Fleißiges Lieschen
„Mein Beileid“, heuchelte er am Grab und warf dem Verstorbenen ein Schäuferl Erde nach. Elisabeth hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt. Stattdessen senkte sie nur den Blick. Da unten lag Martin, ihr Mann. Ihre große Liebe. In einem Eichensarg. Dem billigsten, den sie hatte kriegen können.
Am Montag saß sie ihm gegenüber. Rüdiger Werdenich, Direktor, stand auf dem Messingschild und das Schild stand auf einem Schreibtisch aus Birnenholz. Darauf lag ein teurer Füller. Elisabeths Stolz lag neben dem Sarg ihres Mannes in der feuchten Erde. Sie weinte, bettelte und flehte. Direktor Werdenich gab sich weich, aber er blieb hart.
„Ich kann Ihnen nur anbieten, die Raten ein wenig herabzusetzen. Für ein halbes Jahr. Aber wenn Sie bis zum Zwanzigsten nicht bezahlen, sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus versteigern zu lassen. Es gibt da sogar einen Interessenten.“
„Sie wollen mich auch ins Grab bringen, wie?“ Elisabeth stand auf. „Und wie erklären Sie das dann meinen Kindern?“
„Ich verstehe ja Ihre Aufgebrachtheit, Frau Dirisamer.“ Rüdiger Werdenich klopfte unsichtbaren Staub von seiner weißen Weste. „Aber für den Freitod Ihres Mannes können Sie mich wirklich nicht verantwortlich machen.“
Martin hatte sich erhängt. In der Garage, der das Tor fehlte und die noch unverputzt war. Wie der Rest des Hauses auch.
„Sie wissen genau, dass Sie ihn auf dem Gewissen haben. Sie sind ihm nicht einen Zentimeter entgegengekommen. Mit jeder Rate, die er pünktlich zurückgezahlt hat, obwohl wir es uns längst nicht mehr leisten konnten, wurde er depressiver. Mit jeder Rate haben Sie ein Stück seiner Selbstachtung genommen. Er war nicht der erste. Und ich werde nicht die letzte sein.“
Sie hatte Martin vom Abschleppseil geschnitten. Und mit ihm ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft. Sie küsste und betrauerte ihren toten Mann, bevor sie die Polizei rief. Den Abschiedsbrief gab sie nicht weiter. Sie wollte, dass seine letzten Worte nur ihr gehörten. Wenigstens die.
„Dreihunderfünfzig Euro“, knallte sie Werdenich das Geld pünktlich am Zwanzigsten auf den Birnenholzschreibtisch. „Mehr hab ich beim besten Willen nicht zusammengekriegt.“
„Frau Dirisamer“, er lächelte sie an. „Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und? Ist Ihnen das denn plötzlich egal?“ Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie.
Dir geht’s nur um Macht, dachte Elisabeth. Wenn du mein Haus versteigert hast, hast du keine Macht mehr über mich. Aber ich hab dann kein Dach mehr über dem Kopf. „Ich hab wirklich nicht mehr“, sagte sie leise. „Ich hab meine Tochter sogar vom Fußball abgemeldet. Aber es reicht nicht.“
„Nun“, sein Tonfall war plötzlich jovial. „Ich hätte da eine Idee.“
Eine Haushaltshilfe suchte er, weil seine Frau neuerdings auf dem Selbstfindungstrip war, wie er sagte. Die würde sich plötzlich weigern, seine Wäsche zu machen. Elisabeth konnte seine Frau gut verstehen. Auch sie ekelte sich vor dem Gedanken, seine Unterhosen zu waschen. Trotzdem willigte sie ein. Für ihre Kinder.
Im Wald fand sie Ruhe. Schöpfte die Kraft, die sie brauchte, um ihren Alltag zu bewältigen. Dachte an die vielen schönen Augenblicke mit Martin. Pflückte Wildblumen, die sie zu Hause auf den Tisch stellte, um den Kindern wenigstens ein bisschen den Eindruck einer heilen Welt zu vermitteln.
„Nehmen Sie das nicht“, sagte eine junge Frau in zerrissenen Jeans, als Elisabeth am Bach saß und gedankenverloren die Blüte einer Staude zwischen ihren Fingern zerrieb.
„Warum nicht? Steht sie unter Naturschutz?“
„Das ist der blaue Eisenhut“, erklärte die Frau ihr. „Aconitum Napellus. Hochgiftig. Vor allem die Wurzeln. Papst Hadrian wurde damit ermordet. Und angeblich auch Claudius, der römische Kaiser.“
Diese Frau wusste eine Menge. Aber das Flackern in Elisabeths Augen sah sie nicht.
Sie trafen sich hin und wieder im Wald und redeten über alles, was wuchs. Pflanzen, Menschen, Sorgen.
„Na, mein fleißiges Lieschen.“ Werdenich strich Elisabeth übers Haar und sie zuckte zusammen.
