testsiegerin - 10. Aug, 16:32
Manchmal kommt sie. Sie kommt nicht wie ein freundlich angekündigter Besuch, auf den ich mich freue und den ich bekoche und bewirte. Sie kommt auch nicht wie ein überraschender Gast, über den ich mich ebenfalls freue, selbst wenn der Kühlschrank leer ist und mit dem man sich dann Pizza bestellt und warmes Bier trinkt. Sie kommt mich überhaupt nicht besuchen, dabei würde ich sie sehr wohl hereinlassen, hin und wieder, ihr ein Bitter Lemon anbieten und mich mit ihr über ihre Nachbarn unterhalten, über die Sehnsucht, die Schwermut und den Tod.
Sie überfällt mich einfach. Von hinten. Ich sehe und höre sie nicht kommen, plötzlich ist sie da, sie lässt mir keine Zeit, mich darauf vorzubereiten oder mich auf sie einzustellen.
Sie erinnert mich an den Mann im Gefängnis, der junge, hübsche Frauen mit einem Maurerfäustel von hinten erschlagen und dann vergewaltigt hat. Ein kleiner, schmächtiger, alter Mann war er, einer, bei dem man das Gefühl hatte, er könne keiner Fliege etwas zu leide tun. Fliegen hat er auch nichts zuleide getan, zumindest weiß ich nichts davon. Auch zum Zeitpunkt der Morde viele Jahre vorher war er ein kleiner, schmächtiger Mann. Ein junger, schmächtiger, kleiner Mann. Das, was man ein Zniachtl nennt.
Seine Mutter hat er geliebt, hat er gesagt, als einzige Frau. Die anderen hat er gehasst, auch seine beiden Ehefrauen. In Wahrheit konnte er gar nicht lieben, auch nicht seine Mutter. Am allerwenigsten hat er sich selbst geliebt. Wahrscheinlich hat er diese Frauen – ich weiß nicht mehr, ob es drei oder sieben waren, das tut nichts zur Sache – obwohl es für die Frauen zwischen drei und sieben schon einen Unterschied gemacht hat, ob sie ermordet, schwer verletzt oder gesund geblieben sind – wahrscheinlich hat er diese Frauen stellvertretend für seine Mutter umgebracht.
Er stieg auf sein Fahrrad, um ein Stück größer zu sein, sich selbst zu erhöhen (heute brauchen Männer dazu einen Porsche); anstatt mit einem gesunden Selbstwertgefühl war er mit einem Maurerfäustel bewaffnet, und hat die Frauen von hinten mit diesem Hammer niedergeschlagen. In diesem Zusammenhang habe ich das erste Mal den Begriff Maurerfäustel gehört, nicht im Kontext mit Bauarbeiten.
„Wie soll ich mit ihm umgehen?“, habe ich damals meine Kollegen im Gefängnis gefragt. Sie haben gelacht und gemeint, der wäre ohnehin harmlos. „Geh halt nie vor ihm“, haben sie gesagt.
Weil das Schicksal manchmal einen sehr skurrilen Humor hat, wurde der Mann nur ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Haft von einer Frau mit einem Stich in den Rücken getötet. Aus Hass und Ekel.
Die Traurigkeit überfällt mich in unregelmäßigen Abständen auch von hinten. Der Rat meiner ehemaligen Kollegen "geh halt nicht vor ihr" hilft mir nicht weiter. Ich höre und sehe sie ja nicht kommen, kann daher nicht sagen „Gnädigste, nach Ihnen“ und sie großzügig mich überholen lassen. Und wenn ich mich zufällig umdrehe und sie herankommen sehe, wie sie mit ihren dünnen Beinen in die Pedale tritt, ist es zu spät.
Die kann doch niemandem etwas zuleide tun, denke ich noch, wie sie da schmächtig in gebückter Haltung auf dem schwarzen Waffenrad sitzt. Ich sehe das Maurerfäustel in der Hand der Traurigkeit nicht. (Später wird sie sagen, sie habe die Lebenslust und die Leichtigkeit gehasst und sie deshalb umgebracht.)
Sie grinst und holt aus.
Schnitt.
Ein schwacher Trost, dass sie – wenn das Schicksal seinen Humor bis dahin nicht verloren hat – irgendwann, wenn sie auf Bewährung in Freiheit ist, von der Fröhlichkeit erschlagen wird.
testsiegerin - 10. Aug, 09:17