Bevor ich morgen, am Mittwoch, zum Montag komme, erzähle ich heute, am Dienstag noch vom Dienstag.
Früh aufgestanden, weil ich dem Kind versprochen hab, heute nicht so spät nach Hause zu kommen.
Gearbeitet. Dreimal in der IT-Abteilung angerufen, weil der neue Thin Client (nein, das ist kein neuer, magersüchtiger Klient, sondern ein Computer) nicht wollte, was ich wollte.
Nach der Arbeit meinen Sohn überrascht und von der Praktikumsstelle abgeholt. Gedacht, ihn auf dem Nachhauseweg noch auf ein Eis einzuladen, Vanilleeis mit heißen Himbeeren, das mag er so gern. Gedacht, danach einzukaufen und was Gutes zu kochen, irgendwas, was das andere Kind liebt. Vielleicht Milchreis. Oder Grießpudding.
Das Auto gesehen.
„Scheiße“ gedacht. Voll auf die Bremse gestiegen. Der Gehaltsvorschuss fürs Auto ist noch nicht zurückgezahlt, gedacht. Scheiße und noch mal scheiße gedacht. Zum Glück fährt er auf meiner Seite rein und nicht dort, wo mein Sohn sitzt, gedacht. Das Krachen gehört. Das Knirschen von Blech. Den Aufprall gespürt. Ich bin nicht schuld, gedacht, ich war auf einer Vorrangstraße und nicht zu schnell. Es ist unglaublich, was man im Bruchteil einer Sekunde alles denken kann, gedacht. Das Kind gefragt, ob es ihm gut geht. Den Schmerz gefühlt. Scheiße, scheiße, scheiße gedacht.
Geheult.
Feuerwehr. Notarzt. Polizei. Volles Programm.
Ins Röhrchen geblasen. Nicht genug Luft gehabt. Mit weniger Kraft, dafür länger blasen. Und nichts Schmutziges gedacht, dabei.
Krankenhaus. Röntgen. Nur geprellt.
Um einen entspannten Abend mit den Kindern. Und um mein Auto, das jetzt gar nicht mehr hübsch ausschaut. Seine Haube ist verrutscht und die Augengläser zerbrochen und er wirkt irgendwie ganz gedrückt auf der Seite.
Neben dem Auto gesessen und auf den Abschleppwagen gewartet. Geheult. Gelacht. Weil man Scheiß-Autos ersetzen kann. Weil nicht mehr passiert ist. Weil es den Kindern gut geht. In die Wolken geschaut. Zwei Stunden lang. Mich geärgert, dass der Typ nicht mal „Es tut mir leid“ gesagt hat. Das ist doch nicht so schwer, oder? Es sind nur vier Worte. Er hätte „Es tut mir leid“, murmeln und ich „schon o.k., kann jedem passieren“ antworten.
Ich muss mich noch bei der Frau bedanken, die sich um mich gekümmert hat und meinetwegen zu spät nach Hause gekommen ist.. Die die Polizei angerufen hat und mich getröstet hat. Ja, das muss ich noch. Danke sagen. Das ist nur ein Wort. Und ich wette, die Frau freut sich.
testsiegerin - 26. Aug, 21:01
„Zapletal.“
„Ja. Hier auch. Grüß dich, Papa.“
„Franzi. Alles in Ordnung?“
Sie hatte nur ein halbes Dutzend belangloser Worte gesprochen, und schon wusste er, dass nicht alles in Ordnung war.
„Weißt du, wo die Norwegische Botschaft in Wien ist?“
„Ja. Das weiß ich. Die Gegend kenn ich.“
„Natürlich kennst du die.“ Josef Zapletal kannte jeden Bezirk in Wien. Er hatte nämlich vierzig Jahre lang dort die Straßen vermessen.
„Kennst du auch den Gregor Silberhügl?“
„Ja doch. Kommen noch blödere Fragen?“
„Wer ist denn dran, Seppl? Wieder so eine Umfrage?“, hörte Franziska eine wohlbekannte Stimme im Hintergrund.
„Die Franzi ist es.“
„Die Franzi. Dann richte ihr aus, dass sich ihre Muter mal wieder über einen Besuch freuen würde.“
„Sag ihr, ich komm eh nächstes Wochenende. Aber jetzt hab ich eine Bitte.“
„Schieß schon los!“
„Gut, Papa, hör mir einfach zu, ja? Und erzähl Mama bitte nichts davon, sie würde sich nur Sorgen machen.“
„Mama ist eh schon wieder in der Küche.“ Trotzdem flüsterte er: „Sag, wollt ihr heiraten, die Birgit und du? Aber was hat das mit Silberhügl und der Norwegischen Botschaft zu tun?“
„Papa! Erstens ist das in Österreich noch immer nicht erlaubt und zweitens weißt du, was ich von der Ehe halte. Es geht um Folgendes: Gregor hängt an der Dachrinne der Botschaft fest. Du hast doch noch dein Kletterzeug, oder? Also das Seil und die Karabiner und so. Fahr bitte damit zur Botschaft, kraxle auf der Rückseite hoch und hol ihn da runter. Unversehrt, wenn möglich.“
„Das sagt sich so einfach, Franzi. Wie stellst du dir das vor? Da geht ja bestimmt eine Alarmanlage los, wenn ich über den Zaun klettere.“
„Warte, Papa. Ich check das. Rühr dich nicht vom Fleck.“
„Ja. Check du mal. Komische Ausdrücke hast du.“
„Hier ist Franzi. Gibt’s da eine Alarmanlage?“
„Hat Sverre angerufen?“
„Nein. Auf den können wir nicht warten. Der angelt vermutlich grad Dorsche in so einem finsteren Fjord. Ich hab schon Hilfe organisiert.“
„Aber bitte nicht die Feuerwehr.“
„Nein. Nicht die Feuerwehr. Mein Papa kommt.“
„Wie alt ist denn der?“
„Er feiert in ein paar Wochen seinen Siebzigsten.“
„Glaubst du wirklich, dass er der Richtige für den Job ist?“
Jetzt hatte er sie tatsächlich geduzt.