„Möchten Sie etwas essen, Herr Direktor? Ich hab Spargelcremesuppe gekocht.“
„Danke nein. Ich esse später noch mit einem Kunden.“
Elisabeth hob hilflos die Schultern und versuchte die Enttäuschung zu verbergen.
„Ich richte Ihnen noch die Wäsche für morgen her, bevor ich gehe“, sagte sie dann. „Die Jeans und das blaue Hemd.“
Der nächste Tag war der Zwanzigste. Trotz des warmen Sommertages fröstelte Rüdiger Werdenich, als er aus dem Haus ging. Eine Stunde später tropfte kalter Schweiß von seiner Stirn. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, bat er eine seiner Angestellten. „Mein Mund ist so trocken.“ Er nahm einen Schluck, aber das Brennen im Mund hörte nicht auf. Die Stimme seines Kunden schien plötzlich weit weg. Werdenich stand auf, schüttelte ihm die Hand und verabschiedete sich.
„Fünfhundert genau.“ Elisabeth stand vor ihm. Er hatte darauf beharrt, dass sie ihm das Geld in die Bank brachte. „Meine letzten“, fügte sie noch leise hinzu.
In seinen Fingern und Zehen kribbelte es. Er bekam keine Luft und löste den Knoten seiner Krawatte. Er wollte etwas sagen, um Hilfe rufen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Alles begann sich zu drehen, und alles war gelb und grün. Dann brach er zusammen. Krümmte sich vor Schmerzen. Röchelte. Starb.
Elisabeth wurde blass, als sie die Frau aus dem Wald wiedererkannte. Mit zerrissenen Jeans und ihrem Arztkoffer kniete sie neben dem Verstorbenen und ließ sich von einem Mitarbeiter der Bank die Symptome schildern. Sie zog sich die Handschuhe an und untersuchte den toten Direktor.
Es gibt keinen Beweis, dachte Elisabeth.
Sie hatte die Wurzeln vom Blauen Eisenhut gut ausgekocht. Das Gift wird auch durch die intakte Haut aufgenommen, hatte die Frau im Wald gesagt. Im Sud schwemmte sie erst die Unterwäsche, dann Hemd und Hose. Während die Sachen an der Sonne trockneten, spülte sie die Giftbrühe ins Klo und putzte es gründlich. Die Handschuhe verbrannte sie im Ofen.
Die Ärztin schaute vom toten Direktor zur lebendigen Elisabeth. Diese senkte den Blick. Die Frau Doktor dachte lange nach, und schüttelte den Kopf. Dann warf sie Elisabeth ein unmerkliches Nicken zu.
Herzinfarkt, schrieb sie in den Totenschein.
Am Montag saß sie ihm gegenüber. Rüdiger Werdenich, Direktor, stand auf dem Messingschild und das Schild stand auf einem Schreibtisch aus Birnenholz. Darauf lag ein teurer Füller. Elisabeths Stolz lag neben dem Sarg ihres Mannes in der feuchten Erde. Sie weinte, bettelte und flehte. Direktor Werdenich gab sich weich, aber er blieb hart.
„Ich kann Ihnen nur anbieten, die Raten ein wenig herabzusetzen. Für ein halbes Jahr. Aber wenn Sie bis zum Zwanzigsten nicht bezahlen, sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus versteigern zu lassen. Es gibt da sogar einen Interessenten.“
„Sie wollen mich auch ins Grab bringen, wie?“ Elisabeth stand auf. „Und wie erklären Sie das dann meinen Kindern?“
„Ich verstehe ja Ihre Aufgebrachtheit, Frau Dirisamer.“ Rüdiger Werdenich klopfte unsichtbaren Staub von seiner weißen Weste. „Aber für den Freitod Ihres Mannes können Sie mich wirklich nicht verantwortlich machen.“
Martin hatte sich erhängt. In der Garage, der das Tor fehlte und die noch unverputzt war. Wie der Rest des Hauses auch.
„Sie wissen genau, dass Sie ihn auf dem Gewissen haben. Sie sind ihm nicht einen Zentimeter entgegengekommen. Mit jeder Rate, die er pünktlich zurückgezahlt hat, obwohl wir es uns längst nicht mehr leisten konnten, wurde er depressiver. Mit jeder Rate haben Sie ein Stück seiner Selbstachtung genommen. Er war nicht der erste. Und ich werde nicht die letzte sein.“
Sie hatte Martin vom Abschleppseil geschnitten. Und mit ihm ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre Zukunft. Sie küsste und betrauerte ihren toten Mann, bevor sie die Polizei rief. Den Abschiedsbrief gab sie nicht weiter. Sie wollte, dass seine letzten Worte nur ihr gehörten. Wenigstens die.
„Dreihunderfünfzig Euro“, knallte sie Werdenich das Geld pünktlich am Zwanzigsten auf den Birnenholzschreibtisch. „Mehr hab ich beim besten Willen nicht zusammengekriegt.“
„Frau Dirisamer“, er lächelte sie an. „Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und? Ist Ihnen das denn plötzlich egal?“ Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie.
