Donnerstag, 4. Juni 2015

Kurkolumne, der letzte Tag

„Die Kur hat dich von der Krankheit kuriert, aber wer kuriert dich von der Kur?“, hat Marie Ebner von Eschenbach gefragt.
Mich braucht niemand zu kurieren. Mir geht’s wunderbar.

Wäre das hier keine Kur, sondern ein Esoterikseminar, wir würden am letzten Abend im Sesselkreis sitzen und in der Mitte würde ein Blumenstrauß und eine brennende Kerze stehen, zur Fokussierung. Die Seminarleiterin würde uns einladen, einander die Hände zu reichen, die linke Hand empfangend, die rechte gebend. „3 Wochen sind jetzt vorbei“, würde sie sagen, als ob wir das nicht längst wüssten, und salbungsvoll hinzufügen: „Was nehmen wir mit? Was lassen wir da? Wer immer beginnen mag, der beginnt.“
Wir würden in das Flackern der Kerze, auf die Blumen oder auf den Boden starren und das Muster des Teppichs auswendig lernen. Ich würde denken: „Schöne Sonnenblumen.“ Sonnenblumen sind nämlich meine Lieblingsblumen.

Alle würden betreten und verlegen schweigen, bis Brigitte sich erbarmen und ein Herz fassen würde: „Ich nehme viele schöne Erinnerungen mit und die Tipps der Diätologin und die Buchtipps der Psychologin und die Fotos von der Kirche. Was ich hier lasse? Hier lasse ich das Gefühl, immer für die anderen da sein zu müssen und alles auf meiner Liste erledigen zu müssen. Danke!“ Brigitte würde nach diesen Worten aufstehen und zur Tür gehen. „Ich muss mich leider jetzt schon verabschieden, mein Mann wartet draußen, wir müssen noch auf den Friedhof, das Grab meiner Ururgroßmutter besuchen. Die kränkt sich, wenn wir nicht kommen.“

Pedro, der Taxitänzer, würde nur die Augen rollen und weder etwas mitnehmen noch dalassen. Er versteht nicht, was das hier soll.

„Ich nehme das Wasserbett mit dem Masseur innen drinnen mit, und das Körperfett lasse ich da“, würde ich das neuerliche Schweigen brechen, „und die Sonnenblumen nehme ich auch mit.“ Mit diesen Worten würde ich mir der Blumenstrauß greifen. „Ah ja: Und in meinem Herzen nehme ich die Heike mit.“ Beim Gedanken an sie wird mir ganz warm ums Herz.

Gustl lässt nichts da, das wäre ja noch schöner, er nimmt alles mit, was er hergebracht hat. Auch seine Dummheit.

Laura freut sich auf die Baustelle und lässt die Illusion da, die Wolfgang mit den türkisblauen Augen eine Woche lang in ihr erzeugt hat.
Susanne nimmt Abstand zu all dem Schmarrn zu Hause mit und lässt 5 Kilo da.

Die Seminarleiterin lächelt gequält und wirkt mitgenommen, obwohl sie dagelassen wird.

Weil es sich hier weder um ein Seminar noch um Urlaub handelt, gibt es keinen Sesselkreis und keine Seminarleiterin. Und so sitze ich mit der Handvoll Frauen, die ich liebgewonnen hab, in der Kurkonditorei. Wir scheißen auf die Kurkalorien, essen Heidelbeertorte, Punschkrapfen und Eiskaffee und jagen den Blutzuckerspiegel in ungeahnte Höhen. Wir reden über den Tod, übers Leben und über Marion, die Frau des ehemaligen Fabrikanten, die dem Zimmerservice verbietet zu putzen, weil ihr hier langweilig ist und sie die Dusche selber putzen möchte, damit die Zeit vergeht. Sie hat auch angeboten, unsere Duschen zu putzen.

