wie sie wirklich sind. Sie ist eine erbärmliche Lügnerin, eine Mythomanin. Weil sie mein Leben in Wahrheit schrecklich langweilig findet, motzt sie meine Erlebnisse ständig auf. Tag für Tag mischt sie sich in mein Leben ein und lenkt es dadurch in andere Spuren.

Die Leser meiner erotischen Geschichten halten mich für eine hemmungslose und nicht satt zu bekommende Liebhaberin, die feucht wird, sobald sie von seinem ansteckenden Masernlächelnvirus infiziert wird. Von einer Femme Fatal, die alle Stellungen des Kamasutras nachturnen kann, dabei unendlich geil ist. Die dreht sich nicht einfach um und sagt: „Heute nicht.“ Oder „dies Woche nicht“. Oder so.

Die Autorin in mir bastelt so lange an alltäglichen Ereignissen herum, bis sie ihr spannend genug erscheinen. Aus dem Meerschweinchen, das mein Mann für die Kinder gekauft hat, wird erst ein Chihuahua, auf den die Kinder allergisch sind, später ein hässlicher Nacktmull aus der Familie der Sandgräber, der der Star der Geburtstagsparty ist und den die Kinder in allerlei Puppenkleider stecken. Bis die explodierende Eistorte serviert wird.
Durch die Intervention der Autorin in mir wird aus dem Nacktmull ein zahmer Tiger und als auch der nicht mehr spannend genug ist ein an der Pfote verletzter, mohnsüchtiger Elefant, der geliefert wird, als mein Mann grad nicht da ist.

Wäre ich bei der Wahrheit geblieben, hätte mein Mann einfach Katzenfutter gekauft. Aber wen interessiert das? Und das ist alles, was die Autorin in mir will, interessant, skurril, schräg, spannend zu sein. Die Leute wollen unterhalten, abgelenkt und berührt sein, flüstert sie mir ins Ohr. Einen langweiligen Alltag haben sie selber. O.k., nicht so langweilig wie deiner, aber bitte...
Danke.

„Kannst du jetzt bitte mal ganz still sein und mir nur zuhören?“, bitte ich die Autorin in mir am Abend, als der Tag, zerfurcht, gelebt und zerschunden neben mir liegt und stöhnt. Aus Erschöpfung, nicht aus Lust.

Sie hört zu. Und ich erzähle von meinem Tag. Von der Arbeit im Büro, meinem Besuch im Heim bei dem zahnlosen 80jährigen, der möchte, dass sich seine Mama um ihn kümmert. Von der Stimmung im Büro, die zum Schneiden ist. Davon, dass ich den E-Reader umgetauscht hab, weil der Akku nur mehr ein paar Stunde hielt. Vom Theaterworkshop und dem Stück, in dem ich eine alte Dame namens Adelheid spiele, die Mein Kampf liest sich den Dolferl zurückwünscht.

„Und, wo ist da die Pointe?“, fragt die Autorin in mir mich. Hm.
„Da ist keine“, gebe ich zerknirscht zu, „weißt du, das Leben ist nämlich kein Witz.“
„Du könntest aber eine Messerstecherei im Büro anzetteln, der 80jährige könnte 123 und der älteste Bewohner der Welt sein, der vom zweitältesten vergiftet wird, weil der selbst gern der älteste Bewohner wäre, du könntest den E-Reader auf dem Kopf der Verkäuferin zertrümmern und Adelheids Hund könnte Blondi heißen. Sowas würden die Leute gerne lesen, verstehst du?“

„Ja. Eh. Ich bemüh mich“, sag ich und denke: „Scheiß Autorin in mir! Du sollst dich nicht ständig in mein Leben mischen. Lass mich doch einfach mal in Ruhe!“

Montag, 16. Mai 2016

Mehr Licht

Warum träume ich jetzt, wo meine Tochter zu denen Dänen geht, so viel von meiner eigenen Mama? Vielleicht hat das etwas mit einer Verbundenheit über Generationen zu tun, die weder der Tod noch Grenzen auflösen können, was weiß ich? Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Thema grad Abschied lautet und ich keine Gelegenheit hatte, mich von meiner Mutter zu verabschieden, bevor der Berg sie abgeworfen hat.

