Kurkolumne, die Siebente
Unterwassertherapie u.E. mit Physiotherapeutin Kathrin.
„Quäle mich“, denke ich, „ich will mit einem fettreduzierten und muskelbepackten Körper in meinen Berufsalltag zurückkehren.“ Leider taugt Kathrin nicht einmal ansatzweise zur Domina, sondern ist einfach ein liebes Mädchen. Ein einfaches, liebes Mädchen. Von Unterwassertherapie versteht sie so viel wie ich von elektrischen Fernthermometern und Askese. „Planschen für Anfänger“ nennen wir ihren Kurs.
In der Früh öffnet sie den Schrank mit den Requisiten für die Unterwassergymnastik und greift nach Zufallsprinzip eine Kiste heraus. Heute sind es die Froschhandschuhe, die haben Schwimmhäute zwischen den Fingern. Quaaak. Für maximalen Wasserwiderstand. Quaaak. Es ist aber völlig egal, was sie herausnimmt, ob die Hanteln, die Scheiben, die Bälle oder die Fußfesseln, Kathrin spult dasselbe Programm herunter wie im Gymnastikraum. Kurz überlege ich, wozu Froschände für die unteren Extremitäten wichtig sind, aber im nächsten Augenblick hüpfen wir auch schon in die Höhe (was den Froschhänden ziemlich egal ist), oder wir strecken die Froschhände in die Luft, setzen einen Ausfallschritt nach hinten und machen Kniebeugen. Die Kleinen von uns ertrinken dabei. Kathrin macht weiter, als wäre nichts geschehen. Ich bin gespannt, wann ich mich im Wasser auf den Rücken legen und mit den Froschhandschuhen gerade Crunches für die Bauchmuskeln machen muss.
Nach dieser anstrengenden Einheit schwimmen Susanne und ich, und zwar 123 Längen. Wobei ich zugeben muss, dass es sich bei den Längen eher um Kürzen als um Längen handelt. Jedes Mal, wenn wir uns entgegenkommen, wechseln wir ein paar Worte miteinander.
„Die Frisur hält“, sagt sie bei einer Länge.
„Wessen Frisur?“, frage ich bei der nächsten.
„Deine nicht“, sagt sie bei der übernächsten.
„Sondern?“ Ich bei der überübernächsten.
„Rat mal.“ Sie bei der überüberübernächsten.
„Ah, von der Fönwelle da drüben.“
„Yepp.“
So geht das 123 Längen lang.
Die tätowierte Fönwelle da drüben hat gestern auch zu Andrea Berg getanzt und mitgesungen. Im Camp David Hemd und mit schwerer Goldkette. Das Camp David Hemd hat er beim Schwimmen nicht an.
*
Wenn Meister Toni mich zärtlich „Madalan“ nennt, verzeih ich ihm das. Weil er meine Rücken- und Gesäßmuskeln so schön durchknetet. Diesem Mann würde ich alles verzeihen. Dem Gustl verzeih ich es nicht, wenn er die Terrasse betritt und „Wos is mit eich, Girls!“, sagt. Er reagiert nicht auf höfliche Ablehnung in Form von Augenrollen und Schweigen, nur auf ein deftiges „Schleich di!“
Gustl ist ein tollkühner Typ und stellt sich auf die metabolische Waage, meinen Angstgegner. Viszeraler Fettanteil, Muskelmasse, Wasseranteil, BMI, Kaloriengrundumsatz, das Stoffwechselalter... diese Wunderwuzziwaage kann alles ausrechnen (Aber ich muss nicht alles wissen. Mir ist wichtig, dass ich mich in meinem Körper wohl fühle, aber manche Menschen vertrauen einer Waage mehr als ihrem Körpergefühl).
Gustl, zur Untergruppe der Blitzgneißer gehörig, starrt verwundert auf das Blatt Papier, das die Waage ausspuckt. Dann holt er sich einen Stift, addiert manche und multipliziert andere Zahlen auf dem Zettel und dividiert dann das Produkt durch sein Lebensalter. Vielleicht will er uns beweisen, dass er rechnen kann.
