Eine Woche im Bett - Sonntag
Ein Bett, ein Bett! Gebt mir endlich ein Bett! Das war seit ein paar Stunden der wichtigste Gedanke in Franziskas Gehirn. Dabei war sie die ganze Nacht von Betten geradezu umzingelt gewesen. Fremde Betten, in denen fremde Menschen lagen und fremde Träume träumten. Kranke Menschen, die ihre Hilfe brauchten. Und an jedem dieser Betten befand sich ein magischer roter Knopf, der den Kranken Erleichterung und Franziska noch mehr Arbeit verschaffte.
Um kurz vor sechs waren endlich die Kolleginnen vom Tagdienst eingetrudelt, denen sie mit trockener Zunge von der Nacht berichtet hatte. Angesichts ihrer geistigen Verfassung und des technischen Zustandes ihres Polos war es ein Wunder, dass sie nach den Nachtdiensten stets unfallfrei ihre Wohnung erreichte. Ein Wunder, das die Medaille des heiligen Christopherus am Armaturenbrett seit vielen Jahren vollbrachte.
Sie öffnete die Haustür mit der immer noch gleichen Sehnsucht nach Erlösung: Ein Bett!
Franziska ließ achtlos Mantel und Tasche fallen und fluchte, weil offenbar jemand ebenso achtlos ein Mondfahrzeug hatte fallen lassen, über das sie stolperte. Die Übeltäter hießen Florian und Johannes, waren drei und vier Jahre alt und die Söhne ihrer Lebensgefährtin. Franziska wünschte sich nicht nur in ihr Bett, sie wünschte sich auch so einen magischen roten Knopf wie an den Betten der Patienten, mit dem sie die Kinder mitsamt dem verdammten Weltraumauto auf der Stelle zum Mond schießen konnte. Zu ihrem Glück schliefen sie noch. Und das wollte sie jetzt auch tun.
„Wie war dein Dienst, Franzi?“ Birgit küsste sie auf den Mund, schnitt einen Apfel in Spalten und strich Jausenbrote.
„Scheiße“, kam die erwartete Antwort.
„Ich geh heute mit den Kindern in den Zoo, ja? Dann kannst du ausschlafen und dich ein bisschen erholen.“
„Danke. Aber erst noch duschen. Ich geh so ungern mit dem Krankenhausgeruch am Körper ins Bett. Ich muss schrecklich stinken.“
„Gar nicht stinkst du.“ Birgit strich ihr durch die zerzausten roten Haare.
Franziska genoss das Prasseln des warmen Wassers auf der Haut und wusste irgendwann gar nicht mehr, wie lange sie da unter der Dusche stand. Vermutlich hatte sie zwischenzeitlich schon im Stehen geschlafen. Ihr Kopf hatte sich von der Welt verabschiedet, vermutlich ebenso wie es bei den Patienten der Fall war, denen sie nach der Operation die Infusion mit den Schmerzmitteln anhängte. Ein Bett, kam es ihr wieder in den Sinn. Deshalb stand sie ja unter der Dusche, damit sie sich nicht in fremden und eigenen Ausdünstungen und in Gesellschaft widerwärtiger Krankenhausbakterien in ihren Laken wälzen muss-te. Sie trocknete sich notdürftig ab und ließ das Ba-dehandtuch auf den Boden gleiten. Zum Überstreifen des Schlafshirts fehlte ihr die Kraft, also kroch sie nackt und dampfend unter ihre Decke.
Schwer sank ihr Kopf ins Kissen und die Augen fie-len augenblicklich zu. Ihre Füße brannten und hin-derten sie daran, den letzten Schritt ins Reich der Träume zu tun. Ich hab die Patientendokumentation von der Diabetikerin mit dem amputierten Fuß nicht fertig geschrieben, meldete sich ihr Schwesterngehirn zurück. Mitten im Satz hatte das Telefon geklingelt, irgendwelche Angehörigen, die eine Auskunft wollten. Mit Sicherheit hatte sie auch noch andere Dinge vergessen. Solche Gedanken waren ihr zwar mittlerweile vertraut, hinderten sie aber nach wie vor am Einschlafen. Erneut sehnte sie sich nach einem magischen roten Knopf, der auf Druck alle quälenden Gedanken aus ihrem Kopf absaugte und ihn leer machte.
