Menschen

Montag, 29. Juli 2013

Liebe Marianne,

„Mariaaanne“, so haben Sie sich am Telefon immer gemeldet, mit einem langgezogenen a in der Mitte. Sehr oft haben Sie sich gemeldet, an manchen Tagen so oft, dass ich mich gelegentlich verleugnen lassen habe. Das tut mir jetzt leid. Ich möchte Sie um Entschuldigung bitten. Der Anrufbeantworter war da wesentlich geduldiger mit Ihnen, manchmal waren am Morgen 15 Nachrichten nur von Ihnen drauf.

Vor meinem Urlaub hab ich Sie gebeten, meine KollegInnen ein wenig zu schonen und nur im Notfall anzurufen. Ich weiß nicht, ob Sie angerufen haben in den letzten beiden Wochen. Ich weiß nur, dass Sie nie wieder anrufen werden. Und ich weiß, dass ich Ihre Anrufe vermissen werde. Vor allem die, wo Sie gesagt haben: „Frau Lehner, ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Alles paletti.“

In meinem Vorzimmer hängt das Bild, das Sie gemalt und mir geschenkt haben. Ein Gesicht, mit Kohlestift gezeichnet und mit tiefroten Lippen. Ich in dunklen Gedanken versunken steht darüber. Ich habe mich sofort in dieses Bild verliebt.
Und dann ist da noch das Gedicht, das Sie mir bei einem Hausbesuch übergeben und mich gebeten haben „Frau Lehner, machen Sie was draus.“ So wurde aus Ihrem Gedicht unser Gedicht. Der Letzte, heißt es und ich finde es richtig gut.
Der Schlüssel passt nur noch ins letzte Loch,
autet eine Zeile davon. Ich musste es mehrmals ausdrucken, auf gutem Papier, und Sie haben es stolz weitergeschenkt. Mit unseren beiden Namen darunter. Das macht mich jetzt ein wenig stolz, Marianne.

Es war nicht nur die vom Gericht verordnete Arbeitsbeziehung, die uns über viele Jahre (waren es 15 oder mehr?) verbunden hat, es war auch unser gemeinsamer Hang zur Kreativität. Und dieses Nichtgenugbekommen vom Leben, von seinen Genüssen, auch wenn uns oft nicht gut tut, was uns gut tut, das ist uns auch gemein. Ich glaub, wir waren ein gutes Team. Ich glaub, Sie haben gespürt, dass ich mich immer dafür eingesetzt habe, dass Sie so leben können, wie Sie wollen.

Wissen Sie eigentlich, wie gerne ich die Geschichte erzähle, als Sie zuerst freiwillig ins Heim gezogen und eineinhalb Jahre später wieder ausgezogen sind, obwohl niemand Ihnen das zugetraut hat? Nicht die Betreuer, nicht die Ärztin, nicht die Gutachter, und ich auch nicht. Da haben Sie meinen Urlaub genutzt, um die Koffer zu packen, sich ein Taxi zu rufen, Mobile Dienste zu organisieren und noch ein paar Jahre in Ihrem Haus gelebt. Jetzt haben Sie wieder meinen Urlaub genutzt, um ein Taxi zu rufen. Diesmal saß der Tod am Steuer.

Ich muss „Fälle abbauen“ (ja, so heißt das bei uns), weil ich eine neue Aufgabe übernehme. Und für mich war immer klar, Sie kann ich nicht abgeben, Sie werde ich als Klientin behalten, bis ich irgendwann in Pension gehe.
Vor meinem Urlaub hatte ich so ein komisches Gefühl, so ein Gefühl, als könnte ich Sie womöglich danach nicht mehr wiedersehen. Obwohl ich an so etwas nicht glaube, an solche Vorsehungen, oder Vorhersehungen. Ich weiß gar nicht mehr, was wir geredet haben beim letzten Hausbesuch, aber das war auch nicht so wichtig. Weil sich das Wesentliche ohnehin wortlos abgespielt hat.

