Altes aus der Anstalt
Heute war ich bei der Abschiedsfeier meiner ehemaligen Knastkollegin.
Deshalb dieser Brief:
Liebe M.,
als deine Kollegin mich zu deiner Abschiedsfeier eingeladen hat, da kamen sie alle wieder hoch. Alle Erinnerungen aus meiner Zeit hier, die ich zum Teil mit dir gemeinsam verbracht habe.
„Wissen Sie“, sagte der - damals - schöne ärztliche Leiter an meinem ersten Arbeitstag und ging ununterbrochen auf und ab, so dass mir fast schwindelig wurde, „das ist hier kein Knast, sondern mehr eine therapeutische Einrichtung.“ Ich nickte. „Auch, wenn das nicht alle hier wahrhaben wollen“, fügte er hinzu.
„Wissen Sie“, sagte der nicht so schöne, massige Anstaltsleiter hinter seinem massigen Schreibtisch wenige Minuten später und zwirbelte seinen Schnurrbart, „das ist ein Gefängnis. Sehen Sie mal, es sind Gitter an den Fenstern.“ Ich nickte wieder. „Auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“, fügte er auch er hinzu.
Schon damals war mir klar: Hier sind nicht nur die Insassen verrückt. Ich fühlte mich zu Hause.
„Wissen Sie“, sagte einer der Bewohner an eben diesem ersten Arbeitstag. „Ich muss Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich hab eine Rasierklinge verschluckt.“ Wenigstens fügte er nicht „auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“ hinzu.
Nun komme ich ja aus einer Familie, in der man für gewöhnlich Nudelsuppe, Schweinebraten und Topfennockerl, höchstens einmal irrtümlich einen Kirschkern schluckte. Selbst da hatte ich das Gefühl, ich befinde mich in akuter Lebensgefahr, weil Oma davon überzeugt schien, dass nun in meinem Bauch ein Kirschbaum wächst. Als Mutprobe haben wir Regenwürmer gegessen. Niemals hätten wir gewagt, Löffel oder gar Rasierklingen zu schlucken.
„Gilette oder Wilkinson?“, fragte ich deshalb ungläubig.
„Weißt du“, klärte mich die Kollegin mit der Quietschstimme über das Ungleichgewicht im Ökosystem Anstaltsbiotop auf, „eine Sozialarbeiterin gilt hier als der natürliche Feind des Justizwachebeamten. Man betrachtet uns als naive Sozialromantikerinnen und linke Gutmenschen.“
Sie hatte Recht. Ich war sozial, romantisch und links. „Was ist schlecht daran, ein guter Mensch zu sein?“, fragte ich naiv. „Wäre es besser, ein schlechter zu sein?“
Ich hatte viele Fragen in meiner Anfangszeit: „Wie kann ich die Patienten von den Pflegern, Therapeuten und Psychiatern unterscheiden?“, flüsterte ich ihr zu, denn für mich wirkten alle ähnlich irre.
„An den Schlüsseln“, sagte sie, „ausschließlich an den Schlüsseln. Je größer der Schlüssel, umso wichtiger fühlen sie sich.“ Ich grinste. Das war nicht nur mit Schlüsseln so.
„Und was mache ich, wenn der Kerl, der die Frauen von hinten erschlagen hat, in meiner Nähe ist?“
„Geh einfach nie vor ihm.“
Die Zahl meiner natürlichen Feinde in der Anstalt wuchs von Tag zu Tag.
Als die Vergangenheit von Waldheims Ross in der SA bekannt wurde, trugen linke Gutmenschen wie ich als Zeichen ihrer Verachtung einen Sticker mit dem durchgestrichenem Buchstaben W.
„Frau Fallnbügl bitte dringend in die Anstaltsleitung kommen“, tönte es aus den Lautsprechern, kaum hatte ich die Schleuse passiert.
„Ich dulde politische Äußerungen in meiner Anstalt nicht“, polterte der Leiter. „Nehmen Sie diesen Anstecker sofort ab.“
„Wieso politisch?“ schaute ich ihn rehäugig an. „Ich bin gegen das Waldsterben. Sie etwa nicht?“
Als ich nach einem Außendienst erst später als üblich kam, bekam ich zu hören: „So gut möchte es mir auch einmal gehen, dass ich erst zu Mittag da eintrudle.“
„Hättet’s halt auch etwas gescheites gelernt“, schnappte ich, dabei hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, tatsächlich etwas gescheites gelernt zu haben.
