Briefe an meine Kinder
Brief an mein großes Kind
Wahrnehmungsstörungen haben sie dir damals diagnostiziert, die Ärzte. Ich weiß schon, was sie damit meinen, aber manchmal, wenn ich dich so beobachte, dann frage ich mich, wessen Wahrnehmung da gestört ist.
Du nimmst nämlich genau wahr, wenn der Traktor diesen Sommer anders bereift ist als im Sommer vor fünf Jahren. Du merkst dir die Namen von fünfunddreißig Kühen und Kälbern und dem Hirschen Hansi. Du weißt genau, an welcher Stelle im Garten wir im Frühjahr die Erdäpfel eingegraben haben.
Du konntest zwar mit sieben noch nicht mal deinen Namen schreiben, aber du wusstest, wie man Kartoffelvollernter und Rübenreinigungslager buchstabiert. Wenn es um den Unterschied zwischen einem John Deere 6920 S und einem Fendt 930 Vario oder einer Scheiben- und Schweregge ging, konnte dir sowieso keiner etwas vormachen.
Da war so viel, von dem wir geglaubt haben, du schaffst es nie. Du aber hast uns immer wieder überrascht.
Weißt du noch, wie du lesen gelernt hast, mein Kind? Auf dem Pferd bist du herumgeturnt, so, dass ich geglaubt hab, du fällst jeden Moment herunter, und das Pferd ist mit dir im Kreis geritten und auf die Stadelwand war mit dem Beamer ein Gedicht projiziert. Der Rhythmus des Pferdes und des Gedichtes wurden irgendwann in deinem Kopf eins.
Du hast Radfahren gelernt und Schwimmen und jetzt hast du sogar den Hauptschulabschluss geschafft, ein paar Jahre später halt als üblich, aber was spielt das für eine Rolle?
Wahrnehmungsstörungen. Pah. Du nimmst wahr, wenn ich heimlich ein Stück Wäsche umgehängt habe, weil du grad Rüben erntest. Du nimmst als einziger hier wahr, wenn ich die Fenster geputzt habe, durch die du aufs Feld schaust.
Und den Menschen, denen herinnen und denen auf dem Feld draußen, denen blickst du mitten ins Herz.
Natürlich mach ich mir manchmal Sorgen um dich, weißt du, das macht jede Mutter, das hat gar nicht viel mit diesen sogenannten Störungen zu tun. Du wirst deinen Weg gehen, wie auch bisher. Du wirst Schlagermusik hören, die niemandem in der Familie außer dir gefällt, aber das ist dir ohnehin egal, du wirst auch weiterhin das Gute in den Menschen sehen und genau das werden sie dir zeigen, weil du ihnen so offen gegenübertrittst. Mauern brauchst du nicht, du schützt dich mit der Kraft der Liebe, die dich umgibt.
Ich wünsche dir, dass du einmal eine Frau findest, die dich so liebt wie du bist. (Und wenn sie einen Bauernhof hätte, dann wäre das auch praktisch.) Die das an dir wahrnimmt, was dich ausmacht. Dein großes Herz, dein breites Lachen, das Glück, das du in dir trägst. Du suchst nicht ständig den Sinn im Leben, weil der Sinn tief in dir wohnt.
Kannst du dich erinnern, als ich dich mal gefragt hab, ob du denn nie traurig oder unglücklich bist. „Warum sollte ich?“ hast du lächelnd geantwortet. Ja, warum solltest du? Und warum sollten wir? Und trotzdem sind wir es immer wieder, obwohl die Sonne scheint, der Lavendel blüht und der Weizen reif ist.
Ich wünsche dir eine Frau, der es egal ist, wenn auf der einen Wäscheleine ausschließlich rote und auf der anderen ausschließlich gelbe Wäscheklammern angebracht sind, weil das für dich wichtig ist. Eine, die sich drüber freut, dass du ihr jeden Morgen das Bett machst und die Bücher, die sie liest, nach Größe und Farben sortierst.
Puh, ziemlich schwülstig klingt das alles, Kind. Aber du wirst es eh nicht lesen, weil grad Erntezeit ist und da gibt es wirklich Wichtigeres als Schleimereien der eigenen Mutter. Ich muss jetzt sowieso raus, Wäsche aufhängen. Bittte schimpf nicht mit mir, wenn nicht Kante auf Kante hängt.
Brief an mein kleines Kind
Was soll ich einem Persönchen schreiben, mit dem ich sowieso täglich stundenlang rede? Ob das Leben Sinn hat, haben wir gestern besprochen, und du hast gemeint, eher nein. Dass du aber auch nicht danach suchst, weil es keinen Sinn hat, etwas zu suchen, das es nicht gibt. Dass du nicht auf der Welt bist, um Sinn zu haben, sondern weil ich dich gekriegt hab, und aus.
Meine kleine Philosophin, mein Leben hat jede Menge Sinn. Vor allem, weil es euch gibt.
Und als ich das hier heute noch mal in Ruhe angeschaut hab, das Geschenk, das du für deine beste Freundin gemacht hast, da hab ein paar Tränen der Rührung zerquetscht.
Sieh es mir nach. Und verzeih mir bitte meinen unverbesserlichen Optimismus. Ich weiß, das Glas ist weder halb voll noch halb leer, sondern doppelt so groß wie notwendig.
Obwohl... wenn es nur halb voll ist, kann man nachgießen. Und dann ist es voll. Das Glas. Das Leben. Und überhaupt.