Lass es dir gutgehen da oben, Marianne. Ich wette, du wirst ständig Besuch haben, du wirst dir auch dort oben ein Netz von Menschen spinnen, die dich beschützen und umgarnen, mit dir lachen und hin und wieder mit dir schimpfen, Menschen, die du manchmal an die Grenzen des Wahnsinns treibst, weil du selbst dort zu Hause bist. Du wirst endlich Unmengen von Cola trinken und Chips essen können, ohne auf deine Figur, dein Herz und deine Zuckerkrankheit achten zu müssen. Du wirst ungeniert und grenzenlos shoppen können im Paradies und all deine Lieben wiedertreffen, die du herunten so sehr vermisst hast.

Adieu, Marianne – und wenn du mal Zeit hast, ruf mich an und erzähl mir, wie es dir geht.
Ich werde dir zuhören, ich verspreche es.

Samstag, 11. Februar 2012

Flaschenpost nach Drüben

Lieber M.,

verdammt noch mal, wann ist eigentlich morgen? Du hast nämlich gesagt: „Bis morgen“, und du bist immer noch nicht da.
Wahrscheinlich sitzt du irgendwo da oben... nein, nicht auf einem kitschigen Wolkerl, eher auf einem Berggipfel, und schaust runter zu uns. Du hast kein Kreuzweh mehr, der Zimmerman Robert singt für dich „Knocking on Heavens Door“, ein Engerl serviert dir einen Schweinsbraten und du wirst matschkern und genervt mit den Augen rollen, weil er nicht so gut schmeckt wie deiner. Vielleicht merkt der Engel dein Augenrollen ja nicht. Das hat mich übrigens oft genervt, aber jetzt werde ich es vermissen.

Neunzehn Jahre haben wir miteinander verbracht. Gemeinsam gearbeitet, gegessen, philosophiert, geredet, geblödelt, gelacht. In die Haare gekriegt haben wir uns auch manchmal, zum Glück aber immer wieder heraus. Na ja, so viele Haare hattest du ja auch wieder nicht.

Irgendwie warst du immer ungekrönter Kapitän auf unserem Schiff. Auch wenn deine Kapitänsuniform aus Cargo-Hosen, einem karierten Hemd und einer Fischerweste bestand. Du hast uns ruhig durch wilde Gewässer und Stürme geführt und uns immer das Gefühl gegeben, dass wir auf Kurs sind.

In deiner Fischerweste war alles, was du brauchtest. Die Seekarte, der Kompass, Lot, Log und das Fernglas für den Weitblick. Vor allem deine Erfahrung und die große Liebe zum Meer und seinen Bewohnern. Und am Himmel die Sterne. Die neumodischen Erfindungen und komplizierten Geräte auf der Kapitänsbrücke, die ohnehin oft nicht funktionierten, waren dir aus tiefstem Herzen verhasst. Wenigstens das bleibt dir jetzt erspart.

Dabei bist du nie gern im Mittelpunkt gestanden, im Gegensatz zu mir. Für mich hat es trotzdem nur zur Köchin in der Kombüse gereicht. Daneben lehre ich die jungen Matrosen Wetter- und Knotenkunde.
Mein Essen hat dir oft nicht geschmeckt, vor meinen selbstgesuchten Pilzen und dem Bärlauch hast du dich gefürchtet und für manche meiner Küchenkreationen warst du viel zu sehr Purist. Getrocknete Tomaten haben deiner Meinung nach in einem Faschierten Braten nichts verloren.

Wenn einer aus der Mannschaft Trost und Rat gebraucht hat, standen Türen und Ohren bei dir offen. Du hast zugehört, die Augen gerollt und geholfen. Oder „Scheiß dich nicht an“ gesagt und dadurch Probleme, die wir auf Heißluftballongröße aufgepumpt haben, wieder in ihre ursprüngliche Größe als Kaugummiblase zusammengeschrumpft. Du hast immer gemerkt, wenn es jemandem schlecht ging und warst für ihn da. Deine eigenen Sorgen hast du nie an die große Glocke gehängt, sondern dir um die Schultern gelegt. Dich hörte man kaum jammern, aber wir wissen, dass du dich oft gesorgt hast. Auch um uns.
Du warst ein großherziger und großzügiger Kapitän. Hast dich nicht nur um uns, sondern vor allem für uns gesorgt, uns mit Lachs, Gulaschsuppe und selbstgemachter Marillenmarmelade verwöhnt und beschenkt und warst immer für uns da. Was macht da schon ein Augenrollen?

