Tatort
Ernestine lebte in einer Zimmer-Küche-Kabinettwohnung am Stadtrand von Wien. Der Dienstag war wie der Montag, der Mittwoch wie der Dienstag, der Donnerstag wie der Mittwoch und so fort. Ein Tag wie der andere. Nur der Sonntag, der war anders. Ganz anders eigentlich auch nicht, abgesehen davon, dass Ernestine am Sonntag nicht einkaufte, weil die Geschäfte geschlossen hatten, aber Ernestine stand um die gleiche Zeit auf wie an den restlichen Tagen, sie putzte die sauberen Fenster und kehrte den sauberen Boden. Oft wusch sie auch die saubere Wäsche, weil sich nicht genug Schmutzwäsche angesammelt hatte, abgesehen von den Putztüchern.
Sonntag war Tatort-Tag. Von Montag bis Mittwoch tauschte sie sich mit ihrem Nachbarn, mit dem sie sonst kaum ein Wort wechselte, über den sonntäglichen Tatort aus, von Donnerstag bis Sonntag freute sie sich auf den folgenden. Verbrechen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Computerkriminalität mochte sie nicht, da kannte sie sich meistens nicht aus und wusste zwar am Ende meistens, wer der Mörder war, verstand aber die Zusammenhänge nicht.
Die klassischen Themen, die waren Ernestine viel lieber. Eifersucht, Untreue, Vergewaltigung, Sexualüberfälle waren mehr nach ihrem Geschmack, gelegentlich auch Kindesmissbrauch oder ein kleiner Raubmord.
Von den vielen Kommissaren waren ihr Kain und Ehrlicher die liebsten gewesen, die beiden Ostdeutschen, und als Ehrlicher vergangenes Jahr in Rente ging, da schickte Ernestine ihm eine Glückwunschkarte zur Pensionierung und war richtig traurig.
Bei Thiel und Börne liebte sie die Dialoge, das Auto vom Börne und den alten Vater vom Thiel, den Taxifahrer. Der hatte so etwas Verwegenes und rauchte sogar Haschisch, obwohl sein Sohn Polizist war. Das hätte Ernestine sich nie getraut.
Nur die lesbischen Emanzen wie die Lena Odenthal, die konnte sie nicht leiden, weil sie immer auf supercool machte. Und Charlotte Lindholm war ihr zu depressiv. Überhaupt fand sie, dass Frauen nicht wirklich als Kommissare taugten. Trotzdem schaute sie sich jede Folge an.
„Und, Frau Doktor? Ist er wirklich hin?“, platzte es aus Ernestine heraus.
Die Ärztin kniete über dem Nachbarn und warf ihr einen giftigen Blick zu. „Pardon“, korrigierte Ernestine und machte die Schreibtischlade schnell wieder zu, nachdem sie einen Umschlag in ihre Schürze geschoben hatte, „...hin... hinübergegangen?“
Sie hatte ihn gefunden, vorhin, als sie ihm ein Stück Kuchen bringen wollte. Ernestine hatte geklopft, wie immer, aber er hatte nicht geöffnet, dabei wusste sie genau, dass er zu Hause war. Schließlich hatte sie ihn durch den Türspion beobachtet, als er am Nachmittag von seinem Spaziergang zurückkam. Ob ihm etwas zugestoßen war?
Mit dem Reserveschlüssel hatte sie aufgeschlossen, den armen Mann am Boden liegen sehen und sofort den Notarzt gerufen. Wenn sie gewusst hätte, dass die eine Frau schicken, hätte sie es sich vielleicht überlegt und gleich die Polizei verständigt. Bei der Polizei gab es nämlich zum Glück noch nicht so viele Frauen wie im Fernsehen.
Die Ärztin fühlte den nicht existierenden Puls. „Ja, schaut so aus, als hätte er die Ebenen gewechselt.“
Die Ebenen gewechselt. Wie geschwollen die daherredete. Vielleicht war sie sich ja einfach nicht sicher?
„Sie müssen ihm einen Spiegel vor den Mund halten“, riet Ernestine und freute sich über ihre gute Idee, „das hab ich beim Tatort gesehen.“
Da machten die Ärzte das auch immer, und wenn der Tote noch lebte, was aber im Tatort so gut wie nie der Fall war, dann beschlug sich der Spiegel vom Atem. Sie kramte einen Taschenspiegel aus der Schürzentasche und reichte ihn der Ärztin.
„Danke für den Tipp. Feststellen des Todes war im Medizinstudium kein Thema.“
„Ehrlich?“ Veräppelte diese Frau Doktor sie oder war sie tatsächlich so ahnungslos wie sie sich anstellte? Ernestine sah sich in ihrer Ansicht, dass nicht nur weibliche Kommissare, sondern auch weibliche Ärzte völlig unfähig waren, bekräftigt. Sie nahm den Deckel von der Dose auf dem Kästchen und schob sich einen Keks in den Mund. Einen ziemlich trockenen Keks. „Woran ist er denn abge...“, sie biss sich auf die Lippen, „gestorben?“
Ernestine ging zur Leiche und drückte dem Mann sanft die Augen zu. Sogar darauf hatte diese Ärztin vergessen. Ein bisschen mehr Würde hatte sich der Nachbar schon verdient.