Das einzige Bild im Kopf, das ich von meiner Urgroßmutter habe ist das, als sie bleich und tot im Sarg lag. Im Sarg liegt man ja meistens bleich und tot, aber diese Erfahrung hatte ich damals noch nicht, als kleines Kind. Es war meine erste Erfahrung mit dem Tod.
Meine Großmutter - die Schneebergoma (sie arbeitete bis zu ihrem 70. Geburtstag am Schneeberg) - stand am Sarg und kämmte ihr langes, weißes Haar. Ihr eigenes, nicht das der Urli. Es war das einzige Mal, dass ich gesehen habe, dass sie ihr Haar offen trug.
Als meine Urgroßmutter starb, fühlte ich keine Trauer. Nur einen muffigen Geruch. Die Erwachsenen benahmen sich sehr seltsam, leise und unecht.

Die Schneebergoma sagte - viele Jahre später - vor ihrem Tod zu mir: „Du hast es auch nicht leicht im Leben, Barbara.“ Ich weiß nicht, was sie gemeint hat, ich war jung, hab studiert, gelebt, gefickt, geträumt... Und diese Worte fallen mir immer wieder ein. „Du hast es auch nicht leicht im Leben, Barbara.“ Gut, wer hat es schon wirklich leicht im Leben. Nicht mal das Leben hat es leicht mit uns. Trotzdem. Diese Worte haben sich eingebrannt in meinen Kopf. War sie verwirrt und wusste nicht, was sie sagt? Hat sie etwas gespürt, was ich nicht wusste?
Immer noch warte ich darauf, dass die Prophezeiung der Schneebergoma sich erfüllt und ich es schwer haben werde.

Letzte Worte bleiben uns oft im Gedächtnis. Vor allem, wenn wir in dem Moment, wo sie ausgesprochen werden, den Hauch einer Ahnung haben, dass es die letzten gewesen sein könnten.
Bei meiner Mama habe ich nichts geahnt, darum weiß ich auch nicht mehr, was sie als letztes zu mir gesagt hat. Vermutlich hat sie mir von einer Bergtour erzählt, ihrer vorletzten, vermutlich hat sie das Gespräch mit „Bussi an die Kinder“, beendet. Und ich mit „Bussi an Papa.“

Wären unsere letzten Worte an Menschen anders, wenn wir wüssten, dass sie die letzten sind? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich würden wir nicht sagen: „Vergiss nicht wieder die Bananen fürs Müsli“ oder „ich hätte am Abend gern was Gemüsiges“ oder „viel Spaß in der Arbeit!“
Vielleicht würden wir uns verkrampft bedeutungsschwangere letzte Worte abringen, wie Churchill („Es ist alles so langweilig“) oder Tschechow („Ich habe lange keinen Champagner mehr getrunken“). Oder ein verwundertes „Was ist denn mit mir geschehen?“ seufzen wie Sisi.
Wahrscheinlich würde uns das aber in dem Moment nicht einfallen und wir würden nur ein plattes „Ich liebe dich“ zustande bringen. Oder ein „Pass auf dich auf!“
Unsere Gegenüber würden „jaja“ murmeln oder „ich dich auch“ und sonst wäre alles wie immer. Oder sie würden innehalten ob der ungewohnten Liebeserklärung und sagen: „Alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, ja, aber vielleicht sterbe ich heute. Da wollte ich es einfach noch mal gesagt haben.“

Vielleicht ist es gut so, dass wir meistens den Zeitpunkt unseres Todes nicht kennen und unsere Lieben nicht mit kryptischen Aussagen wie „Du hast es auch nicht leicht im Leben“ verunsichern und sie sich für den Rest ihres leichten Lebens fragen müssen, was da noch Schweres auf sie zukommt.

Vielleicht lassen sich das Leben und der Tod mit einem „Bring den Wagen in die Werkstatt. Bussi, Baba“ leichter ertragen.