Dir geht’s nur um Macht, dachte Elisabeth. Wenn du mein Haus versteigert hast, hast du keine Macht mehr über mich. Aber ich hab dann kein Dach mehr über dem Kopf. „Ich hab wirklich nicht mehr“, sagte sie leise. „Ich hab meine Tochter sogar vom Fußball abgemeldet. Aber es reicht nicht.“
„Nun“, sein Tonfall war plötzlich jovial. „Ich hätte da eine Idee.“
Eine Haushaltshilfe suchte er, weil seine Frau neuerdings auf dem Selbstfindungstrip war, wie er sagte. Die würde sich plötzlich weigern, seine Wäsche zu machen. Elisabeth konnte seine Frau gut verstehen. Auch sie ekelte sich vor dem Gedanken, seine Unterhosen zu waschen. Trotzdem willigte sie ein. Für ihre Kinder.
Im Wald fand sie Ruhe. Schöpfte die Kraft, die sie brauchte, um ihren Alltag zu bewältigen. Dachte an die vielen schönen Augenblicke mit Martin. Pflückte Wildblumen, die sie zu Hause auf den Tisch stellte, um den Kindern wenigstens ein bisschen den Eindruck einer heilen Welt zu vermitteln.
„Nehmen Sie das nicht“, sagte eine junge Frau in zerrissenen Jeans, als Elisabeth am Bach saß und gedankenverloren die Blüte einer Staude zwischen ihren Fingern zerrieb.
„Warum nicht? Steht sie unter Naturschutz?“
„Das ist der blaue Eisenhut“, erklärte die Frau ihr. „Aconitum Napellus. Hochgiftig. Vor allem die Wurzeln. Papst Hadrian wurde damit ermordet. Und angeblich auch Claudius, der römische Kaiser.“
Diese Frau wusste eine Menge. Aber das Flackern in Elisabeths Augen sah sie nicht.
Sie trafen sich hin und wieder im Wald und redeten über alles, was wuchs. Pflanzen, Menschen, Sorgen.
„Na, mein fleißiges Lieschen.“ Werdenich strich Elisabeth übers Haar und sie zuckte zusammen.
„Möchten Sie etwas essen, Herr Direktor? Ich hab Spargelcremesuppe gekocht.“
„Danke nein. Ich esse später noch mit einem Kunden.“
Elisabeth hob hilflos die Schultern und versuchte die Enttäuschung zu verbergen.
„Ich richte Ihnen noch die Wäsche für morgen her, bevor ich gehe“, sagte sie dann. „Die Jeans und das blaue Hemd.“
Der nächste Tag war der Zwanzigste. Trotz des warmen Sommertages fröstelte Rüdiger Werdenich, als er aus dem Haus ging. Eine Stunde später tropfte kalter Schweiß von seiner Stirn. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, bat er eine seiner Angestellten. „Mein Mund ist so trocken.“ Er nahm einen Schluck, aber das Brennen im Mund hörte nicht auf. Die Stimme seines Kunden schien plötzlich weit weg. Werdenich stand auf, schüttelte ihm die Hand und verabschiedete sich.
„Fünfhundert genau.“ Elisabeth stand vor ihm. Er hatte darauf beharrt, dass sie ihm das Geld in die Bank brachte. „Meine letzten“, fügte sie noch leise hinzu.
In seinen Fingern und Zehen kribbelte es. Er bekam keine Luft und löste den Knoten seiner Krawatte. Er wollte etwas sagen, um Hilfe rufen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Alles begann sich zu drehen, und alles war gelb und grün. Dann brach er zusammen. Krümmte sich vor Schmerzen. Röchelte. Starb.
Elisabeth wurde blass, als sie die Frau aus dem Wald wiedererkannte. Mit zerrissenen Jeans und ihrem Arztkoffer kniete sie neben dem Verstorbenen und ließ sich von einem Mitarbeiter der Bank die Symptome schildern. Sie zog sich die Handschuhe an und untersuchte den toten Direktor.
Es gibt keinen Beweis, dachte Elisabeth.
Sie hatte die Wurzeln vom Blauen Eisenhut gut ausgekocht. Das Gift wird auch durch die intakte Haut aufgenommen, hatte die Frau im Wald gesagt. Im Sud schwemmte sie erst die Unterwäsche, dann Hemd und Hose. Während die Sachen an der Sonne trockneten, spülte sie die Giftbrühe ins Klo und putzte es gründlich. Die Handschuhe verbrannte sie im Ofen.
Die Ärztin schaute vom toten Direktor zur lebendigen Elisabeth. Diese senkte den Blick. Die Frau Doktor dachte lange nach, und schüttelte den Kopf. Dann warf sie Elisabeth ein unmerkliches Nicken zu.
Herzinfarkt, schrieb sie in den Totenschein.
testsiegerin - 8. Aug, 21:27