Wahrnehmungsstörungen haben sie dir damals diagnostiziert, die Ärzte. Ich weiß schon, was sie damit meinen, aber manchmal, wenn ich dich so beobachte, dann frage ich mich, wessen Wahrnehmung da gestört ist.
Du nimmst nämlich genau wahr, wenn der Traktor diesen Sommer anders bereift ist als im Sommer vor fünf Jahren. Du merkst dir die Namen von fünfunddreißig Kühen und Kälbern und dem Hirschen Hansi. Du weißt genau, an welcher Stelle im Garten wir im Frühjahr die Erdäpfel eingegraben haben.
Du konntest zwar mit sieben noch nicht mal deinen Namen schreiben, aber du wusstest, wie man Kartoffelvollernter und Rübenreinigungslager buchstabiert. Wenn es um den Unterschied zwischen einem John Deere 6920 S und einem Fendt 930 Vario oder einer Scheiben- und Schweregge ging, konnte dir sowieso keiner etwas vormachen.
Da war so viel, von dem wir geglaubt haben, du schaffst es nie. Du aber hast uns immer wieder überrascht.
Weißt du noch, wie du lesen gelernt hast, mein Kind? Auf dem Pferd bist du herumgeturnt, so, dass ich geglaubt hab, du fällst jeden Moment herunter, und das Pferd ist mit dir im Kreis geritten und auf die Stadelwand war mit dem Beamer ein Gedicht projiziert. Der Rhythmus des Pferdes und des Gedichtes wurden irgendwann in deinem Kopf eins.
Du hast Radfahren gelernt und Schwimmen und jetzt hast du sogar den Hauptschulabschluss geschafft, ein paar Jahre später halt als üblich, aber was spielt das für eine Rolle?
Wahrnehmungsstörungen. Pah. Du nimmst wahr, wenn ich heimlich ein Stück Wäsche umgehängt habe, weil du grad Rüben erntest. Du nimmst als einziger hier wahr, wenn ich die Fenster geputzt habe, durch die du aufs Feld schaust.
Und den Menschen, denen herinnen und denen auf dem Feld draußen, denen blickst du mitten ins Herz.
Natürlich mach ich mir manchmal Sorgen um dich, weißt du, das macht jede Mutter, das hat gar nicht viel mit diesen sogenannten Störungen zu tun. Du wirst deinen Weg gehen, wie auch bisher. Du wirst Schlagermusik hören, die niemandem in der Familie außer dir gefällt, aber das ist dir ohnehin egal, du wirst auch weiterhin das Gute in den Menschen sehen und genau das werden sie dir zeigen, weil du ihnen so offen gegenübertrittst. Mauern brauchst du nicht, du schützt dich mit der Kraft der Liebe, die dich umgibt.
Ich wünsche dir, dass du einmal eine Frau findest, die dich so liebt wie du bist. (Und wenn sie einen Bauernhof hätte, dann wäre das auch praktisch.) Die das an dir wahrnimmt, was dich ausmacht. Dein großes Herz, dein breites Lachen, das Glück, das du in dir trägst. Du suchst nicht ständig den Sinn im Leben, weil der Sinn tief in dir wohnt.
Kannst du dich erinnern, als ich dich mal gefragt hab, ob du denn nie traurig oder unglücklich bist. „Warum sollte ich?“ hast du lächelnd geantwortet. Ja, warum solltest du? Und warum sollten wir? Und trotzdem sind wir es immer wieder, obwohl die Sonne scheint, der Lavendel blüht und der Weizen reif ist.
Ich wünsche dir eine Frau, der es egal ist, wenn auf der einen Wäscheleine ausschließlich rote und auf der anderen ausschließlich gelbe Wäscheklammern angebracht sind, weil das für dich wichtig ist. Eine, die sich drüber freut, dass du ihr jeden Morgen das Bett machst und die Bücher, die sie liest, nach Größe und Farben sortierst.
Puh, ziemlich schwülstig klingt das alles, Kind. Aber du wirst es eh nicht lesen, weil grad Erntezeit ist und da gibt es wirklich Wichtigeres als Schleimereien der eigenen Mutter. Ich muss jetzt sowieso raus, Wäsche aufhängen. Bittte schimpf nicht mit mir, wenn nicht Kante auf Kante hängt.
Brief an mein kleines Kind
Was soll ich einem Persönchen schreiben, mit dem ich sowieso täglich stundenlang rede? Ob das Leben Sinn hat, haben wir gestern besprochen, und du hast gemeint, eher nein. Dass du aber auch nicht danach suchst, weil es keinen Sinn hat, etwas zu suchen, das es nicht gibt. Dass du nicht auf der Welt bist, um Sinn zu haben, sondern weil ich dich gekriegt hab, und aus.
Meine kleine Philosophin, mein Leben hat jede Menge Sinn. Vor allem, weil es euch gibt.
Und als ich das hier heute noch mal in Ruhe angeschaut hab, das Geschenk, das du für deine beste Freundin gemacht hast, da hab ein paar Tränen der Rührung zerquetscht.
Sieh es mir nach. Und verzeih mir bitte meinen unverbesserlichen Optimismus. Ich weiß, das Glas ist weder halb voll noch halb leer, sondern doppelt so groß wie notwendig.
Obwohl... wenn es nur halb voll ist, kann man nachgießen. Und dann ist es voll. Das Glas. Das Leben. Und überhaupt.
testsiegerin - 5. Aug, 10:37