Kurkolumne, die Zehnte
So eine Kur fühlt sich an, als hätte jemand eine riesige Käseglocke über das Leben gestülpt. Das Leben spielt sich fortan ausschließlich unter der Glocke ab, und alles was draußen ist, ist weit weg und dringt nicht durch. Der Alltag mit all seinen Sorgen, der volle Terminkalender in den kommenden Wochen, die Schneckenplage im Garten, das Loch im Dach, alles unwichtig.
Hier zählt die Kurkarte, die Bibel der Kurgäste, ohne die man sein Zimmer nicht verlässt. Sie dient nicht nur zur Orientierung, sondern ist gleichzeitig Grundlage für sämtliche Gespräche.
„Was hast du jetzt?“
„Badewanne, und selbst?“
„Wart mal... um 8:40 Interferenz, 9:30 Unterwassergymnastik, 10:10 Teilkörpermassage und 13:30 Hydroelektrisches 4-Zellenbad.“ (Ich lerne jeden Tag ein neues Wort dazu.)
„Ah, ich hab heut um 11:20 Druckkreiselmassage, da kann ich erst um zwölf zu Mittag essen.“
Man beachte: ERST um zwölf. Erst um zwölf frühstücke ich zu Hause manchmal.
Ja, so aufregende Gespräche haben wir hier drin.
Manche Leute ärgern sich, wenn sie zwischen Kryojet und Melissenbad eine halbe Stunde warten müssen und schauen ständig auf die Uhr. Sie haben in den vergangenen Wochen nicht gelernt, die geschenkte Zeit zu genießen. Einfach in die Luft zu schauen, durchzuatmen und zu sein, anstatt zu tun.
Das Leben während einer Kur ist bei weitem nicht so entspannend, wie es hier wirken mag, denn Wir-sind-hier-nicht-auf-Urlaub und es herrscht ein unerbittlicher Wettstreit unter den Kurgästen. Weil wir sonst nichts zu tun haben, vergleichen wir alles und jedes miteinander, nicht nur die Ausdrucke der metabolischen Waage.
Vergleiche machen Menschen nicht glücklicher, sondern unglücklicher. Weil wir uns ja in der Regel nicht mit denen vergleichen, die ein verrostetes Auto, kein Swimmingpool und keinen Schulabschluss haben, sondern mit denen, die auf die Buttermilchseite des Lebens gefallen sind.
„Ich bin 6,5 Kilometer genorditschwalkt.“
„Ich 8,9, aber bergauf.“
„Ich bin 42 Kilometer mit dem Rad gefahren, bergauf und bergab.“
„Ich bin 98 Längen geschwommen.“
„Ich hab 3 Kilo abgenommen.“
„Ich 4, und zwar viszerales Fett.“
„Ich hab auf dem Laufband 321 Kalorien verbrannt.“
„Ich hab 4 Kilo Fett in Muskelmasse umgewandelt.“
„Ich hab heut früh 160 Blutdruck gehabt.“
„Ich 220.“
„Ich habe 10 Stunden geschlafen“, sage ich, um den Wettstreit zu beenden.
Ich bin nicht wieder auf die böse Waage gestiegen, und ich hab mich zwar ein paar mal in den Finger gestochen, aber immer noch nicht kapiert, wie man den Zuckerstreifen richtig in das Gerät steckt. Puls hab ich, das ist das wichtigste.
Ich bin froh, dass es keine Waage gibt, die Glück und Zufriedenheit messen kann, sonst würden die Leute auch diesbezüglich in Konkurrenz gehen.
„Ich hab 7,5 Glücksmomentpunkte.“
„Ich dafür 9 für chronische Zufriedenheit.“
„Mein Impedanzwert zwischen Gelassenheit und Nachdenklichkeit liegt bei 128.“
Meinen Kurkollegen gegenüber wollte ich nicht angeben, aber euch kann ich es verraten: 45 Stufen sind es vom Erdgeschoß in mein Zimmer. Im Schnitt bin ich sie acht plus zwei mal täglich hoch und wieder runtergestiegen, die zwei mal extra, weil ich die Kurkarte oder das Handtuch im Zimmer vergessen habe. Das sind insgesamt 9450 Stufen. Oder 17,73 mal den Kölner Dom bis zur Turmspitze. Ich bin von meiner eigenen Leistung beeindruckt. Außerdem klingt das gut. „Wo warst du in den letzten drei Wochen?“
„Ach, ich bin 17,73 mal den Kölner Dom hinaufgeklettert.“
*
„Kannst du dir den Ultraschall selber machen?“, fragt die Therapeutin, da eine Kollegin von ihr heute ausgefallen ist.