A propos Dusche: Geduscht und gebadet hab ich in den letzten beiden Jahren nicht so oft wie hier. Zwischen meinen Fingern bilden sich Schwimmhäute und an meinem Körper wachsen Schuppen. Körper und Seele sind rein wie von der Jungfrau Maria. Susanne lacht bei diesem Vergleich laut, ich weiß nicht, warum.
Noch vor 200 Jahren hat Napoléon seiner Joséphine geschrieben: „Wasch dich nicht, ich komme.“ So ändern sich die Zeiten.

Nachdem ich das letzte Mal die 45 Stufen zu meinem Zimmer gegangen bin, packe ich in meine vielen Koffer hauptsächlich Ruhe, jede Menge Gelassenheit und eine fröhliche Zufriedenheit. Vor allem packe ich die Gewissheit ein, dass ich richtig bin, wie ich bin, auch mit zu viel Körperfett und einer Zahnlücke. (Dafür war ich die Heldin des Koordinationstrainings, yeah! In den ersten Reifen einen Schritt, in den zweiten zwei Schritte, in den dritten drei... Man glaubt gar nicht, wie viele Leute damit überfordert sind.)

Den Ausdruck der metabolischen Waage verbrenne ich in einem kleinen Ritual auf dem Balkon und der Ausdruck in meinem Gesicht hellt sich dabei auf, nicht nur vom Feuerschein. Fettverbrennung ganz ohne Anstrengung, so mag ich sie. Ich hoffe, dass der Brandmelder nicht los geht und die Feuerwehr nicht aufgrund meines Körperfetts ausrücken muss. Das kostet 500 Euro, hat der Kurdirektor bei seiner Antrittsrede betont. Egal, Freiheit kostet eben.
Ich atme tief aus, verscheuche den Rauch mit meinen Händen und fächle mir bei jedem Einatem frische Luft zu. Dabei wiederhole ich dreimal: „Alles Schlechte weg von mir, alles Gute her zu mir.“

In der Früh gebe ich meinen Schlüssel zurück. Die Rezeptionistin legt die Lade mit den Gehirnen an die Theke und sagt: „Suchen Sie sich eins aus.“
Ich schaue mir die Gehirne der hochbegabten und tiefbegabten Kurgäste noch einmal genau an, um nicht irrtümlich das von Pedro oder Gustl zu erwischen.
Da ist meines! Rosig durchblutet, gut erholt und wunderschön. Zwischen den Windungen Witz und Ironie. Das will ich, und kein anderes.

Im Auto hat es 38 Grad. Vielleicht hätte ich doch in die Kältekammer... ? Vielleicht beim nächsten Mal.

Ich starte und drehe den Radio auf. Aus den Lautsprechern ertönen The Cure („Die Kur“). Wie passend. Ich lasse die Scheiben herunter und singe ganz laut mit:

You
Soft and only
You
Lost and lonely
You
Just like heaven!



Ende



Danksagung und Epilog:
Ich bedanke mich bei der Pensionsversicherungsanstalt, die meine Beiträge für diese Kur verwendet hat. Ich danke meiner Familie, die auch ohne mich überleben kann. Vor allem aber danke ich euch, meine lieben Leser und Leserinnen, denn ohne euch hätte es diese Kurkolumne nie gegeben. Aus den anfänglich dahingerotzte Gedanken, die ich teilen wollte, wurde eine tägliche Routine, die nie zur Routine wurde. Danke für die vielen Likes und Kommentare, die mich ermutigt haben, weiterzuschreiben. Für mich war es ein spannender Prozess, und ich habe in den letzten drei Wochen wieder gemerkt, dass ich zwar nicht vom Schreiben leben, aber vom Leben schreiben kann. Vor allem aber, dass ich ohne Schreiben nicht leben kann.
Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, zwischen den Anwendungen die 45 Stufen in mein Zimmer zu laufen und meine Gedanken auf Papier oder den Bildschirm zu bringen. Sie sind mir nie ausgegangen. Diese Kolumne hat sich quasi von selbst geschrieben.
Jetzt muss ich nur noch meine Mitdreisten davon überzeugen, mit mir eine Bühnenfassung der Kurkolumne auf die Beine zu stellen.
Danke!

Eure Kurtisane

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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