„So ein Blödsinn“, hast du manchmal über unsere Ideen zur Reiseroute gesagt. Und weil du für uns eine Autorität – oder nein, ein Vorbild – bist/warst (die Vergangenheit fällt noch schwer), menschlich und fachlich, hat deine schonungslose Kritik manchmal ganz schön wehgetan. Wenigstens wusste man immer, woran man bei dir war. „Der Erdäpfelsalat schmeckt besser als er ausschaut“ war eines der schönsten Komplimente aus deinem Mund. Und eines der besten Dinge in meinem Mund war das Martinigansl, das du gekocht hast. Niedrigtemperaturmethode. Überhaupt konnte man mit dir über alles reden, über Ehe- und Geldprobleme, Politik, Paradeisersorten, Alexis Sorbas, die Weltwirtschaftskrise und die Küchenschlacht.
Wenn das Schiff auseinanderzubrechen drohte, hast du selbst Hand angelegt, Holzbohlen ausgebessert und Verbindungsrohre zusammengeschweißt. Die Mannschaft war dir immer wichtiger als die Richtlinien der Reederei.

Weißt du, ich würde jetzt auch gern „Scheiß dich nicht an!“ sagen. „Scheiß dich nicht an und mach dir keine Gedanken, wie es mit uns weitergeht.“ Aber das kann ich nicht. Ich kann dir nicht versprechen, dass wir das Schiff sicher durch die weiten Meere der Fallzahlen, des Klienteninformations-und Dokumentationssystems, Business-Banking & Co steuern werden. Wir wissen in Wahrheit nicht, wie es ohne dich weitergehen soll. Jetzt, wo keiner mehr sagen wird: "Scheiß dich nicht an." Ja, ja, roll jetzt ruhig mit den Augen.

Trotzdem. Mach dir keine Sorgen um uns. Wir werden das Schiff schon schaukeln.

Montag, 6. Dezember 2010

Altes aus der Anstalt

Heute war ich bei der Abschiedsfeier meiner ehemaligen Knastkollegin.
Deshalb dieser Brief:

Liebe M.,

als deine Kollegin mich zu deiner Abschiedsfeier eingeladen hat, da kamen sie alle wieder hoch. Alle Erinnerungen aus meiner Zeit hier, die ich zum Teil mit dir gemeinsam verbracht habe.

„Wissen Sie“, sagte der - damals - schöne ärztliche Leiter an meinem ersten Arbeitstag und ging ununterbrochen auf und ab, so dass mir fast schwindelig wurde, „das ist hier kein Knast, sondern mehr eine therapeutische Einrichtung.“ Ich nickte. „Auch, wenn das nicht alle hier wahrhaben wollen“, fügte er hinzu.
„Wissen Sie“, sagte der nicht so schöne, massige Anstaltsleiter hinter seinem massigen Schreibtisch wenige Minuten später und zwirbelte seinen Schnurrbart, „das ist ein Gefängnis. Sehen Sie mal, es sind Gitter an den Fenstern.“ Ich nickte wieder. „Auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“, fügte er auch er hinzu.
Schon damals war mir klar: Hier sind nicht nur die Insassen verrückt. Ich fühlte mich zu Hause.

„Wissen Sie“, sagte einer der Bewohner an eben diesem ersten Arbeitstag. „Ich muss Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich hab eine Rasierklinge verschluckt.“ Wenigstens fügte er nicht „auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“ hinzu.
Nun komme ich ja aus einer Familie, in der man für gewöhnlich Nudelsuppe, Schweinebraten und Topfennockerl, höchstens einmal irrtümlich einen Kirschkern schluckte. Selbst da hatte ich das Gefühl, ich befinde mich in akuter Lebensgefahr, weil Oma davon überzeugt schien, dass nun in meinem Bauch ein Kirschbaum wächst. Als Mutprobe haben wir Regenwürmer gegessen. Niemals hätten wir gewagt, Löffel oder gar Rasierklingen zu schlucken.
„Gilette oder Wilkinson?“, fragte ich deshalb ungläubig.