Oft liefen mir die Tränen über die Wangen, nachdem ich am Abend die Anstalt verlassen hatte. Aber immer erst draußen, drinnen nie. Die sollten nicht sehen, wie schwach ich mich fühlte. Die sollten denken, ich wäre so stark, wie ich mich gab.
Schließlich musste ich etwas beweisen. Meinem Vater, vor allem aber mir selbst. Heute denke ich, dass es völlig verantwortungslos ist, junge Sozialarbeiterinnen ohne Berufserfahrung hier arbeiten zu lassen. Damals wollte ich kämpfen. Damals habe ich gekämpft. Sogar vor Gericht bin ich gezogen, weil ich überzeugt davon war, dass mir für meine Arbeit die Gefahrenzulage zusteht.
Ich habe viel gelernt in diesen Jahren. Über Menschen, vor allem aber über den Umgang mit der Macht. Darüber, dass man Ideale nicht über Bord werfen darf, nur weil man Gegenwind spürt. Auch wenn man weiß, dass man in solchen Systemen nur schwer etwas verändern kann.
Ich erinnere mich noch an eine Arbeitsgruppe zum Strafvollzugsgesetz. „Die Insassen sind mit Sie und mit Herr und Frau vor ihrem Namen anzusprechen“, haben wir ins Gesetz hineinreklamiert. Heast Deppada, oder im besten Fall Heast Oida schienen uns nicht angemessen.
Wir fühlten uns wie Revolutionärinnen.
Einmal wurde ich auf dem Nachhauseweg von der Polizei verfolgt. Mit Blaulicht. Nein, nicht wegen des Anti-Waldheim-Waldsterben-Stickers. Auch nicht wegen Schnellfahrens. Ich hatte selten Autos, mit denen man zu schnell fahren konnte. Ich hatte vergessen, den Anstaltsschlüssel abzugeben.
Kollegen und Kolleginnen kamen und gingen. Manche Kolleginnen heirateten sogar Insassen.
Du kamst und gingst nicht. Während ich wütend war und verzweifelt, zornig und traurig, dann warst du nach außen hin immer gelassen, geduldig und ruhig. Das hab ich an dir bewundert. Deine Kraft war nicht laut und polternd wie bei mir, sondern eine leise und stille Kraft. Eine, die vor allem durch ihre Sanftheit so stark war.
Bei dir hatte man nicht das Gefühl, dass du jemandem etwas beweisen musst, obwohl es wahrscheinlich auch so war. Wahrscheinlich mussten wir alle ständig etwas beweisen. Wer sonst arbeitet freiwillig mehr als zwanzig Jahre in einem Haus voller Verrückter.
Es sind viele Erinnerungen geblieben aus der Zeit. Vor allem aber drei Menschen, die mir immer noch sehr, sehr wichtig sind. Die Ergotherapeutin, du und mein Mann.
Vor ein paar Jahren hat meine Tochter in einem Schulaufsatz über mich geschrieben: Meine Mama ist Sachwalterin. Sie kümmert sich um behinderte Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. Vorher war sie dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Dort hat sie meinen Papa kennengelernt. Seit damals behandelt die Lehrerin sie sehr respektvoll.
Ja, ich hab Erfahrungen und Narben davongetragen aus der Anstalt. Und sogar mein Sohn hat eine Narbe auf der Stirn, und kann mal erzählen, dass er sich die im Gefängnis geholt hat. Er war ein Jahr alt, als er bei der Weihnachsfeier mit dem Kopf gegen das Podium gekracht ist und genäht werden musste.
Danke für deine Freundschaft. Danke, dass du für mich da warst, als es mir schlecht ging. Da kamst du mit zwei riesigen vollgefüllten Billa-Sackerln, weil du wusstest, dass wir keine Kohle hatten. Vor allem aber kamst du mit deinem großen, offenen Herzen. Mit deinem Herzen, das die Menschen einfach so nimmt, wie sie sind. Auch wenn wir uns nicht oft sehen, fühle ich mich dir nahe. Danke, dass du immer noch eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielst.
Jetzt ist es an der Zeit, dass du in deinem Leben die Hauptrolle spielst. Lass es dir gut gehen in der Pension. Schau auf dich. Scheiß auf den Seniorenteller und auf halbe Portionen. Gönn dir, was dir zusteht. Das pralle Leben.