„Was soll denn der Scheiß?“, beschwert er sich bei der Diätologin, „ich bin 127?“
*
Von Karin hab ich noch nicht erzählt. Karin ist Mitte Vierzig, wunderschön, ihr Haar so schwarz wie Ebenholz und die Lippen rot wie Blut. Sie ist immer hinreißend gekleidet mit dazu passenden High Heels, in denen sie sogar gehen kann. Ich würde sie gern dafür verachten, dass die Natur ihr alles gegeben hat und manchen nichts, aber das geht nicht, denn Karin hat für jeden ein freundliches Lächeln und ein aufmunterndes Wort auf den Lippen. Alle Kurmänner lieben Karin, also natürlich außer die, die mit ihren Frauen da sind, die dürfen Karin nicht lieben, sondern lieben nur die „Meinige“, die sie, wenn sie in der Sauna unter sich sind, abfällig als „mei Oide“ bezeichnen.
Beim Kurkonzert ist Karin ständig auf der Tanzfläche, jedes Mal mit einem anderen Mann, nicht nur mit Pedro, diesem schleimigen Italo-Generikum, der fast alle Frauen zum Tanzen auffordert. Wenn Pedro nicht tanzt, spaziert er mit einem kurzen Hoserl und Tank Top herum, lässt seine Muskeln spielen und sich bewundern. Ich finde solche Männer abstoßend.
Die Tanzkarte von Karin ist vorne und hinten restlos ausgefüllt. Meine ist leer.
Auch alle Frauen mögen Karin, nie lästert sie über andere, nie hört man ein böses Wort von ihr, immer lächelt sie.
Wie schaffen manche Menschen das, frage ich mich, die ich das nie hingekriegt habe, obwohl ich mich so angestrengt habe. Mich haben sie in der Schule, während des Studiums, im Gefängnis, in der Arbeit immer entweder gemocht oder gehasst. Ich hab immer polarisiert, weil ich zu laut, zu frech, zu undiplomatisch und zu schroff war. Mein ganzes Leben lang hab ich die Mädels beneidet, die jeder gern gehabt hat. Mit denen jeder tanzen und danach ins Bett wollte.
Karin beneide ich nicht. Karin hatte Krebs. „Ich wollte immer von allen geliebt werden“, erzählt sie, „schon als Kind. Ich war immer die hübsche, brave, liebe Karin. Als mein Mann eine andere geliebt und sich scheiden lassen hat, bin ich krank geworden. Selbst da war ich zu allen lieb, habe sie trösten müssen, weil es ihnen so schlecht ging, weil ich krank war.“
Vielleicht ist es doch nicht so erstrebenswert, von allen geliebt zu werden.
*
Ich muss euch ein Geständnis machen. Nein, kein Kurschatten. Wo keine Sonne, kein Schatten, wie Brigittes Kusine und nun auch wir wissen. „Das Leben verfolgt uns wie unser eigener Schatten. Nur wenn alles Schatten ist, ist kein Schatten. Das Leben verfolgt uns nur dann nicht, wenn wir uns ihm ausliefern.“ Aus Ferdinand Pessoa, Das Buch der Unruhe. Bildungsauftrag Ende.
Ich hab es getan. Ich habe mich dem Leben und der Waage ausgeliefert. Ich war ein schwaches Weib und habe dem Gruppendruck der Menschen am Frühstückstisch und in der Bar, die ihre metabolischen Ausdrucke vergleichen und über Impedanz und viszerales Bauchfett reden, nicht standgehalten. Ja, ich habe mich – nach einigen Hindernissen – auf die Wunderwuzziwaage gestellt. In der Früh und mit entleerter Blase, wie die Diätologin es uns gezeigt hat.
Es war ein Fehler. Ich schäme mich zutiefst wegen meiner Disziplinlosigkeit, meinem Vorsatz, dieses Unding nicht zu betreten, untreu geworden zu sein.
Zunächst muss ich das geschätzte Gewicht meiner Bekleidung eingeben. So ein Bademantel wiegt ganz schön, sag ich euch. 4 Kilo, tippe ich ein, gehe auf die Clearingtaste und ändere auf 5. Wegen des Gürtels. Und nach den Dehnungsübungen bin ich immer zirka 1,65.