„Weißt du“, klärte mich die Kollegin mit der Quietschstimme über das Ungleichgewicht im Ökosystem Anstaltsbiotop auf, „eine Sozialarbeiterin gilt hier als der natürliche Feind des Justizwachebeamten. Man betrachtet uns als naive Sozialromantikerinnen und linke Gutmenschen.“
Sie hatte Recht. Ich war sozial, romantisch und links. „Was ist schlecht daran, ein guter Mensch zu sein?“, fragte ich naiv. „Wäre es besser, ein schlechter zu sein?“

Ich hatte viele Fragen in meiner Anfangszeit: „Wie kann ich die Patienten von den Pflegern, Therapeuten und Psychiatern unterscheiden?“, flüsterte ich ihr zu, denn für mich wirkten alle ähnlich irre.
„An den Schlüsseln“, sagte sie, „ausschließlich an den Schlüsseln. Je größer der Schlüssel, umso wichtiger fühlen sie sich.“ Ich grinste. Das war nicht nur mit Schlüsseln so.
„Und was mache ich, wenn der Kerl, der die Frauen von hinten erschlagen hat, in meiner Nähe ist?“
„Geh einfach nie vor ihm.“

Die Zahl meiner natürlichen Feinde in der Anstalt wuchs von Tag zu Tag.
Als die Vergangenheit von Waldheims Ross in der SA bekannt wurde, trugen linke Gutmenschen wie ich als Zeichen ihrer Verachtung einen Sticker mit dem durchgestrichenem Buchstaben W.
„Frau Fallnbügl bitte dringend in die Anstaltsleitung kommen“, tönte es aus den Lautsprechern, kaum hatte ich die Schleuse passiert.
„Ich dulde politische Äußerungen in meiner Anstalt nicht“, polterte der Leiter. „Nehmen Sie diesen Anstecker sofort ab.“
„Wieso politisch?“ schaute ich ihn rehäugig an. „Ich bin gegen das Waldsterben. Sie etwa nicht?“
Als ich nach einem Außendienst erst später als üblich kam, bekam ich zu hören: „So gut möchte es mir auch einmal gehen, dass ich erst zu Mittag da eintrudle.“
„Hättet’s halt auch etwas gescheites gelernt“, schnappte ich, dabei hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, tatsächlich etwas gescheites gelernt zu haben.

Oft liefen mir die Tränen über die Wangen, nachdem ich am Abend die Anstalt verlassen hatte. Aber immer erst draußen, drinnen nie. Die sollten nicht sehen, wie schwach ich mich fühlte. Die sollten denken, ich wäre so stark, wie ich mich gab.
Schließlich musste ich etwas beweisen. Meinem Vater, vor allem aber mir selbst. Heute denke ich, dass es völlig verantwortungslos ist, junge Sozialarbeiterinnen ohne Berufserfahrung hier arbeiten zu lassen. Damals wollte ich kämpfen. Damals habe ich gekämpft. Sogar vor Gericht bin ich gezogen, weil ich überzeugt davon war, dass mir für meine Arbeit die Gefahrenzulage zusteht.

Ich habe viel gelernt in diesen Jahren. Über Menschen, vor allem aber über den Umgang mit der Macht. Darüber, dass man Ideale nicht über Bord werfen darf, nur weil man Gegenwind spürt. Auch wenn man weiß, dass man in solchen Systemen nur schwer etwas verändern kann.
Ich erinnere mich noch an eine Arbeitsgruppe zum Strafvollzugsgesetz. „Die Insassen sind mit Sie und mit Herr und Frau vor ihrem Namen anzusprechen“, haben wir ins Gesetz hineinreklamiert. Heast Deppada, oder im besten Fall Heast Oida schienen uns nicht angemessen.
Wir fühlten uns wie Revolutionärinnen.