„Wir haben keine große Auswahl, Gregor.“
Er musste ihr zustimmen. Dann erklärte er, wie man die Alarmanlage austrickste und sie musste versprechen, das sofort wieder zu vergessen, nachdem sie es ihrem Vater erklärt hatte.
„Pass auf dich auf, Papa.“
Franziska legte das Telefon aufs Nachtkästchen. Sie fiel in die Kissen und die Augen fielen zu. Auf ihren Vater konnte sie sich verlassen, der hatte immer zu ihr gehalten und nie die Polizei gerufen, wenn jemand Mist gebaut hatte. Auch damals nicht, als sie mit ihren Freunden Kaugummiautomaten geknackt und ihn gebeten hatte, die Beute zu verstecken. „Die anderen haben sich nicht getraut, das mit nach Hause zu bringen, wegen der Eltern“, hatte sie mit hochrotem Kopf gesagt. Papa hatte die zwölf Kilo Kaugummis kurzerhand in den Tresor gesperrt. Ein Lächeln spazierte über Franziskas müdes Gesicht, als sie daran dachte, wie er sich am nächsten Tag an einem Teil der Beute einen Zahn ausgebissen und geflucht hatte, es sei ohnehin ein verdammtes Verbrechen, für dieses amerikanische Sauzeug von den Kindern auch nur einen einzigen Groschen zu verlangen. Und jetzt war er auf dem Weg in die Botschaft und befreite Gregor Silberhügl von einer norwegischen Dachrinne. Ihr wunderbarer Papa.
Diesmal brauchte Franziska keine Beschwörungsformeln, um einzuschlafen. Sie brauchte auch keine Beschwörungsformel, um nur wenig später wieder aufzuwachen. Das Telefon beendete ihren kurzen Traum.
„Sverre Solskjær. Sie haben mich angerufen?“
„Oh, ja. Sie sind schon zurück vom Dorschfang?“
„Wie bitte?“
„Egal, nicht so wichtig. Wie spät ist es eigentlich?“
Franziska war ziemlich verwirrt. Erstens, weil er sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Zweitens, weil er ein völlig akzentfreies Deutsch sprach. Und drittens, weil sie die Datei Sverre in ihrem Gehirn bereits in den Ordner Gelöschte Objekte verschoben hatte.
„Viertel nach zwei. Am Nachmittag.“
„Sie meinen sicher viertel drei. So sagt man das bei uns hier.“ Der brauchte gar nicht so anzugeben mit seinem blöden Hochdeutsch. Der redete ja wie ein evangelischer Pfarrer aus Hannover.
„War es das, was Sie von mir wissen wollten? Die Uhrzeit?“
Sie merkte, dass er im Begriff war, das Gespräch zu beenden. Sie hatte sich mal wieder zu zickig benommen. Der arme Sverre konnte ja nicht ahnen, was sie alles hinter sich hatte. Womöglich hatte er selbst auch einen üblen Tag verlebt. Die Fische hatten nicht gebissen und das kalte Fjordwasser war ihm in die Gummistiefel gelaufen. Und für den Fall, dass der inzwischen eingetretene Plan B scheitern sollte, musste sie auf die Variante Sverre zurückgreifen können, deshalb durfte sie ihn nicht vergraulen.
„Entschuldigen Sie“, bemühte sie sich. Sollte der Herr Solskjær ein Mitarbeiter der Botschaft sein, dann stand er sicher auf jegliche Form von Höflichkeiten. „Es geht um Gregor. Um Gregor Silberhügl. Er hängt an Ihrer Botschaft. Mit dem Fuß an der Dachrinne. Aber machen Sie sich keine Sorgen.“
„Warum sollte ich mir da Sorgen machen? Das klingt ja wirklich beruhigend."
War da Spott in seiner Stimme oder war ihm das Schicksal von Gregor tatsächlich egal? Franziska kannte sich nicht aus. Sehr beunruhigt klang Sverre nicht, eher ein bisschen gereizt.
„Gregor geht es den Umständen entsprechend gut.“ Das sagte sie zu den Angehörigen auch oft, das konnte alles und nichts bedeuten. „Sind Sie ein Verwandter von ihm?“ Bei Diplomaten war bestimmt Smalltalk angesagt.