Vielleicht ist in der Waage ein Lügendetektor eingebaut, denn plötzlich beginnt sie zu piepsen. Zum Glück kommt grad jemand vorbei. Zum Pech ist es Pedro, der Casanova für Arme.
„Kennst du dich da aus?“, frage ich.
„Ja.“
„Kannst du mir bitte helfen?“
„Nein.“ Sprichts und geht weiter. Er hat anscheinend nicht nur seine 225 Gramm Gehirn bei der Rezeption abgegeben, sondern auch seine guten Manieren.
Ich bin so verblüfft, dass ich ihm nicht einmal ein gepflegtes „Arschloch“ mit auf den Weg geben kann.
Wie ich später beim vormittäglichen Ablästern erfahre, ist Pedro Taxitänzer. Nein, er tanzt nicht in Taxis. Er wird von Hotels gebucht, um das Eis zu brechen und ist deshalb immer als erster auf der Tanzfläche. Während Gustl, der halt gern tanzt und sich für unwiderstehlich hält und das umsonst macht, ist Pedro so eine Art männliche Nutte für Cha cha cha.
„Unser Kodex erlaubt keine Zutraulichkeiten“, steht auf der Homepage der Taxitänzer. Papier und Computerbildschirme sind geduldig. Wie er die Wasserstoffblonde zwischen den Tänzen angesehen und angegriffen hat, ich schwöre, das hatte nichts mit professioneller Distanz zu tun.
Ich hab ja nix gegen Wasserstoffblondinen, aber...
Wahrscheinlich hätte ich ihm Geld bieten müssen, damit er mir diese Waage erklärt.
Ich hab’s dann doch noch geschafft. Wäre aber besser gewesen, wenn nicht. Gestern hab ich euch ja noch großspurig erzählt, dass ich auf meinen Körper und nicht auf eine hirnlose Waage höre und mich in meinem Körper wohl fühle, so wie er ist. Sogar das Norditsch Walken für Fortgeschrittene hab ich mit Auszeichnung bestanden. Überheblich hab ich am Frühstückstisch getönt, dass man dem Gewicht nicht zu viel Gewicht beimessen sollte, weil Zahlen nichts über Menschen und ihre inneren Werte aussagen.
Heut sitz ich da mit dem Ausdruck und heule. Es fällt mir ganz schön schwer, meinen Fokus auf das Positive im Leben und an meinem Körper zu lenken. Mein Auto fährt, meiner Familie geht’s gut, mein Herz schlägt, der Muskelanteil ist in Ordnung, immerhin. Blutzucker und Blutdruck auch, das hab ich gleich gemessen, wo ich schon mal an der Messstation bin.
Aber wozu bitte lasse ich diverse Eier dreimal den Donauturm hinauf- und hinunterzischen, wenn meine gestählte Beckenbodenmuskulatur dann den Rest meines Körpers doch nicht zur Fettverbrennung einlädt?
Wenn ich 20 Kilo abnehme, bin ich ideal, sagt die Arschlochwaage. Es ist der Sinn der Ideale, dass sie nicht verwirklicht werden können, sagt Fontane. Wenn ich zwanzig Kilo abnehme bin ich frustriert, abgemagert, todtraurig und lustlos, sage ich. Ich finde, ich bin eine großartige Philosophin.
Ich hab eine Idee. Ich mach es wie die ÖVP im Untersuchungsausschuss. Ich werde den Fettanteil einfach schwärzen. Was man nicht sieht, ist nicht da. Oder ich mach es wie Gustl und addiere und subtrahiere und multipliziere und dividiere, bis irgendeine unmögliche Zahl herauskommt. Und dann beschwere ich mich bei der Diätologin.
Oder ich verbringe eine Nacht in der Kältekammer. Ich freue mich, dass ich so viele Wahlmöglichkeiten habe.
Heut hab ich meine Tochter gefragt, ob mein Mann mich schon sehr vermisst. Er ist ja eine coole Sau und kann es nicht zugeben am Telefon. Da sagt er auf diese Frage nur: „Na und wie“ und lacht und irgendwie klingt das nicht ganz ehrlich. Also hab ich mein Kind gefragt, wie sie seine seelische Verfassung während meiner Abwesenheit einschätzt.