„Sicher. Ich lass mir dann auch das Bad selber ein und massier mir die Lendenwirbelsäule.“
Ich tiefenwärme mit dem Ultraschallgerät mein Knie und starre auf den Bildschirm. Ich hoffe, dass da ein undefinierbares Gebilde auftaucht und die Therapeutin - in diesem Fall ich – sagt:. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Lehner, Sie bekommen einen Knorpel!“
Aber sie schüttelt enttäuscht den Kopf und sagt: „Oh je, sehen Sie, er ist abgegangen. Es tut mir sehr leid für Sie. Für einen neuen sind Sie zu alt.“ Das hört man gerne.
„Aber mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten, kann man da nicht...In Vitro und so?“, frage ich verzweifelt.
„Nein. Auch ein Leben ohne Knorpel kann sehr glücklich sein, Frau Lehner. Stellen Sie sich bitte darauf ein. Suchen Sie sich Hobbys.“
„Kann ich einen Knorpel adoptieren? Vielleicht aus Afrika? Einen armen Waisenknorpel? Ich werde ihn mit Hyaloronsäure füttern und behandeln, als wäre es mein eigener.“
Pieps.
„So, das war’s für heute.“
*
Die Käseglocke über dem Kuralltag sorgt dafür, dass der Ballast, die Sorgen und die Ignoranz von draußen nicht herein und der Gestank nach Schwefel, Butter und Ignoranz von drinnen nicht hinausdringt.
Morgen wird sich die Glocke lüften, die Gerüche von draußen und drinnen werden erst hart aufeinanderprallen und sich dann zu einem neuen Duft vermischen.
Alles, was hier 3 Wochen lang unwichtig war, der ungemähte Rasen, die ungeliebte Ehefrau, das ungelebte Leben zeigen auf und schreien: „Hier sind wir!“
*
Zum Abschluss wird noch ein Gruppenfoto mit Herrn Direktor Schnösel gemacht. Zuhause werden wir das Foto herzeigen und sagen: „Schau, die mit den roten Locken, das ist die Susanne, und das ist die Laura, die ihren Freund gar nicht betrogen hat, weil der Sex so schlecht war, und das ist die Brigitte, die drei Wochen vorgekocht hat und das der Generikum-Italiener.
„Und wer ist die in den peinlichen Leopardenleggings?“
„Keine Ahnung, wie die heißt, aber von Sternzeichen ist sie Schnepfe, Aszendent Dumpftussi.“
*
Morgen werden wir abreisen, ich werde die letzte Kurkolumne schreiben und nichts wird sich ändern.
Frische Gäste werden ankommen, im Gepäck Sehnsüchte, Schmerzen, Ängste und Hoffnungen. Sie werden Buttermilch trinken und Linsen mit Tofu essen und in der Konditorei heimlich über eine Kardinalschnitte herfallen. Sie werden wildfremden Menschen ihre Kranken- und Lebensgeschichten anvertrauen und Muskelpartien stärken, von denen sie nicht gewusst haben, dass diese existieren. Sie werden zu „Atemlos“ tanzen und in Augen fallen, die nur im Discolicht türkisfarben leuchten.
Sie werden sich von Meister Toni durchkneten und „Madalan“ nennen lassen und für Kathrin im Pool in die Knie gehen und ertrinken. Kathrin wird dazu lächeln und sagen: „Und jetzt spannen wir die Beckenbodenmuskeln an.“
Und irgendwie freue ich mich, dass wir die letzte Gruppe waren, die Heike kennenlernen durfte. Was die wohl jetzt macht?
Wir Abreisenden werden Adressen austauschen, die wir nach einem Jahr in den Tiefen unserer Handtaschen finden und uns fragen werden, wer noch mal Birgit Pospischil war.
*
„Freust du dich schon auf zu Hause?“
„Hast du schon gepackt?“
Das sind die am meisten gestellten Fragen heute.