Deshalb dieser Brief:
Liebe M.,
als deine Kollegin mich zu deiner Abschiedsfeier eingeladen hat, da kamen sie alle wieder hoch. Alle Erinnerungen aus meiner Zeit hier, die ich zum Teil mit dir gemeinsam verbracht habe.
„Wissen Sie“, sagte der - damals - schöne ärztliche Leiter an meinem ersten Arbeitstag und ging ununterbrochen auf und ab, so dass mir fast schwindelig wurde, „das ist hier kein Knast, sondern mehr eine therapeutische Einrichtung.“ Ich nickte. „Auch, wenn das nicht alle hier wahrhaben wollen“, fügte er hinzu.
„Wissen Sie“, sagte der nicht so schöne, massige Anstaltsleiter hinter seinem massigen Schreibtisch wenige Minuten später und zwirbelte seinen Schnurrbart, „das ist ein Gefängnis. Sehen Sie mal, es sind Gitter an den Fenstern.“ Ich nickte wieder. „Auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“, fügte er auch er hinzu.
Schon damals war mir klar: Hier sind nicht nur die Insassen verrückt. Ich fühlte mich zu Hause.
„Wissen Sie“, sagte einer der Bewohner an eben diesem ersten Arbeitstag. „Ich muss Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich hab eine Rasierklinge verschluckt.“ Wenigstens fügte er nicht „auch wenn das hier nicht alle wahrhaben wollen“ hinzu.
Nun komme ich ja aus einer Familie, in der man für gewöhnlich Nudelsuppe, Schweinebraten und Topfennockerl, höchstens einmal irrtümlich einen Kirschkern schluckte. Selbst da hatte ich das Gefühl, ich befinde mich in akuter Lebensgefahr, weil Oma davon überzeugt schien, dass nun in meinem Bauch ein Kirschbaum wächst. Als Mutprobe haben wir Regenwürmer gegessen. Niemals hätten wir gewagt, Löffel oder gar Rasierklingen zu schlucken.
„Gilette oder Wilkinson?“, fragte ich deshalb ungläubig.
„Weißt du“, klärte mich die Kollegin mit der Quietschstimme über das Ungleichgewicht im Ökosystem Anstaltsbiotop auf, „eine Sozialarbeiterin gilt hier als der natürliche Feind des Justizwachebeamten. Man betrachtet uns als naive Sozialromantikerinnen und linke Gutmenschen.“
Sie hatte Recht. Ich war sozial, romantisch und links. „Was ist schlecht daran, ein guter Mensch zu sein?“, fragte ich naiv. „Wäre es besser, ein schlechter zu sein?“
Ich hatte viele Fragen in meiner Anfangszeit: „Wie kann ich die Patienten von den Pflegern, Therapeuten und Psychiatern unterscheiden?“, flüsterte ich ihr zu, denn für mich wirkten alle ähnlich irre.
„An den Schlüsseln“, sagte sie, „ausschließlich an den Schlüsseln. Je größer der Schlüssel, umso wichtiger fühlen sie sich.“ Ich grinste. Das war nicht nur mit Schlüsseln so.
„Und was mache ich, wenn der Kerl, der die Frauen von hinten erschlagen hat, in meiner Nähe ist?“
„Geh einfach nie vor ihm.“
Die Zahl meiner natürlichen Feinde in der Anstalt wuchs von Tag zu Tag.
Als die Vergangenheit von Waldheims Ross in der SA bekannt wurde, trugen linke Gutmenschen wie ich als Zeichen ihrer Verachtung einen Sticker mit dem durchgestrichenem Buchstaben W.
„Frau Fallnbügl bitte dringend in die Anstaltsleitung kommen“, tönte es aus den Lautsprechern, kaum hatte ich die Schleuse passiert.
„Ich dulde politische Äußerungen in meiner Anstalt nicht“, polterte der Leiter. „Nehmen Sie diesen Anstecker sofort ab.“
„Wieso politisch?“ schaute ich ihn rehäugig an. „Ich bin gegen das Waldsterben. Sie etwa nicht?“
Als ich nach einem Außendienst erst später als üblich kam, bekam ich zu hören: „So gut möchte es mir auch einmal gehen, dass ich erst zu Mittag da eintrudle.“
„Hättet’s halt auch etwas gescheites gelernt“, schnappte ich, dabei hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, tatsächlich etwas gescheites gelernt zu haben.