„Er weint viel“, sagt sie, „aber mach dir keine Sorgen, er schafft das!“
„Quäle mich“, denke ich, „ich will mit einem fettreduzierten und muskelbepackten Körper in meinen Berufsalltag zurückkehren.“ Leider taugt Kathrin nicht einmal ansatzweise zur Domina, sondern ist einfach ein liebes Mädchen. Ein einfaches, liebes Mädchen. Von Unterwassertherapie versteht sie so viel wie ich von elektrischen Fernthermometern und Askese. „Planschen für Anfänger“ nennen wir ihren Kurs.
In der Früh öffnet sie den Schrank mit den Requisiten für die Unterwassergymnastik und greift nach Zufallsprinzip eine Kiste heraus. Heute sind es die Froschhandschuhe, die haben Schwimmhäute zwischen den Fingern. Quaaak. Für maximalen Wasserwiderstand. Quaaak. Es ist aber völlig egal, was sie herausnimmt, ob die Hanteln, die Scheiben, die Bälle oder die Fußfesseln, Kathrin spult dasselbe Programm herunter wie im Gymnastikraum. Kurz überlege ich, wozu Froschände für die unteren Extremitäten wichtig sind, aber im nächsten Augenblick hüpfen wir auch schon in die Höhe (was den Froschhänden ziemlich egal ist), oder wir strecken die Froschhände in die Luft, setzen einen Ausfallschritt nach hinten und machen Kniebeugen. Die Kleinen von uns ertrinken dabei. Kathrin macht weiter, als wäre nichts geschehen. Ich bin gespannt, wann ich mich im Wasser auf den Rücken legen und mit den Froschhandschuhen gerade Crunches für die Bauchmuskeln machen muss.
Nach dieser anstrengenden Einheit schwimmen Susanne und ich, und zwar 123 Längen. Wobei ich zugeben muss, dass es sich bei den Längen eher um Kürzen als um Längen handelt. Jedes Mal, wenn wir uns entgegenkommen, wechseln wir ein paar Worte miteinander.
„Die Frisur hält“, sagt sie bei einer Länge.
„Wessen Frisur?“, frage ich bei der nächsten.
„Deine nicht“, sagt sie bei der übernächsten.
„Sondern?“ Ich bei der überübernächsten.
„Rat mal.“ Sie bei der überüberübernächsten.
„Ah, von der Fönwelle da drüben.“
„Yepp.“
So geht das 123 Längen lang.
Die tätowierte Fönwelle da drüben hat gestern auch zu Andrea Berg getanzt und mitgesungen. Im Camp David Hemd und mit schwerer Goldkette. Das Camp David Hemd hat er beim Schwimmen nicht an.
*
Wenn Meister Toni mich zärtlich „Madalan“ nennt, verzeih ich ihm das. Weil er meine Rücken- und Gesäßmuskeln so schön durchknetet. Diesem Mann würde ich alles verzeihen. Dem Gustl verzeih ich es nicht, wenn er die Terrasse betritt und „Wos is mit eich, Girls!“, sagt. Er reagiert nicht auf höfliche Ablehnung in Form von Augenrollen und Schweigen, nur auf ein deftiges „Schleich di!“
Gustl ist ein tollkühner Typ und stellt sich auf die metabolische Waage, meinen Angstgegner. Viszeraler Fettanteil, Muskelmasse, Wasseranteil, BMI, Kaloriengrundumsatz, das Stoffwechselalter... diese Wunderwuzziwaage kann alles ausrechnen (Aber ich muss nicht alles wissen. Mir ist wichtig, dass ich mich in meinem Körper wohl fühle, aber manche Menschen vertrauen einer Waage mehr als ihrem Körpergefühl).
Gustl, zur Untergruppe der Blitzgneißer gehörig, starrt verwundert auf das Blatt Papier, das die Waage ausspuckt. Dann holt er sich einen Stift, addiert manche und multipliziert andere Zahlen auf dem Zettel und dividiert dann das Produkt durch sein Lebensalter. Vielleicht will er uns beweisen, dass er rechnen kann.