Samstag, 31. Januar 2015

Besuch

Da ist sie wieder, die Traurigkeit. Ich hab sie lang nicht gesehen, und ich muss ehrlich sagen, ich freu mich nicht besonders über ihren Besuch, sie ist kein sehr geselliger und fröhlicher Gast, sondern sitzt mit depressivem Gesicht da und nagt lustlos an meinem Selbstwert. Sie hat die Selbstzweifel an der Hand, als ich sie die Einfahrt runterkommen sehe. Ich sperre die Tür zu, wie bei den Heiligen Drei Königen, damit die nicht singen. Die Traurigkeit kann aber eh nicht singen, nur jämmerlich jaulen und jammern.
Dann lese ich in einem klugen Ratgeberbuch, dass ich sie hereinlassen und bewirten soll wie einen guten Freund, weil sie auch zu mir gehört, wie die Lust und das Lachen. Und dass sie sowieso kommt, und wenn ich nicht aufmache, schlägt sie eben ein Fenster ein. Also öffne ich zähneknirschend. Mit matschigen Schuhen, die sie sich nicht einmal abstreifen, kommen sie herein, Traurigkeit und Selbstzweifel, ohne zu grüßen. Geschenk haben sie auch keines mit. Von wegen gute Freunde. So benehmen sich gute Freunde nicht. Meine jedenfalls nicht. Die bringen Champagner mit und gute Laune.
„Bring es hinter dich“, sage ich mir und schenke ihnen Rotwein ein, aus der Flasche, die seit einer Woche offen auf dem alten Ofen steht. Die Traurigkeit verzieht das Gesicht, die Selbstzweifel trinken aus der Flasche. Mich fröstelt, ich ziehe die Weste fester zu.
„Und jetzt?“, frage ich, weil die beiden dunklen Gesellen nur da sitzen und nichts sagen. „Spielen wir wenigstens was?“
Sie schütteln überheblich den Kopf. Die Traurigkeit legt sich mitsamt ihrer dreckigen Schuhe auf das Sofa. Nein!, schreit alles in mir. Nein, sag mir jetzt nicht, dass du gekommen bist, um zu bleiben.
Ich flüchte mich in meine Kopfhöhle im Wald. Dorthin ziehe ich mich immer zurück, wenn mir die Welt zu schnell, zu laut, zu bedrohlich wird. In ihrer Mitte brennt ein Feuer, in einer Felsnische ist meine Schlafstatt, mit Fellen bedeckt. Hier fühle ich mich sicher und stark, und ein schwarzer Panther bewacht den Eingang.
„Und? Müsst ihr nicht bald gehen?“, frage ich nach Tagen, als von meinem großen Vorrat Selbstwert nur noch ein kleines Häufchen übrig ist und die Schalen auf dem Boden verstreut sind. „Was hab ich denn getan, verdammt noch mal, dass ihr euch hier breit macht?“
Es klopft. Ich ziehe den Vorhang zur Seite und schaue, wer draußen ist. Vielleicht die Lebensfreude, die diese beiden Spießer auf meinem Sofa hochkant hinausschmeißt. Ich zucke zusammen.

Vor der Tür stehen Schuld und Scham.

Samstag, 17. Januar 2015

Die Wörter sind weg

Manchmal fehlen mir die Wörter. Nicht, weil ich so entzückt bin oder so erschüttert oder weil etwas so wunderschön oder verblüffend ist, dass ich wortreich erzähle, dass mir ob dieser Schönheit oder Verblüffung die Worte fehlen, obwohl sie da sind, sondern in ganz alltäglichen Situationen. In Situationen, die weder schön noch verblüffend sind. Das macht mir Angst.
Natürlich sind nicht alle Wörter weg, sondern nur die, die die ich gerade verwenden will. Ich krieche dann auf allen vieren in meinen verstaubten Hirnkammern herum und suche sie im Lurch, die Wörter, und manchmal auch die Zahlen. Telefonnummern oder Geheimcodes. Oft finde ich zwar welche, aber nicht die richtigen, manchmal sind diese Passwörter oder Pins längst abgelaufen und die Wörter falsch, obwohl sie eigentlich richtig sind. Sie sind nur an der falschen Stelle.
Als ich letztens die Küche ausgemalt habe, habe ich zu meinem Mann gesagt: „Reich mir mal die Diskussionsfarbe.“ Und zu meinem Kind: „Vergiss nicht, die Butter in den Geschirrspüler zu tun.“
Die gleiche Mail beantworte ich zum dritten Mal. Jedesmal ein bisschen anders. Ich tröste mich damit, dass meine Festplatte einfach zu voll ist und da schon mal was verloren gehen kann, aber es beunruhigt mich, wenn mein Arbeitsspeicher nicht darauf zugreifen kann. Erleichtert bin ich, wenn ich merke, dass es anderen Menschen auch so geht, und zwar Menschen in meinem Alter, nicht nur meinen dementen Klienten.
Sie wie ich verwenden viel Energie dafür, andere nicht merken zu lassen, dass wir uns nicht mehr alles merken. Das verbindet uns.