„Vermutlich Herzstillstand.“
Die war vielleicht kurz angebunden. Das nächste Mal würde sie beim Roten Kreuz bitten, dass ein etwas gesprächigeres Exemplar geschickt wurde.
„Vielleicht ist er ja vergiftet worden?“ Bei diesem Gedanken erschrak Ernestine, spuckte den Keks hastig aus und versteckte die klebrige Masse unter dem Tischdeckchen. „Das kommt beim Tatort auch manchmal vor. Soll ich die KTU anrufen?“ Sie war erleichtert, endlich aktiv helfen zu können.
„Welche Kathi wollen Sie anrufen?“
„Nicht die Kathi, die kriminaltechnische Untersuchung. Wie beim Tatort.“ Damit kannte sie sich aus. Obwohl – sie hatte früher auch nicht gewusst, was die Abkürzung bedeutete und sah diese Unwissenheit der Ärztin deshalb lächelnd nach.
„Hier heißt das Spusi, Spurensicherung.“
Stimmt, wie hatte Ernestine das vergessen können? Der österreichische Kommissar, der Moritz Eisner, der rief auch immer die Spusi an. Den Eisner, den mochte sie als Bergdoktor ja viel lieber.
„Und die Spusi brauchen wir nicht“, fuhr die Ärztin fort und begann, den Totenschein auszufüllen, „wenn ein 98-jähriger an Altersschwäche stirbt. Sie schauen zu viel fern, meine Liebe.“
Ernestine verschränkte beleidigt die Arme vor dem Körper und verteidigte sich. „Gar nicht. Nur Tatort.“ Hoffentlich hatte das jetzt nicht zu scharf geklungen, denn Ernestine hätte sich trotz allem noch gern ein bisschen mit der Ärztin unterhalten, über ungelöste und mysteriöse Mordfälle zum Beispiel. Meistens war ja nichts los in dem Haus. „Darf ich Ihnen wenigstens einen Apfelstrudel anbieten, Frau Doktor?“, fragte sie versöhnlich. „Ich hab ein neues Rezept ausprobiert.“
„Aus dem Tatort?“
Entsetzt starrte Ernestine auf die Pendeluhr. Verdammt. Jetzt hatte sie den Tatort versäumt, das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes vor fast fünf Jahren. Und ausgerechnet heute ermittelten Max Ballauf und Freddy Schenk.
„Nein, da gibt’s keine Rezepte, nur Tote. Vom Perfekten Dinner.“
Sonntag war Tatort-Tag. Von Montag bis Mittwoch tauschte sie sich mit ihrem Nachbarn, mit dem sie sonst kaum ein Wort wechselte, über den sonntäglichen Tatort aus, von Donnerstag bis Sonntag freute sie sich auf den folgenden. Verbrechen im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Computerkriminalität mochte sie nicht, da kannte sie sich meistens nicht aus und wusste zwar am Ende meistens, wer der Mörder war, verstand aber die Zusammenhänge nicht.
Die klassischen Themen, die waren Ernestine viel lieber. Eifersucht, Untreue, Vergewaltigung, Sexualüberfälle waren mehr nach ihrem Geschmack, gelegentlich auch Kindesmissbrauch oder ein kleiner Raubmord.
Von den vielen Kommissaren waren ihr Kain und Ehrlicher die liebsten gewesen, die beiden Ostdeutschen, und als Ehrlicher vergangenes Jahr in Rente ging, da schickte Ernestine ihm eine Glückwunschkarte zur Pensionierung und war richtig traurig.
Bei Thiel und Börne liebte sie die Dialoge, das Auto vom Börne und den alten Vater vom Thiel, den Taxifahrer. Der hatte so etwas Verwegenes und rauchte sogar Haschisch, obwohl sein Sohn Polizist war. Das hätte Ernestine sich nie getraut.
Nur die lesbischen Emanzen wie die Lena Odenthal, die konnte sie nicht leiden, weil sie immer auf supercool machte. Und Charlotte Lindholm war ihr zu depressiv. Überhaupt fand sie, dass Frauen nicht wirklich als Kommissare taugten. Trotzdem schaute sie sich jede Folge an.
„Und, Frau Doktor? Ist er wirklich hin?“, platzte es aus Ernestine heraus.