„Ich bin müde“, redete Franziska auf sich ein. „Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Mein linker Arm wird ganz schwer.“ Ihre Fähigkeiten zur Autosuggestion waren seit jeher begrenzt. Schon in jungen Jahren war es ihr nicht gelungen, die Stimmen der Verstorbenen zu hören, wenn sie mit ihren Freundinnen am großen runden Tisch saß und deren Geister anrief. Und doch hatte ausgerechnet sie sich jahrelang eingeredet, dass sie in einen Mann verliebt war. Um ein Haar hätte sie ihn geheiratet. Bei Birgit waren sogar vier Jahre Ehe und die Geburt zweier Kinder vergangen, bevor ihr endgültig klar wurde, dass sie lesbisch war.
War jetzt ihr linker Arm schon schwer oder der rechte? Gab es wirklich Leute, die sich mit diesem Blödsinn entspannen und dabei sogar in Tiefschlaf fallen konnten?
„Heeeeyyyy!“ Tapptapptapptapptapp. Aha. Auch Johannes hatte seine Träume offensichtlich ausge-träumt.
„Meine Ohren sind stocktaub und meine Großhirn-rinde wurde vollständig narkotisiert“, versuchte sie es ein verzweifeltes letztes Mal, als die Schlafzim-mertür aus den Angeln gesprengt wurde.
„Spider-Määään!“ Spinnenmann Florian landete wie ein besonders fettes kurzbeiniges Exemplar dieser Gattung auf ihrem Bett. Die Kinder sahen eindeutig zu viel und zu spät Fernsehen.
Was nützte es, dass Franziska sich vor Jahren ganz bewusst für ein selbstbestimmtes Leben und gegen eigene Kinder entschieden hatte? Wenn sie jetzt tat, wonach ihr zumute war, nämlich einen hysterischen Schreianfall kriegen und wütend und hilflos um sich schlagen, dann bedeutete das stundenlange Diskussionen mit Birgit über die Erziehung. Also durchatmen, „macht nichts, ich hab ohnehin noch nicht geschlafen“ murmeln, durch Kinderköpfe strubbeln und mit ernster Miene sagen: „Ab sofort seid ihr Indianer vom Stamm der Cherokee, schleicht auf Fuchspfoten durchs Haus und achtet darauf, dass kein Laut in mein Tipi dringt. Und steckt die Hände nicht wieder in den Bärenkäfig, sonst sind sie ab.“
„Was sind Cherokee-Indianer? Erzähl uns was von denen!“
Franziska versuchte ein Lächeln und schluckte ihre Ohnmacht hinunter. Vielleicht sollte sie der Ohn-macht eine Schlaftablette hinterher werfen.
Ein Gähnen aus tiefster Seele gab ihr die Gewissheit, dass die Müdigkeit noch immer da war und ein Schlafmittel pure Verschwendung gewesen wäre. Sie legte sich auf den Bauch und genoss ihre nun immer tiefer werdenden Atemzüge.
„Die schnarcht ja“, stellte der Cherokee Florian mit dem Ohr an der Tür fest, aber das hörte Franziska schon nicht mehr.
Sie schlief jetzt tief und fest, nur ab und zu stram-pelte sie mit den Beinen, weil sie den Patienten mit den frischen Hüftoperationen im Traum eine Bettpfanne bringen musste. Wenig später bretterte sie mit einem roten Cabrio über die kurvenreiche Landstraße. „Abseits“, schrie ihr Ex-Mann vom Straßenrand. „Abseits ist, wenn...“, begann sie zu dozieren, „... wenn das Telefon klingelt.“
Franziska wachte auf und schaute sich verwundert im Zimmer um. Wie spät war es nur? Und wer war so verrückt, mitten am helllichten Tag anzurufen? ...