„Was soll denn der Scheiß?“, beschwert er sich bei der Diätologin, „ich bin 127?“
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Von Karin hab ich noch nicht erzählt. Karin ist Mitte Vierzig, wunderschön, ihr Haar so schwarz wie Ebenholz und die Lippen rot wie Blut. Sie ist immer hinreißend gekleidet mit dazu passenden High Heels, in denen sie sogar gehen kann. Ich würde sie gern dafür verachten, dass die Natur ihr alles gegeben hat und manchen nichts, aber das geht nicht, denn Karin hat für jeden ein freundliches Lächeln und ein aufmunterndes Wort auf den Lippen. Alle Kurmänner lieben Karin, also natürlich außer die, die mit ihren Frauen da sind, die dürfen Karin nicht lieben, sondern lieben nur die „Meinige“, die sie, wenn sie in der Sauna unter sich sind, abfällig als „mei Oide“ bezeichnen.
Beim Kurkonzert ist Karin ständig auf der Tanzfläche, jedes Mal mit einem anderen Mann, nicht nur mit Pedro, diesem schleimigen Italo-Generikum, der fast alle Frauen zum Tanzen auffordert. Wenn Pedro nicht tanzt, spaziert er mit einem kurzen Hoserl und Tank Top herum, lässt seine Muskeln spielen und sich bewundern. Ich finde solche Männer abstoßend.
Die Tanzkarte von Karin ist vorne und hinten restlos ausgefüllt. Meine ist leer.
Auch alle Frauen mögen Karin, nie lästert sie über andere, nie hört man ein böses Wort von ihr, immer lächelt sie.
Wie schaffen manche Menschen das, frage ich mich, die ich das nie hingekriegt habe, obwohl ich mich so angestrengt habe. Mich haben sie in der Schule, während des Studiums, im Gefängnis, in der Arbeit immer entweder gemocht oder gehasst. Ich hab immer polarisiert, weil ich zu laut, zu frech, zu undiplomatisch und zu schroff war. Mein ganzes Leben lang hab ich die Mädels beneidet, die jeder gern gehabt hat. Mit denen jeder tanzen und danach ins Bett wollte.
Karin beneide ich nicht. Karin hatte Krebs. „Ich wollte immer von allen geliebt werden“, erzählt sie, „schon als Kind. Ich war immer die hübsche, brave, liebe Karin. Als mein Mann eine andere geliebt und sich scheiden lassen hat, bin ich krank geworden. Selbst da war ich zu allen lieb, habe sie trösten müssen, weil es ihnen so schlecht ging, weil ich krank war.“
Vielleicht ist es doch nicht so erstrebenswert, von allen geliebt zu werden.
*
Ich muss euch ein Geständnis machen. Nein, kein Kurschatten. Wo keine Sonne, kein Schatten, wie Brigittes Kusine und nun auch wir wissen. „Das Leben verfolgt uns wie unser eigener Schatten. Nur wenn alles Schatten ist, ist kein Schatten. Das Leben verfolgt uns nur dann nicht, wenn wir uns ihm ausliefern.“ Aus Ferdinand Pessoa, Das Buch der Unruhe. Bildungsauftrag Ende.
Ich hab es getan. Ich habe mich dem Leben und der Waage ausgeliefert. Ich war ein schwaches Weib und habe dem Gruppendruck der Menschen am Frühstückstisch und in der Bar, die ihre metabolischen Ausdrucke vergleichen und über Impedanz und viszerales Bauchfett reden, nicht standgehalten. Ja, ich habe mich – nach einigen Hindernissen – auf die Wunderwuzziwaage gestellt. In der Früh und mit entleerter Blase, wie die Diätologin es uns gezeigt hat.
Es war ein Fehler. Ich schäme mich zutiefst wegen meiner Disziplinlosigkeit, meinem Vorsatz, dieses Unding nicht zu betreten, untreu geworden zu sein.
Zunächst muss ich das geschätzte Gewicht meiner Bekleidung eingeben. So ein Bademantel wiegt ganz schön, sag ich euch. 4 Kilo, tippe ich ein, gehe auf die Clearingtaste und ändere auf 5. Wegen des Gürtels. Und nach den Dehnungsübungen bin ich immer zirka 1,65.
Vielleicht ist in der Waage ein Lügendetektor eingebaut, denn plötzlich beginnt sie zu piepsen. Zum Glück kommt grad jemand vorbei. Zum Pech ist es Pedro, der Casanova für Arme.