Frau W. zum Beispiel (wir tun jetzt bitte einfach so, als würde ich Frau W. ausschließlich aus Gründen der Anonymisierung Frau W. nennen und nicht, weil mir ihr Name nicht einfällt) unterhält sich hauptsächlich in Sprichwörtern und Redewendungen. Wenn ich sie frage, ob sie mit mir ins Kaffeehaus geht, sagt sie „Ach, einen alten Baum soll man nicht verpflanzen“, wenn sie auf die Baustelle schaut, kichert sie und sagt „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein", sie sagt „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ oder, wenn ich sie frage, ob das Apfelmus schmeckt, „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
Manchmal sagt sie aber auch so kluge Sachen wie „Ich hab mein ganzes Leben lang Erinnerungen gesammelt, fürs Alter. Jetzt bin ich alt und finde sie manchmal nicht mehr. Ich glaube aber, ich zehre noch immer davon.“
„In Ihrem Alter darf man schon mal was vergessen“, sage ich laut und füge leise hinzu: "Aber in meinem noch nicht."
Ich soll nicht merken, dass sie sich nichts mehr merkt. Und so werden aus Menschen „der Dings“ und aus Dingen „das Dingsbums“, weil die Wörter sich einfach aus dem Staub gemacht haben. Beide tun wir so, als würde sie nicht längst gemerkt haben, dass ich gemerkt habe, dass sie sich nichts merkt.

Herr K. wiederum (ich könnte jetzt natürlich so tun, als würde ich Herrn K. ausschließlich aus Gründen der Anonymisierung Herrn K. nennen und nicht deshalb, weil mir sein Name nicht einfällt), also Herrn K. fehlen nicht nur die Wörter. Ihm fehlen auch die Bilder. Er blickte in den Spiegel und erschrak fürchterlich. Das kennen wir bestimmt alle. Herr K. aber dachte nicht „was hast du für ein versoffenes, faltiges Gesicht“, sondern rief die Polizei an. „In meinem Badezimmer ist ein Einbrecher“, flüsterte er in den Hörer, „oder ein Untermieter, ich weiß nicht.“
„Wir kommen“, sagte der Polizist. Zumindest beim ersten Anruf.
„Wie hat er denn ausgesehen, der Einbrecher?“, fragte der Polizist wenig später an dem alten Küchentisch.
„Wie ich“, sagte Herr K., „nur älter. Da war noch ein Herbert, verstehen Sie?“

Ich selbst ertappe mich auch dabei, dass ich – wenn ich über unseren Zivildienstleistenden erzähle – „unser Zivi“ sage, weil mir zwar die Namen der letzten fünf Zivis einfallen, nicht aber der des aktuellen. Ich ertappe mich dabei, dass ich immer öfter auf „Passwort vergessen?“ klicke.
„Älter werden tut nicht weh“, lüge ich meine Freundin an. Ich verschweige, dass die Haare, die Haut und die Knorpel in den Gelenken dünner, die Brillengläser und der Bauch dicker und nicht nur die Sprüche trockener werden. Ich wünsche mir die Hormone aus der Gattung der Lepidoptera zurück, die schwirrenden Schmetterlinge, die den Frühling ankündigen. Aber das Leben ist kein... kein... Wunschkonzert.
Laut Heisenberg (den hab ich gegoogelt, mir ist sein Name nicht eingefallen) folgt die Aufmerksamkeit der Energie. Meine Freundin, die... Dings... sagt: Die Energie geht immer zum Leck. Die Zunge sucht immer die Lücke im Zahn und findet sie.
Weil ich meinen Fokus beruflich so oft auf dieses Thema, auf die Lücken, lenke, beschäftigen sie mich auch bei mir selbst. Vielleicht beschäftigt der körperliche und geistige Verfall aber auch Leute, die Blumen binden, die wenige Tage später verwelken oder Mechaniker, die rostige Autos reparieren.


Älter werden tut gar nicht weh. Wir werden nur schöner und begehrenswerter und reifer und erfahrener und klüger.
Das ist gelogen, aber die Wahrheit kennt ihr vermutlich ohnehin. Nämlich, dass Älterwerden nichts für Weicheier ist.

Was wollte ich noch mal sagen? Ah ja. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.

Donnerstag, 18. Dezember 2014

Die „Keimzelle des Staates“ oder „Was da so keimt“

Weihnachten.. Friede. Freude. Vanillekipferl. Besinnlichkeit. Zeit für die Familie. Pustekuchen. Außendienst.