Einmal wurde ich auf dem Nachhauseweg von der Polizei verfolgt. Mit Blaulicht. Nein, nicht wegen des Anti-Waldheim-Waldsterben-Stickers. Auch nicht wegen Schnellfahrens. Ich hatte selten Autos, mit denen man zu schnell fahren konnte. Ich hatte vergessen, den Anstaltsschlüssel abzugeben.

Kollegen und Kolleginnen kamen und gingen. Manche Kolleginnen heirateten sogar Insassen.
Du kamst und gingst nicht. Während ich wütend war und verzweifelt, zornig und traurig, dann warst du nach außen hin immer gelassen, geduldig und ruhig. Das hab ich an dir bewundert. Deine Kraft war nicht laut und polternd wie bei mir, sondern eine leise und stille Kraft. Eine, die vor allem durch ihre Sanftheit so stark war.
Bei dir hatte man nicht das Gefühl, dass du jemandem etwas beweisen musst, obwohl es wahrscheinlich auch so war. Wahrscheinlich mussten wir alle ständig etwas beweisen. Wer sonst arbeitet freiwillig mehr als zwanzig Jahre in einem Haus voller Verrückter.

Es sind viele Erinnerungen geblieben aus der Zeit. Vor allem aber drei Menschen, die mir immer noch sehr, sehr wichtig sind. Die Ergotherapeutin, du und mein Mann.
Vor ein paar Jahren hat meine Tochter in einem Schulaufsatz über mich geschrieben: Meine Mama ist Sachwalterin. Sie kümmert sich um behinderte Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. Vorher war sie dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Dort hat sie meinen Papa kennengelernt. Seit damals behandelt die Lehrerin sie sehr respektvoll.

Ja, ich hab Erfahrungen und Narben davongetragen aus der Anstalt. Und sogar mein Sohn hat eine Narbe auf der Stirn, und kann mal erzählen, dass er sich die im Gefängnis geholt hat. Er war ein Jahr alt, als er bei der Weihnachsfeier mit dem Kopf gegen das Podium gekracht ist und genäht werden musste.

Danke für deine Freundschaft. Danke, dass du für mich da warst, als es mir schlecht ging. Da kamst du mit zwei riesigen vollgefüllten Billa-Sackerln, weil du wusstest, dass wir keine Kohle hatten. Vor allem aber kamst du mit deinem großen, offenen Herzen. Mit deinem Herzen, das die Menschen einfach so nimmt, wie sie sind. Auch wenn wir uns nicht oft sehen, fühle ich mich dir nahe. Danke, dass du immer noch eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielst.

Jetzt ist es an der Zeit, dass du in deinem Leben die Hauptrolle spielst. Lass es dir gut gehen in der Pension. Schau auf dich. Scheiß auf den Seniorenteller und auf halbe Portionen. Gönn dir, was dir zusteht. Das pralle Leben.

Montag, 15. Juni 2009

Elfriede

„Haben Sie die WM verfolgt? War das geil, nicht wahr?“
Es war der Sommer 2006, es war in Berlin. Und es waren die ersten Worte, die Elfriede an mich gerichtet hat.
Die Worte an und für sich fand ich ja nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich fand ich nur, dass sie aus dem Mund einer damals 84-jährigen kamen.

Am Wochenende hab ich Elfriede wieder gesehen. Sie ist jetzt – bingo! – siebenundachtzig. Ihren Freund von damals hat sie immer noch. Aber vom Zusammenziehen hält sie nichts. „Da geht man sich nur auf die Nerven", sagt sie aus Erfahrung, und: "Ich brauch meine Freiheit, weißt du?" Ich weiß. Mittlerweile sind wir natürlich längst per Du, denn ich hab die Frau – und ich glaub, auch sie ein bisschen mich – ins Herz geschlossen. Sie lacht verschmitzt, sie weint, weil sie so gerührt ist über die Hochzeit ihres Enkelkindes, sie wirkt lebendiger als manch 20-jährige auf dem Fest.