„Kennst du dich da aus?“, frage ich.
„Ja.“
„Kannst du mir bitte helfen?“
„Nein.“ Sprichts und geht weiter. Er hat anscheinend nicht nur seine 225 Gramm Gehirn bei der Rezeption abgegeben, sondern auch seine guten Manieren.
Ich bin so verblüfft, dass ich ihm nicht einmal ein gepflegtes „Arschloch“ mit auf den Weg geben kann.
Wie ich später beim vormittäglichen Ablästern erfahre, ist Pedro Taxitänzer. Nein, er tanzt nicht in Taxis. Er wird von Hotels gebucht, um das Eis zu brechen und ist deshalb immer als erster auf der Tanzfläche. Während Gustl, der halt gern tanzt und sich für unwiderstehlich hält und das umsonst macht, ist Pedro so eine Art männliche Nutte für Cha cha cha.
„Unser Kodex erlaubt keine Zutraulichkeiten“, steht auf der Homepage der Taxitänzer. Papier und Computerbildschirme sind geduldig. Wie er die Wasserstoffblonde zwischen den Tänzen angesehen und angegriffen hat, ich schwöre, das hatte nichts mit professioneller Distanz zu tun.
Ich hab ja nix gegen Wasserstoffblondinen, aber...
Wahrscheinlich hätte ich ihm Geld bieten müssen, damit er mir diese Waage erklärt.
Ich hab’s dann doch noch geschafft. Wäre aber besser gewesen, wenn nicht. Gestern hab ich euch ja noch großspurig erzählt, dass ich auf meinen Körper und nicht auf eine hirnlose Waage höre und mich in meinem Körper wohl fühle, so wie er ist. Sogar das Norditsch Walken für Fortgeschrittene hab ich mit Auszeichnung bestanden. Überheblich hab ich am Frühstückstisch getönt, dass man dem Gewicht nicht zu viel Gewicht beimessen sollte, weil Zahlen nichts über Menschen und ihre inneren Werte aussagen.
Heut sitz ich da mit dem Ausdruck und heule. Es fällt mir ganz schön schwer, meinen Fokus auf das Positive im Leben und an meinem Körper zu lenken. Mein Auto fährt, meiner Familie geht’s gut, mein Herz schlägt, der Muskelanteil ist in Ordnung, immerhin. Blutzucker und Blutdruck auch, das hab ich gleich gemessen, wo ich schon mal an der Messstation bin.
Aber wozu bitte lasse ich diverse Eier dreimal den Donauturm hinauf- und hinunterzischen, wenn meine gestählte Beckenbodenmuskulatur dann den Rest meines Körpers doch nicht zur Fettverbrennung einlädt?
Wenn ich 20 Kilo abnehme, bin ich ideal, sagt die Arschlochwaage. Es ist der Sinn der Ideale, dass sie nicht verwirklicht werden können, sagt Fontane. Wenn ich zwanzig Kilo abnehme bin ich frustriert, abgemagert, todtraurig und lustlos, sage ich. Ich finde, ich bin eine großartige Philosophin.
Ich hab eine Idee. Ich mach es wie die ÖVP im Untersuchungsausschuss. Ich werde den Fettanteil einfach schwärzen. Was man nicht sieht, ist nicht da. Oder ich mach es wie Gustl und addiere und subtrahiere und multipliziere und dividiere, bis irgendeine unmögliche Zahl herauskommt. Und dann beschwere ich mich bei der Diätologin.
Oder ich verbringe eine Nacht in der Kältekammer. Ich freue mich, dass ich so viele Wahlmöglichkeiten habe.
Heut hab ich meine Tochter gefragt, ob mein Mann mich schon sehr vermisst. Er ist ja eine coole Sau und kann es nicht zugeben am Telefon. Da sagt er auf diese Frage nur: „Na und wie“ und lacht und irgendwie klingt das nicht ganz ehrlich. Also hab ich mein Kind gefragt, wie sie seine seelische Verfassung während meiner Abwesenheit einschätzt.
„Er weint viel“, sagt sie, „aber mach dir keine Sorgen, er schafft das!“
testsiegerin - 31. Mai, 07:12