Oft liefen mir die Tränen über die Wangen, nachdem ich am Abend die Anstalt verlassen hatte. Aber immer erst draußen, drinnen nie. Die sollten nicht sehen, wie schwach ich mich fühlte. Die sollten denken, ich wäre so stark, wie ich mich gab.
Schließlich musste ich etwas beweisen. Meinem Vater, vor allem aber mir selbst. Heute denke ich, dass es völlig verantwortungslos ist, junge Sozialarbeiterinnen ohne Berufserfahrung hier arbeiten zu lassen. Damals wollte ich kämpfen. Damals habe ich gekämpft. Sogar vor Gericht bin ich gezogen, weil ich überzeugt davon war, dass mir für meine Arbeit die Gefahrenzulage zusteht.
Ich habe viel gelernt in diesen Jahren. Über Menschen, vor allem aber über den Umgang mit der Macht. Darüber, dass man Ideale nicht über Bord werfen darf, nur weil man Gegenwind spürt. Auch wenn man weiß, dass man in solchen Systemen nur schwer etwas verändern kann.
Ich erinnere mich noch an eine Arbeitsgruppe zum Strafvollzugsgesetz. „Die Insassen sind mit Sie und mit Herr und Frau vor ihrem Namen anzusprechen“, haben wir ins Gesetz hineinreklamiert. Heast Deppada, oder im besten Fall Heast Oida schienen uns nicht angemessen.
Wir fühlten uns wie Revolutionärinnen.
Einmal wurde ich auf dem Nachhauseweg von der Polizei verfolgt. Mit Blaulicht. Nein, nicht wegen des Anti-Waldheim-Waldsterben-Stickers. Auch nicht wegen Schnellfahrens. Ich hatte selten Autos, mit denen man zu schnell fahren konnte. Ich hatte vergessen, den Anstaltsschlüssel abzugeben.
Kollegen und Kolleginnen kamen und gingen. Manche Kolleginnen heirateten sogar Insassen.
Du kamst und gingst nicht. Während ich wütend war und verzweifelt, zornig und traurig, dann warst du nach außen hin immer gelassen, geduldig und ruhig. Das hab ich an dir bewundert. Deine Kraft war nicht laut und polternd wie bei mir, sondern eine leise und stille Kraft. Eine, die vor allem durch ihre Sanftheit so stark war.
Bei dir hatte man nicht das Gefühl, dass du jemandem etwas beweisen musst, obwohl es wahrscheinlich auch so war. Wahrscheinlich mussten wir alle ständig etwas beweisen. Wer sonst arbeitet freiwillig mehr als zwanzig Jahre in einem Haus voller Verrückter.
Es sind viele Erinnerungen geblieben aus der Zeit. Vor allem aber drei Menschen, die mir immer noch sehr, sehr wichtig sind. Die Ergotherapeutin, du und mein Mann.
Vor ein paar Jahren hat meine Tochter in einem Schulaufsatz über mich geschrieben: Meine Mama ist Sachwalterin. Sie kümmert sich um behinderte Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. Vorher war sie dreieinhalb Jahre im Gefängnis. Dort hat sie meinen Papa kennengelernt. Seit damals behandelt die Lehrerin sie sehr respektvoll.
Ja, ich hab Erfahrungen und Narben davongetragen aus der Anstalt. Und sogar mein Sohn hat eine Narbe auf der Stirn, und kann mal erzählen, dass er sich die im Gefängnis geholt hat. Er war ein Jahr alt, als er bei der Weihnachsfeier mit dem Kopf gegen das Podium gekracht ist und genäht werden musste.
Danke für deine Freundschaft. Danke, dass du für mich da warst, als es mir schlecht ging. Da kamst du mit zwei riesigen vollgefüllten Billa-Sackerln, weil du wusstest, dass wir keine Kohle hatten. Vor allem aber kamst du mit deinem großen, offenen Herzen. Mit deinem Herzen, das die Menschen einfach so nimmt, wie sie sind. Auch wenn wir uns nicht oft sehen, fühle ich mich dir nahe. Danke, dass du immer noch eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielst.
Jetzt ist es an der Zeit, dass du in deinem Leben die Hauptrolle spielst. Lass es dir gut gehen in der Pension. Schau auf dich. Scheiß auf den Seniorenteller und auf halbe Portionen. Gönn dir, was dir zusteht. Das pralle Leben.
testsiegerin - 6. Dez, 18:57