Im Alter von siebzig hat sie den Führerschein gemacht, weil die Freiheit - Elfriede ist aus Thüringen, in der ehemaligen DDR - ihr so wichtig ist.
Nicht nur mit mir ist sie auf Du und Du, sondern auch mit der Technik. Digitalkamera? Aber natürlich. Mit Fotos auf Papier kann ja heutzutage keiner mehr was anfangen. Nur über die winzige Schrift in der Bedienungsanleitung hat sie sich geärgert.
Internet? Selbstverständlich. Dort hat sie ja ihren Freund kennengelernt, im Chat. Elfriede hat ein bisschen geschummelt und sich im Chatraum „70+“ registriert, dabei war sie damals schon über achtzig. Aber auch der „junge Mann“, den sie dort aufgerissen hat, hat geschummelt, er ist zwei Jahre älter als sie.

Für die Hochzeit ihres Enkelkindes, der ihr beinahe wie ein eigenes Kind war und bei ihr aufgewachsen ist, hat sie Fotos aus seiner Kindheit auf eine CD gebrannt und die CD schön bedruckt. „Da hab ich mir extra einen Brenner gekauft, der das kann“, erzählt sie, „weil wenn man die beklebt, das ist ja nicht so gut für die Scheiben. Und die alten Bilder hab ich eingescannt und im Photoshop bearbeitet.“

Es ist schon weit nach Mitternacht, als Elfriede sagt: „Weißt du, es ist ja nicht so, dass mir nix weh tut. Manchmal ist es ganz schön schlimm, wenn der Körper nicht mehr so will wie der Geist. Vor ein paar Wochen war ich in Polen, an der Ostsee, das war ziemlich anstrengend. Es gibt Momente, da wünsche ich mir, ich würde den körperlichen Verfall geistig nicht mehr so mitkriegen.“ Ich möchte Elfriede an mich drücken, und ich tu es auch. Sie hält meine Hand. „Andererseits würde ich auch nicht tauschen wollen. Und das Jammern, das bringt einen sowieso nicht weiter. Das macht alles nur noch schlimmer.“ (Elfriede, könntest du das bitte unserer Sekretärin erzählen?)

„Gibst du mir noch deine E-Mail-Adresse?“, fragt Elfriede zum Abschied und ich drücke sie noch mal an mich. Hoffentlich nicht das letzte Mal.

Freitag, 27. Juli 2007

Martha

Martha sagt, was sie denkt. Und Martha denkt viel. Sie nimmt ihre Tasse Tee und setzt sich von den älteren Herrschaften weg an den anderen Tisch. „Das ist ja nicht auszuhalten, die reden nur über Krankheiten.“
Sie selbst diskutiert gern über deutsche Lyrik und Geschichte, denn Martha ist Germanistin und Historikerin. Als ich ein Foto von meiner Freundin in der Abendsonne mache, stellt sie fest: „Na ja, in der Abendsonne ist jeder schön.“ Dann begutachtet sie mein Handy, ist erstaunt darüber, dass man damit sogar fotografieren kann, findet das genial und und beschließt, sich auch so ein Teil zuzulegen.

Ihr Vater war eine der herausragendsten Persönlichkeiten der österreichischen Fußballgeschichte, erzählt sie beiläufig. Im Alter von 55 Jahren ist er an einem Herzinfarkt gestorben. „Kein Wunder, der hat ja ständig geraucht.“ Martha zündet sich die nächste Zigarette an. Sie selbst ist gesund. „Na ja, Leistungssport kann ich mit meinem Knie nicht mehr ausüben“, meint sie, die Turmspringerin und Kraulerin war „aber muss ja nicht unbedingt sein.“