Frau Sch., 93 Jahre alt, lebt seit ein paar Monaten im Heim. Wohl fühlt sie sich da nicht. Bei der Tochter und dem Schwiegersohn hat sie sich aber auch nicht wohl gefühlt. Den Schwiegersohn hat sie einmal angezeigt, das kann er ihr nicht verzeihen. „Meine Schwiegermutter ist eine böse Frau!“, sagt der Schwiegersohn. Über die zweite Tochter sagt Frau Sch., die in der Schraubenfabrik gearbeitet hat: „Die ist ein Muster ohne Wert!“

Schnitt

Herr Z. ist auch schon über 90. Er hat keine Familie mehr. Ob das ein Glück ist oder nicht, kann man nicht sagen. Er lebt im Haus eines Bekannten, der gut zu ihm ist. „Er war immer total sparsam“, erzählt dieser. Seit er eine Haushaltshilfe hat, die ihm beim Aufräumen und beim Duschen hilft, sind € 20.000,- vom Sparbuch verschwunden. „Ich hab ihr wohl zu unrecht vertraut“, sagt Herr Z.

Schnitt

Frau P. ist 91, sie lebt gemeinsam mit ihrem 60jährigen Sohn, der eine Behinderung hat, in einem verrußten, kleinen Häuschen. Sie ist zwar Sachwalterin von ihrem Sohn, kennt sich aber selbst nicht mehr so gut aus. Einmal im Monat kommt der Enkelsohn, angeblich ein Spieler. Frau P. hebt ihre Pension ab und gibt sie ihm zum Einkaufen. Es sind allerdings keine Einkäufe da.

Schnitt

Frau O. ist noch jung, erst 75. Sie ist - laut Angabe der Behörde - „sprachgewandt, unkooperativ und eigensinnig“. Vielleicht wird man das auch einmal von mir behaupten. Was ist das Gegenteil von eigensinnig? Fremdsinnig. Ihre Tochter ist gestorben.
„Ich bin nur noch zu Weihnachten da, und dann bin ich weg!“, schreit ihr Sohn. Er mache viel für die Mutter, sagt er, aber sie sage nicht einmal Danke. Das könne sie nicht. Und das Haus soll der Neffe bekommen. „Schleich dich!“, sagt Frau O., „bist eh zu nix zu gebrauchen.“
„Bevor ich einmal so werde wie du, nehm ich einen Strick und häng mich auf.“

Schnitt

Frau T. ist 77, dement und hatte einen Schlaganfall. Sie liegt im Bett und röchelt. Von 5 Kindern kümmert sich nur einer um sie. „Möchten’s tauschen?“, fragt er aggressiv, als ich ihm sage, dass ich mir die Situation ganz schön schwierig vorstelle. Ein harter Kerl, von außen. Ein wenig später beginnt er zu weinen. „Ich vertraue niemandem“, sagt er, und „ich hab keine Freunde. Meine Freunde sind die Hunde. Wenn man zu denen lieb ist, mögen sie einen, nicht so wie die Menschen.“
„Ich hab andere Erfahrungen“, sage ich.
„Dann sind Sie eine glückliche Frau“, sagt er.

Ich weiß.

Dienstag, 4. November 2014

Der Idiot

Freiheit ist das Recht, auf eigene Kosten Dummheiten zu machen. Und so, wie jeder von uns chronisch mehrfach normalen Menschen (CmnM – bald gibt es bestimmt einen ICD-Code dafür) unreflektiert und lustvoll Fehler machen darf – die falsche Frau heiraten, Schulden machen, sein Geld versaufen oder verspielen – genauso muss das auch für Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen gelten. Aber wir bevormunden sie. Bevormundung. Vor dem Mund. Bevor der Mensch den Mund aufmacht, macht sein Vertreter ihn auf. Spricht für ihn. Vertritt ihn. Tritt ihn.