Die Ärztin kniete über dem Nachbarn und warf ihr einen giftigen Blick zu. „Pardon“, korrigierte Ernestine und machte die Schreibtischlade schnell wieder zu, nachdem sie einen Umschlag in ihre Schürze geschoben hatte, „...hin... hinübergegangen?“
Sie hatte ihn gefunden, vorhin, als sie ihm ein Stück Kuchen bringen wollte. Ernestine hatte geklopft, wie immer, aber er hatte nicht geöffnet, dabei wusste sie genau, dass er zu Hause war. Schließlich hatte sie ihn durch den Türspion beobachtet, als er am Nachmittag von seinem Spaziergang zurückkam. Ob ihm etwas zugestoßen war?
Mit dem Reserveschlüssel hatte sie aufgeschlossen, den armen Mann am Boden liegen sehen und sofort den Notarzt gerufen. Wenn sie gewusst hätte, dass die eine Frau schicken, hätte sie es sich vielleicht überlegt und gleich die Polizei verständigt. Bei der Polizei gab es nämlich zum Glück noch nicht so viele Frauen wie im Fernsehen.
Die Ärztin fühlte den nicht existierenden Puls. „Ja, schaut so aus, als hätte er die Ebenen gewechselt.“
Die Ebenen gewechselt. Wie geschwollen die daherredete. Vielleicht war sie sich ja einfach nicht sicher?
„Sie müssen ihm einen Spiegel vor den Mund halten“, riet Ernestine und freute sich über ihre gute Idee, „das hab ich beim Tatort gesehen.“
Da machten die Ärzte das auch immer, und wenn der Tote noch lebte, was aber im Tatort so gut wie nie der Fall war, dann beschlug sich der Spiegel vom Atem. Sie kramte einen Taschenspiegel aus der Schürzentasche und reichte ihn der Ärztin.
„Danke für den Tipp. Feststellen des Todes war im Medizinstudium kein Thema.“
„Ehrlich?“ Veräppelte diese Frau Doktor sie oder war sie tatsächlich so ahnungslos wie sie sich anstellte? Ernestine sah sich in ihrer Ansicht, dass nicht nur weibliche Kommissare, sondern auch weibliche Ärzte völlig unfähig waren, bekräftigt. Sie nahm den Deckel von der Dose auf dem Kästchen und schob sich einen Keks in den Mund. Einen ziemlich trockenen Keks. „Woran ist er denn abge...“, sie biss sich auf die Lippen, „gestorben?“
Ernestine ging zur Leiche und drückte dem Mann sanft die Augen zu. Sogar darauf hatte diese Ärztin vergessen. Ein bisschen mehr Würde hatte sich der Nachbar schon verdient.
„Vermutlich Herzstillstand.“
Die war vielleicht kurz angebunden. Das nächste Mal würde sie beim Roten Kreuz bitten, dass ein etwas gesprächigeres Exemplar geschickt wurde.
„Vielleicht ist er ja vergiftet worden?“ Bei diesem Gedanken erschrak Ernestine, spuckte den Keks hastig aus und versteckte die klebrige Masse unter dem Tischdeckchen. „Das kommt beim Tatort auch manchmal vor. Soll ich die KTU anrufen?“ Sie war erleichtert, endlich aktiv helfen zu können.
„Welche Kathi wollen Sie anrufen?“
„Nicht die Kathi, die kriminaltechnische Untersuchung. Wie beim Tatort.“ Damit kannte sie sich aus. Obwohl – sie hatte früher auch nicht gewusst, was die Abkürzung bedeutete und sah diese Unwissenheit der Ärztin deshalb lächelnd nach.
„Hier heißt das Spusi, Spurensicherung.“
Stimmt, wie hatte Ernestine das vergessen können? Der österreichische Kommissar, der Moritz Eisner, der rief auch immer die Spusi an. Den Eisner, den mochte sie als Bergdoktor ja viel lieber.
„Und die Spusi brauchen wir nicht“, fuhr die Ärztin fort und begann, den Totenschein auszufüllen, „wenn ein 98-jähriger an Altersschwäche stirbt. Sie schauen zu viel fern, meine Liebe.“
Ernestine verschränkte beleidigt die Arme vor dem Körper und verteidigte sich. „Gar nicht. Nur Tatort.“ Hoffentlich hatte das jetzt nicht zu scharf geklungen, denn Ernestine hätte sich trotz allem noch gern ein bisschen mit der Ärztin unterhalten, über ungelöste und mysteriöse Mordfälle zum Beispiel. Meistens war ja nichts los in dem Haus. „Darf ich Ihnen wenigstens einen Apfelstrudel anbieten, Frau Doktor?“, fragte sie versöhnlich. „Ich hab ein neues Rezept ausprobiert.“
„Aus dem Tatort?“
Entsetzt starrte Ernestine auf die Pendeluhr. Verdammt. Jetzt hatte sie den Tatort versäumt, das erste Mal seit dem Tod ihres Mannes vor fast fünf Jahren. Und ausgerechnet heute ermittelten Max Ballauf und Freddy Schenk.
„Nein, da gibt’s keine Rezepte, nur Tote. Vom Perfekten Dinner.“
testsiegerin - 24. Apr, 20:34