Martha liebt ausgefallenen Schmuck, deshalb ist sie hier, denn sie gestaltet und macht ihren Schmuck selbst. Schmuckstücke von der Sorte, bei denen meine Oma entsetzt aufgeschrieen hätte: "So etwas kann man sich doch nicht um den Hals hängen!" Sie fertigt einen originellen Handschmuck und hasst alles, was konservativ und allzu gleichmäßig ist. Langeweile verabscheut sie. Langeweile kommt auch nie auf, wenn Martha in der Nähe ist.
Ihren trockenen Lippen entschlüpft immer ein ebenso trockener Spruch. Als Roswitha, die bald 80 wird, beim Abendessen erzählt, dass sie zehn Geschwister hat, ruft Marhta: „Ich bin entsetzt! Dein Vater ist ein rücksichtsloser Mensch. So etwas kann man einer Frau doch nicht antun.“
Martha ist 89.
Sie war schon öfter hier, hat Steine geschliffen, Schmuck gefertigt, getöpfert und gemalt, doch irgendwie ist alles neu für Martha. Jeden Tag. Als sie am dritten Tag gefragt wird, wie es ihr im Kurs gefällt, antwortet sie: „Woher soll ich das wissen? Der Kurs fängt ja erst an!“

Martha weiß zwar nicht genau, wo sie ist und mit wem, sie weiß nicht, welcher Tag heute ist und wahrscheinlich auch nicht, welches Jahr, aber mit Feuereifer sägt, schleift und lötet sie. Als die Fassungen für den teuren Labradorit und das Ebenholz nach zwei Tagen Arbeit, viel Schweiß und einigen Missgeschicken endlich fertig sind, fehlen die Steine. „Welche Steine?“, fragt sie erst verwundert, erinnert sich dann aber: „Ich hab sie in ein Röhrchen gegeben.“ Sie weiß aber nicht, in welches und wo dieses Röhrchen sein soll. Dann lümmelt die sonst so lustige Martha verzweifelt an ihrem Arbeitsplatz, kramt in der riesigen Tasche mit den vielen Plastiksackerln und sagt: „Vielleicht hat jemand anderer sie eingesteckt.“ Um schnell hinzuzufügen: „Nicht absichtlich, natürlich, das behaupte ich ja nicht. Zufällig eher.“ Ihren Zimmerschlüssel sucht Martha auch immer, aber das wissen wir mittlerweile alle, dass der an ihrer Brust baumelt. Dorthin haben wir ihn am ersten Abend nämlich gehängt.
Wir helfen Martha, neue Steine und neues Ebenholz für die Fassungen zurechtzuschleifen und anzupassen. Am nächsten Tag wird sie vergessen haben, dass sie den Labradorit gekauft und verlegt hat und wieder glücklich sein.
„Jetzt muss die Silberplatte in die Beize“, erklärt die Kursleiterin und Martha fragt zum siebenundvierzigsten Mal: „Wo ist die Beize?“
Einmal sitzt Martha an meinem Arbeitsplatz. „Martha, du bist falsch hier“, mache ich sie behutsam aufmerksam, „das ist mein Platz.“
„Ich weiß“, sagt sie, „aber das Schmuckstück hier ist wenigstens schon fertig.“

Von Tag zu Tag schließe ich die Frau mehr in mein Herz. Ich weiß nicht, ob Mitleid angebracht ist, denn Martha scheint gar nicht zu leiden, oder nur sehr selten. Sie freut sich jeden Tag an der schönen Landschaft, murmelt: „Hier war ich noch nie!“ und „so etwas Wunderbares hab ich noch nie gesehen“, sie bringt uns zum Lachen und lacht selber mit, wenn sie zur Wirtin, mit der sie seit zwanzig Jahren per Du ist, sagt: „Ich glaube, ich habe Sie schon irgendwo gesehen, ich kenne Sie flüchtig.“

In meinem Auto bewundert sie die vielen bunten Lichter und erzählt, dass sie bis vor drei Jahren selbst gefahren ist. „Sie haben mir den Führerschein weggenommen“, beklagt sie sich, „dabei bin ich nur gegen die Einbahn gefahren. Gut, ich hab das Schild nicht gesehen, aber es kam ja gar nichts entgegen. Deshalb hätten sie mir doch nicht gleich den Schein wegnehmen müssen. Die haben nur irgendeinen Vorwand gesucht.“ Wäre ihr dieses Missgeschick nicht passiert, Martha würde immer noch Auto fahren.
Vielleicht ist es gut, dass sie das nicht mehr tut.