Manchmal lernen wir aus unseren Dummheiten. Meistens aber nicht. Das gehört auch zur Freiheit. Menschen mit Behinderung nimmt man die Chance, aus Fehlern zu lernen – oder aber auch nicht.
Diese Menschen brauchen vielleicht ein Mehr an Unterstützung und Zeit, aber sicher nicht an Bevormundung. Anstatt dass man uns diese Zeit für die notwendige Unterstützung gibt, treibt man uns mit Leistungskennzahlen und Zielvereinbarungen in den Wahnsinn. Dabei sind diese sogenannten Vereinbarungen in etwa so freiwillig und beidseitig wie die Vereinbarung: „Wir haben ausgemacht, dass du heute endlich dein Zimmer aufräumst. Jetzt ist die Mama aber traurig.“
Weil wir nicht wollen, dass die Mama traurig ist, weil wir alle glückliche Mamas wollen, die stolz auf uns sind, räumen wir unsere Zimmer auf und erfüllen die angeordneten Zielvereinbarungen. Wir treten in die Pedale unseres Hamsterrades, damit die Mama uns liebhat. Immer kräftiger und immer schneller treten wir, schneller noch als die anderen, damit die Mama uns mehr lieb hat als die anderen. Wir blicken dabei aufs Mehr. Mehr Leistung. Mehr Geschwindigkeit. Mehr Liebe. Vor lauter Treten und Schwitzen übersehen wir, dass wir den Hamster längst zu Tode geschleudert haben. Wir meinen es doch nur gut. Wir wollen ihn doch nur motivieren schneller zu laufen, weil in unserer Gesellschaft nur mitkommt, wer fit und dynamisch ist.
Wir sind umgeben von rasendem Stillstand.

Weil wir den Anblick des toten Hamsters nicht ertragen können, baden, kämmen und föhnen wir ihn und setzen ihn zurück in den Käfig. Wir legen ihm täglich ein frisches Salatblatt hinein und wundern uns, weil er nicht fressen mag. „Na, Hansi, bist du gar nicht hungrig? Jetzt ist die Mama aber traurig.“
Wir merken nicht, dass der Hamster wir selbst sind. Unsere Ideale, die wir zu Tode getreten haben. Er konnte nicht Schritt halten mit unseren Erwartungen, unser blauäugiger, flauschiger Hamster, mit den Erwartungen der Gesellschaft an ihn. Dabei sind wir angetreten, um die Welt zu retten. Die Erde. Das Land. Die Menschen. Ein paar wenigstens. Die Wahrheit ist: Wir können uns nicht einmal selbst retten.

Jetzt liegen sie unbeweglich im Käfig, unsere Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit. Und diese Ideale, die einst so hungrig waren, so stark und kämpferisch, haben einen starren Blick und sind steif und kalt. Sie wollen unser Salatblatt nicht mehr. Da wird die Mama traurig sein.
Nicht mal, als sich süßlicher Verwesungsgeruch breit macht, nehmen wir ihren Tod wahr. Wir kriechen zu unserem Hamster in den Käfig und warten darauf, dass er wieder frisst. Wo wir uns doch so viel Mühe gegeben haben. Wir warten, dass er wieder atmet, wieder lebt. Wir warten und liegen da, erschöpft und leer, wie unser Hamster. Wir schaffen es nicht mehr, zum Kühlschrank zu gehen, um ein Bier für uns und Löwenzahn für den Hamster zu holen. Wir liegen nur da, decken uns mit Heu zu und schmiegen uns an das kalte Tier.

Wir fühlen uns wie Dostojewskis Idiot. Psychiater sollten Weltliteratur lesen statt Manualen, denken wir. Einsam und gefangen fühlen wir uns, dabei sind wir selbst es, die die Tür des Käfigs versperrt haben, um den Hamster vor der lauten Welt mit ihren unsäglichen Erwartungen und der Anforderung frei und individuell zu sein, zu beschützen. Und so leben oder schweben wir in der Blase der Idiotie, bis sie platzt. Heraus quellen eitrige, stinkende Neurosen – die Krankheit der Disziplinargesellschaft - und ansteckende Depressionen – die Krankheit der Kontrollgesellschaft. Immer tiefer gleiten wir in die Entschleunigung der Depression.

Vielleicht fühlt sich so Freiheit an? Nichts mehr zu müssen, nichts mehr zu können. Nur noch Warten.
Freiheit ist das Recht, auf eigene Kosten Dummheiten zu machen. Vielleicht können wir die Welt nur retten, indem wir sie beschützen. Vor zu viel Freiheit.

Freitag, 16. Mai 2014

Nachts im Spiegel

Nachts im Traum im Spiegel war ich wunderschön. Der Spiegel war auf einem Auge blind. Nachts sind alle Spiegel blind.
Am Morgen vor dem Spiegel bin ich blind. Mein Blick in den Spiegel ist ein liebender, annehmender, einer, der Makel verschluckt und nicht die Oberfläche spiegelt, sondern in die Tiefe geht. Der Blick ist einer, der die Erfahrung und Schönheit hinter der älterwerdenden Fassade sieht. Wenn der gleiche Blick aber Fotografien von mir sieht, oder Videos, wird er kritisch und grantig; hat an allem etwas auszusetzen und motzt blöd herum.