Fortsetzung folgt
Um kurz vor sechs waren endlich die Kolleginnen vom Tagdienst eingetrudelt, denen sie mit trockener Zunge von der Nacht berichtet hatte. Angesichts ihrer geistigen Verfassung und des technischen Zustandes ihres Polos war es ein Wunder, dass sie nach den Nachtdiensten stets unfallfrei ihre Wohnung erreichte. Ein Wunder, das die Medaille des heiligen Christopherus am Armaturenbrett seit vielen Jahren vollbrachte.
Sie öffnete die Haustür mit der immer noch gleichen Sehnsucht nach Erlösung: Ein Bett!
Franziska ließ achtlos Mantel und Tasche fallen und fluchte, weil offenbar jemand ebenso achtlos ein Mondfahrzeug hatte fallen lassen, über das sie stolperte. Die Übeltäter hießen Florian und Johannes, waren drei und vier Jahre alt und die Söhne ihrer Lebensgefährtin. Franziska wünschte sich nicht nur in ihr Bett, sie wünschte sich auch so einen magischen roten Knopf wie an den Betten der Patienten, mit dem sie die Kinder mitsamt dem verdammten Weltraumauto auf der Stelle zum Mond schießen konnte. Zu ihrem Glück schliefen sie noch. Und das wollte sie jetzt auch tun.
„Wie war dein Dienst, Franzi?“ Birgit küsste sie auf den Mund, schnitt einen Apfel in Spalten und strich Jausenbrote.
„Scheiße“, kam die erwartete Antwort.
„Ich geh heute mit den Kindern in den Zoo, ja? Dann kannst du ausschlafen und dich ein bisschen erholen.“
„Danke. Aber erst noch duschen. Ich geh so ungern mit dem Krankenhausgeruch am Körper ins Bett. Ich muss schrecklich stinken.“
„Gar nicht stinkst du.“ Birgit strich ihr durch die zerzausten roten Haare.
Franziska genoss das Prasseln des warmen Wassers auf der Haut und wusste irgendwann gar nicht mehr, wie lange sie da unter der Dusche stand. Vermutlich hatte sie zwischenzeitlich schon im Stehen geschlafen. Ihr Kopf hatte sich von der Welt verabschiedet, vermutlich ebenso wie es bei den Patienten der Fall war, denen sie nach der Operation die Infusion mit den Schmerzmitteln anhängte. Ein Bett, kam es ihr wieder in den Sinn. Deshalb stand sie ja unter der Dusche, damit sie sich nicht in fremden und eigenen Ausdünstungen und in Gesellschaft widerwärtiger Krankenhausbakterien in ihren Laken wälzen muss-te. Sie trocknete sich notdürftig ab und ließ das Ba-dehandtuch auf den Boden gleiten. Zum Überstreifen des Schlafshirts fehlte ihr die Kraft, also kroch sie nackt und dampfend unter ihre Decke.
Schwer sank ihr Kopf ins Kissen und die Augen fie-len augenblicklich zu. Ihre Füße brannten und hin-derten sie daran, den letzten Schritt ins Reich der Träume zu tun. Ich hab die Patientendokumentation von der Diabetikerin mit dem amputierten Fuß nicht fertig geschrieben, meldete sich ihr Schwesterngehirn zurück. Mitten im Satz hatte das Telefon geklingelt, irgendwelche Angehörigen, die eine Auskunft wollten. Mit Sicherheit hatte sie auch noch andere Dinge vergessen. Solche Gedanken waren ihr zwar mittlerweile vertraut, hinderten sie aber nach wie vor am Einschlafen. Erneut sehnte sie sich nach einem magischen roten Knopf, der auf Druck alle quälenden Gedanken aus ihrem Kopf absaugte und ihn leer machte.