Heute Nachmittag habe ich mich von Martha verabschiedet. Mit einer liebevollen Umarmung. Ich weiß nicht, ob ich sie je wiedersehen werde. Aber in meinem Herzen, da werde ich sie behalten. Sie und das Flackern in ihren Augen, wenn sie – als ich mit frisch gewaschenen und gestylten Haaren zum Essen komme - sagt: „Deine Halskette ist wirklich ausgesprochen toll. Wenn du dich jetzt auch noch frisieren würdest!“

Donnerstag, 14. Dezember 2006

An meine Freundin

„Manisch-depressiv“ lautet die Diagnose und zum Glück gilt sie nicht mir. Ich bin höchstens „damisch-menstruativ“, periodisch. Zum Pech gilt sie dir, vielleicht ist das aber gar kein Pech.
„Glaubst du auch, dass ich manisch-depressiv bin?“, fragst du.
„Ja.“
„Seit wann?“
„Wie lange kennen wir uns schon?“

Nimm bitte diese verdammten Pulverl, denke ich mir. Oder hab ich es laut gesagt? Nein, es geht mir nicht nur um dich. Auch um mich. Ich will dich nicht mehr so leiden sehen. Und ich will nicht mehr sehen, wie du regelmäßig abhebst und dir die Flügel brichst.
Du hast Angst, dass du nicht mehr kreativ arbeiten kannst, wenn sie dir mit den Medikamenten die Spitzen und die Tiefen wegsägen.
„Und jetzt, jetzt kannst du arbeiten?“, will ich wissen, „jetzt, wo du es nur mit Mühe schaffst, das Bett zu verlassen und Brot und Butter zu kaufen?“
Ich kann Beruf und Freundschaft gut trennen, normalerweise. Jetzt nicht. Jetzt brauchst du nicht nur eine Freundin, die dir zuhört und dich versteht, jetzt brauchst du Hilfe. Ich riskiere unsere Freundschaft, überschreite Grenzen, nehme dich an der Hand und begleite dich zur Ärztin. Es ist mehr ein Schleppen als ein Begleiten, wenn ich ehrlich bin.
Manisch-depressiv. Ein Stempel. Aber mehr Stempel als „völlig durchgeknallt“? Mehr Stempel als himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt? Rennen wir nicht alle mit unseren Stempeln durchs Leben?
„Hab keine Angst“, sage ich, obwohl ich weiß, dass du große Angst hast. Ich ja auch. Die Medikamente heilen dich nicht. Sie nehmen dir deine Schluchten nicht. Sie sorgen nur dafür, dass da unten eine Matte liegt, die deinen Sturz ein bisschen abfedert. Und dass eine Leiter an der Wand lehnt, die du benutzen kannst oder auch nicht. Die Tabletten nehmen dir auch die Gipfel und die dünne Luft da oben nicht. Sie geben dir nur Halt. Vielleicht verhindern sie, dass du abhebst und sorgen dafür, dass du wieder sicher ins Tal kommst.
Du schämst dich. Würdest du dich auch schämen, wenn du Diabetes hättest? Würdest du ernsthaft überlegen, ob es sinnvoll ist, den Blutzuckerspiegel zu messen und Diät zu halten?
Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass es für mich nicht anders wäre? Dass ich mich schämen würde, dass ich das Gefühl hätte, versagt zu haben, es alleine nicht zu schaffen? Dass ich Panik hätte davor, dass die Medikamente mich verändern. Und gleichzeitig die Sehnsucht, dass sie genau das tun?


Du kannst wieder schlafen, erzählst du mir. Seit du regelmäßig die Tabletten nimmst. Ich weiß, welche Überwindung das für dich bedeutet. Du kannst wieder arbeiten, sagst du und lädst mich zu deiner Ausstellung ein.
Dein schönstes Werk schenkst du mir.

Danke. Dafür. Und für alles.
Auch dafür, dass ich noch immer deine Freundin sein darf.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
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testsiegerin - 27. Okt, 16:22

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