„Nein.“
„Arbeiten Sie für die Botschaft?“
„Nein.“
Franziska war nach Schlafen und nicht nach Streiten zumute. Deshalb erzählte sie einfach, was geschehen war. Angefangen vom mysteriösen Anruf bis zu ihren Bemühungen, Gregor zu helfen.
„Nun gut, ich will ehrlich sein.“ Sverre klang jetzt wesentlich freundlicher. „Ich bin ein Freund von Gregor und Masseur der norwegischen Schisprungnationalmannschaft. Sie haben doch sicher davon gehört, dass bei uns zuhause Wale noch immer bestialisch abgeschlachtet werden. Mein Schwager arbeitet in der Botschaft, der hat uns gezeigt, wie man die Alarmanlage überlistet. Und Gregor ist ja schwindelfrei, dem hat das nicht ausgemacht, da aufs Dach zu kraxeln.“
„Oh, Masseur der Nationalmannschaft“, wiederholte sie. Das fand sie viel spannender, als über Tierschutz zu diskutieren. „Ich lasse mich auch einmal die Woche massieren, wegen meiner Kreuzschmerzen. Das Durchkneten tut so richtig gut, aber die Schmerzen sind noch immer da. Übrigens, darf ich bitte ein Autogramm von Ihnen haben? Und von den Springern der norwegischen Mannschaft auch? Je drei, bitte.“
Verflixt, sie hatte vergessen, ihren Papa an die Autogramme von Gregor zu erinnern. Aber wenn sie ihn jetzt anrief, stürzten die beiden womöglich ab.
Angesichts der Männer in der Nordwand der Botschaft beendete Franziska das Gespräch, um die Leitung freizuhalten. Außerdem fand sie, dass ein bisschen Schlaf auch nicht falsch wäre. Ihr Körper fand das auch. Als das Telefon wieder klingelte, war es draußen schon finster. Sie hatte tatsächlich ein paar Stunden geschlafen.
„Papa, alles in Ordnung mit dir?“
„Aber ja doch. Hat leider etwas länger gedauert. Ich musste von der Rückseite hinaufsteigen, damit mich keiner sieht. Dann mussten wir Gregors Fuß aus der Dachrinne befreien. Der war ganz schön angeschwollen und wollte nicht mehr aus dem Schuh heraus. Ich hab ihn dann abgeseilt und zum Schluss noch das Plakat ausgerollt.“
„Ich bin so stolz auf dich, Papa. Du hast eine ganze Nation gerettet.“
„Ja. Und die Wale noch dazu. Einen herzlichen Dank soll ich dir sagen vom Gregor. Er hat uns für nächsten Sonntag zum Essen eingeladen.“
Ein Abendessen mit Gregor Silberhügl, das war wie ein Fünfer mit Zusatzzahl. Franziskas Herzschlag beschleunigte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an Backkehndlsalat, Graukäsenocken und Tiroler Speckknödel dachte. Doch im nächsten Augenblick holte die Realität sie ein und das Wasser im Mund lief wieder auseinander. Wahrscheinlich gäbe es gar nichts Richtiges zu essen, sondern sie würden sich vom Rohkostbuffet bedienen, an Müsliriegeln knabbern und einen Eiweißshake schlürfen, angereichert mit Kreatin für den Muskelaufbau. Arme Franzi. Armer wunderbarer Papa.
Der Gedanke ans Essen trieb Franziska in die Küche. Dort wurde sie von Birgit schon sehnsüchtig erwartet.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute alles erlebt habe, während du selig geschlummert hast. Im Zoo war es wunderschön, sie haben jetzt zwei kleine Elefanten. Gott, waren die süß. Danach waren wir noch im Kino. Ein rührender Trickfilm über Wale. Aber das Verrückteste kam erst auf dem Heimweg. Du wirst nicht erraten, wen ich da getroffen habe?“ Sie legte strahlend sechs Autogrammkarten von Gregor Silberhügl auf den Tisch. „Da staunst du, gell?“
„Ja, da staune ich. Drei hätten ja gereicht.“
„Das hab ich ihm auch gesagt.“ Er hat gar nicht gut ausgeschaut, der Gregor Silberhügl. Gar nicht wie ein erfolgreicher Sportler. Gehumpelt ist er. Außerdem hat er mir auch nur drei Autogrammkarten gegeben.“
„Und woher kommen die anderen drei?“
„Die sind von deinem Papa. Du solltest ihn mal wieder anrufen, er wirkte ganz schön wunderlich. Weißt du, er marschierte in einer Bergsteigerausrüstung durch Wien. Und dann hat er mir die drei anderen Karten in die Hand gedrückt.“
Franziska betrachtete die Bilder mit der immer gleichen Unterschrift. Mit den fünf gleichen Unterschriften. Und nahm sich die Karte heraus, auf der stand:
Danke und bis nächsten Sonntag
Dein Gregor
Morgen gehts weiter mit Montag. Obwohl da schon Mittwoch ist.
testsiegerin - 26. Aug, 07:59