„Ich bin müde“, redete Franziska auf sich ein. „Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Mein linker Arm wird ganz schwer.“ Ihre Fähigkeiten zur Autosuggestion waren seit jeher begrenzt. Schon in jungen Jahren war es ihr nicht gelungen, die Stimmen der Verstorbenen zu hören, wenn sie mit ihren Freundinnen am großen runden Tisch saß und deren Geister anrief. Und doch hatte ausgerechnet sie sich jahrelang eingeredet, dass sie in einen Mann verliebt war. Um ein Haar hätte sie ihn geheiratet. Bei Birgit waren sogar vier Jahre Ehe und die Geburt zweier Kinder vergangen, bevor ihr endgültig klar wurde, dass sie lesbisch war.
War jetzt ihr linker Arm schon schwer oder der rechte? Gab es wirklich Leute, die sich mit diesem Blödsinn entspannen und dabei sogar in Tiefschlaf fallen konnten?
„Heeeeyyyy!“ Tapptapptapptapptapp. Aha. Auch Johannes hatte seine Träume offensichtlich ausge-träumt.
„Meine Ohren sind stocktaub und meine Großhirn-rinde wurde vollständig narkotisiert“, versuchte sie es ein verzweifeltes letztes Mal, als die Schlafzim-mertür aus den Angeln gesprengt wurde.
„Spider-Määään!“ Spinnenmann Florian landete wie ein besonders fettes kurzbeiniges Exemplar dieser Gattung auf ihrem Bett. Die Kinder sahen eindeutig zu viel und zu spät Fernsehen.
Was nützte es, dass Franziska sich vor Jahren ganz bewusst für ein selbstbestimmtes Leben und gegen eigene Kinder entschieden hatte? Wenn sie jetzt tat, wonach ihr zumute war, nämlich einen hysterischen Schreianfall kriegen und wütend und hilflos um sich schlagen, dann bedeutete das stundenlange Diskussionen mit Birgit über die Erziehung. Also durchatmen, „macht nichts, ich hab ohnehin noch nicht geschlafen“ murmeln, durch Kinderköpfe strubbeln und mit ernster Miene sagen: „Ab sofort seid ihr Indianer vom Stamm der Cherokee, schleicht auf Fuchspfoten durchs Haus und achtet darauf, dass kein Laut in mein Tipi dringt. Und steckt die Hände nicht wieder in den Bärenkäfig, sonst sind sie ab.“
„Was sind Cherokee-Indianer? Erzähl uns was von denen!“
Franziska versuchte ein Lächeln und schluckte ihre Ohnmacht hinunter. Vielleicht sollte sie der Ohn-macht eine Schlaftablette hinterher werfen.
Ein Gähnen aus tiefster Seele gab ihr die Gewissheit, dass die Müdigkeit noch immer da war und ein Schlafmittel pure Verschwendung gewesen wäre. Sie legte sich auf den Bauch und genoss ihre nun immer tiefer werdenden Atemzüge.
„Die schnarcht ja“, stellte der Cherokee Florian mit dem Ohr an der Tür fest, aber das hörte Franziska schon nicht mehr.
Sie schlief jetzt tief und fest, nur ab und zu stram-pelte sie mit den Beinen, weil sie den Patienten mit den frischen Hüftoperationen im Traum eine Bettpfanne bringen musste. Wenig später bretterte sie mit einem roten Cabrio über die kurvenreiche Landstraße. „Abseits“, schrie ihr Ex-Mann vom Straßenrand. „Abseits ist, wenn...“, begann sie zu dozieren, „... wenn das Telefon klingelt.“
Franziska wachte auf und schaute sich verwundert im Zimmer um. Wie spät war es nur? Und wer war so verrückt, mitten am helllichten Tag anzurufen? ...
Fortsetzung folgt
testsiegerin - 24. Aug, 22:03