Wer hat Recht? Der Blick in den Spiegel, der verklärt und liebt oder der Blick auf das Foto, das für die Dauer eines Wimpernschlags das abgebildet hat, was die Kamera für Realität hält. Oder der Fotograf, der seinen Finger auf den Abzug legt. Die Kamera als Waffe. „Hände hoch, oder ich schieße ein Bild.“ Der Schuss trifft mitten ins Herz und tut weh. Weil das Selbst- und das Fremdbild immer weiter auseinanderdriften.

Gott ist es wie mir gegangen.
Vor langer Zeit musste man von ihm auch 1000 Fotos schießen, bis er sich auf einem halbwegs attraktiv fühlte, bis der Bart richtig fiel, die Schultern nicht hochgezogen waren, der Blick in die Kamera gelassen und gütig wirkte; sinnbildlich natürlich nur. Damals, als es noch Götter gab, waren weder Kameras noch Photoshop erfunden, weshalb Gott - ein Narziss vor dem Herrn– sich malen ließ. „Auf dem hier hab ich die Augen zu“, beklagte er sich, als der Maler ihm das fertige Bild zeigte, „und hier sieht man das Muttermal am Ohrläppchen, du Stümper!“ Gott wütete, zerfetzte das Bild und schickte dem Maler eine Heuschreckenplage. Er ließ einen neuen, noch besseren Maler kommen und malen. Aber auch mit dessen Bildern war er nicht zufrieden. Die Augenbrauen waren zu dicht, das Lächeln zu gewollt. Er bestrafte den Schöpfer der Bilder mit dreitägiger Finsternis. So gingen die Maler bei ihm ein und aus. So lange, bis alle biblischen Plagen erschöpft waren – und Er auch.
Er hatte es nämlich satt, Stunden, Tage und Monate lang Modell zu sitzen, liegen oder zu hängen, wenn von tausend Bildern dann doch nur eines dabei war, auf dem er sich gefiel.

Gott hat im Gegensatz zu mir aber die Konsequenzen gezogen und einfach ein Gebot in Stein gemeißelt, das den Menschen verbat, ihn zu zeichnen, fotografieren oder zu filmen. „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“

Nachts im Traum im Spiegel war ich wunderschön.

Sonntag, 2. Februar 2014

L wie Lavendel

Exkurs (Oder ist ein Exkurs, der gleich am Anfang beginnt, ein Präkurs?):
Es gibt da eine Übung, die ich in Seminaren gerne durchführe, die nennt sich ZRM. Zürcher Ressourcen Modell. Man kann sie googeln, ich werde aber kurz drüber erzählen. Mit dieser Übung kann man sich über eigene Themen klar werden, Ziele entwickeln und Ressourcen aktivieren.
Wir erreichen Ziele oft nicht, weil wir sie mit dem Verstand formulieren und nicht mit dem Bauch. Weil der Bauch sich aber so viel schneller entscheidet als der Verstand. Und weil der Verstand manchmal keine Rücksichte auf unsere wahren Bedürfnisse nimmt, der Bauch aber schon.
Die Übung funktioniert so: Jeder sucht sich eine Bildkarte aus. (Auf den Karten sind Landschaften, Menschen, Gegenstände...) Und zwar eine Karte, die für ihn ausschließlich positiv besetzt ist. Eine Karte, die zu ihm will. Die ihn berührt. Die sich gut anfühlt, körperlich. (Diesen Prozess finde ich immer lustig, weil die meisten Leute die Karten sehen und sofort auf "ihre" zustürmen. Manchmal kann man sich nicht so gut entscheiden, was aber auch o.k. ist)
Dann geht man in Gruppen zu dritt oder viert zusammen, der erste legt seine Karte in die Mitte, die anderen („Fremdgehirne“) assoziieren 4 Minuten lang zu dieser Karte, Farben, Formen, Gefühle, Gedanken (auch ausschließlich positiv, es geht schließlich um Ressourcen), einer schreibt alles mit. Aus diesen mitgeschriebenen Wörtern formuliert man dann ein Mottoziel für sich. Ein Mantra. Positiv, kurz und knackig, selbst erreichbar. (Also nicht „ich möchte, dass Kollegin S. mir nicht mehr auf die Nerven geht“)
Ich habe das letzte Mal bei dieser Übung auch mitgemacht. Meine Karte (bis dahin hat sie mich nie angesprochen) zeigte ein Lavendelfeld, und mein Motto lautete: „Ich wandere mutig und frei durch mein Lavendelfeld und spüre die Wärme“. Sogar, wenn ich das aufschreibe, merke ich, wie mir ganz warm und frei wird.
Exkurs 1 Ende.


Exkurs 2.
Bisher war mir der Lippenblütler Lavendel ziemlich egal. Ich hatte weder eine positive noch eine negative Beziehung zu ihm. Nicht einmal verwechselt hab ich ihn mit irgendetwas, wie Petersilie und Schnittlauch. Er wuchs einfach im Garten und roch gut und manchmal hängte ich ein Sträußchen in den Kleiderschrank, wegen der Motten. .

Im vergangenen Jahr fing ich an, Lavendelbrot zu backen, führte ein kleines Säckchen Lavendel, das eine Freundin mir geschenkt hatte, in meiner Tasche herum und griff zur Lavendelfeldkarte. Von den Motten zum Motto
Exkurs 2 Ende.



Jetzt kommen wir zur eigentlichen Geschichte.

Nach 19 Jahren habe ich beschlossen, dass es Zeit für neue Matratzen wird. Meine ist mir zu hart geworden oder ich ihr zu weich und empfindlich. Nun ist es ja mit Matratzen nicht so wie mit Strumpfhosen, dass man die einfach so kauft und wenn sie nicht gefällt oder passt kauft man sich neue. Oder zieht sie halt ein paar Mal an, dann erledigt sich das Problem von selbst. Matratzen sind eine Lebensentscheidung. Die Testsiegerin stöberte also im Internet, las Testberichte, die besagten, dass es auch unter den preiswerten sehr gute gab und die Entscheidung keine leichte ist. Überraschung! Rosshaarmatratzen und solche, wo man die Metallfedern im Kreuz spürte, gab es kaum noch.


„Diese hier besticht durch hohe Punktelastizität, extreme Atmungsaktivität und beste Eignung für Hausstauballergiker“, erklärte die Beraterin einem Ehepaar. „Und dieses Modell hier passt sich Ihrer Körperform an und gibt Ihnen ein Gefühl der Schwerelosigkeit.“
Ich will das auch, Schwerelosigkeit.

„Bittesehr?“ wandte sich die Bettberaterin, eine Deutsche (aber das tut nichts zur Sache) an mich.
„Nichts, nichts, ich hör einfach zu, wenn es nicht stört“, sagte ich und da es nicht störte, lernte ich alles über Memoryschaum oder viskoelastischen Schaum, 7-Zonen-Matratzen, Wellenprofil und Würfelschnitten und Geltex. Ich war völlig überfordert.

„Was suchen Sie denn?“, fragte sie mich, als sie mich Stunden später zusammengekauert weinend in einer Ecke fand.
„Eine Matratze.“
Sie lächelte lieb. „Welche Bedürfnisse soll sie denn erfüllen?“
„Na ja, sie soll so zum Schlafen sein. Zum Lesen auch. Zum Schreiben in der Früh. Hin und wieder Sex, vielleicht.“
Sie lächelte immer noch lieb. Also erzählte ich ihr, dass in letzter Zeit oft die Hüfte und das Knie schmerzte, auch nachts.

„Kommen Sie mit“, sie nahm mich an der Hand und führte mich in einen entlegenen Teil des Geschäftes. „Hier. Für Sie.“
Ich stand vor einem Bett. Über dem Bett ein riesiges Plakat mit Lavendelfeldern drauf. Ich legte mich in mein Lavendelfeld. Fühlte mich mutig und frei und spürte die Wärme.
Ich hörte nicht, was sie mir über die neue Mischpore EvO2 und die natürlichen Zusätze aus Alpenkräutern und Lavendel erzählte. Ich lag einfach da und träumte.

„Ich muss mich erst entscheiden“, sagte ich später zu ihr, als sie mir ausrechnete, um wie viel mein Budget dadurch überschritten würde, „es ist ja nicht so, als würde ich eine Strumpfhose kaufen.“ Sie lächelte immer noch lieb. „Lassen Sie sich ruhig Zeit. Die Aktion gilt bis Ende Februar.“

In Wahrheit habe ich mich in dem Moment entschieden, als ich das Lavendelfeld sah.

Schere schlägt Papier, Stein schlägt Schere, Bauch schlägt Verstand.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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