„Wenn ich hier bin, freue ich mich hier zu sein“, antworte ich weise, „und wenn ich zu Hause bin, freue ich mich zu Hause zu sein. Wenn ich ein letztes Mal Aquafit brutal mache, mache ich Aquafit brutal und schwitze im Wasser. Packen tu ich zehn Minuten vor der Abreise.“
Mein neues Mantra gefällt mir.
Wir lesen uns morgen. Ein letztes Mal.
Hier zählt die Kurkarte, die Bibel der Kurgäste, ohne die man sein Zimmer nicht verlässt. Sie dient nicht nur zur Orientierung, sondern ist gleichzeitig Grundlage für sämtliche Gespräche.
„Was hast du jetzt?“
„Badewanne, und selbst?“
„Wart mal... um 8:40 Interferenz, 9:30 Unterwassergymnastik, 10:10 Teilkörpermassage und 13:30 Hydroelektrisches 4-Zellenbad.“ (Ich lerne jeden Tag ein neues Wort dazu.)
„Ah, ich hab heut um 11:20 Druckkreiselmassage, da kann ich erst um zwölf zu Mittag essen.“
Man beachte: ERST um zwölf. Erst um zwölf frühstücke ich zu Hause manchmal.
Ja, so aufregende Gespräche haben wir hier drin.
Manche Leute ärgern sich, wenn sie zwischen Kryojet und Melissenbad eine halbe Stunde warten müssen und schauen ständig auf die Uhr. Sie haben in den vergangenen Wochen nicht gelernt, die geschenkte Zeit zu genießen. Einfach in die Luft zu schauen, durchzuatmen und zu sein, anstatt zu tun.
Das Leben während einer Kur ist bei weitem nicht so entspannend, wie es hier wirken mag, denn Wir-sind-hier-nicht-auf-Urlaub und es herrscht ein unerbittlicher Wettstreit unter den Kurgästen. Weil wir sonst nichts zu tun haben, vergleichen wir alles und jedes miteinander, nicht nur die Ausdrucke der metabolischen Waage.
Vergleiche machen Menschen nicht glücklicher, sondern unglücklicher. Weil wir uns ja in der Regel nicht mit denen vergleichen, die ein verrostetes Auto, kein Swimmingpool und keinen Schulabschluss haben, sondern mit denen, die auf die Buttermilchseite des Lebens gefallen sind.
„Ich bin 6,5 Kilometer genorditschwalkt.“
„Ich 8,9, aber bergauf.“
„Ich bin 42 Kilometer mit dem Rad gefahren, bergauf und bergab.“
„Ich bin 98 Längen geschwommen.“
„Ich hab 3 Kilo abgenommen.“
„Ich 4, und zwar viszerales Fett.“
„Ich hab auf dem Laufband 321 Kalorien verbrannt.“
„Ich hab 4 Kilo Fett in Muskelmasse umgewandelt.“
„Ich hab heut früh 160 Blutdruck gehabt.“
„Ich 220.“
„Ich habe 10 Stunden geschlafen“, sage ich, um den Wettstreit zu beenden.
Ich bin nicht wieder auf die böse Waage gestiegen, und ich hab mich zwar ein paar mal in den Finger gestochen, aber immer noch nicht kapiert, wie man den Zuckerstreifen richtig in das Gerät steckt. Puls hab ich, das ist das wichtigste.
Ich bin froh, dass es keine Waage gibt, die Glück und Zufriedenheit messen kann, sonst würden die Leute auch diesbezüglich in Konkurrenz gehen.
„Ich hab 7,5 Glücksmomentpunkte.“
„Ich dafür 9 für chronische Zufriedenheit.“
„Mein Impedanzwert zwischen Gelassenheit und Nachdenklichkeit liegt bei 128.“
Meinen Kurkollegen gegenüber wollte ich nicht angeben, aber euch kann ich es verraten: 45 Stufen sind es vom Erdgeschoß in mein Zimmer. Im Schnitt bin ich sie acht plus zwei mal täglich hoch und wieder runtergestiegen, die zwei mal extra, weil ich die Kurkarte oder das Handtuch im Zimmer vergessen habe. Das sind insgesamt 9450 Stufen. Oder 17,73 mal den Kölner Dom bis zur Turmspitze. Ich bin von meiner eigenen Leistung beeindruckt. Außerdem klingt das gut. „Wo warst du in den letzten drei Wochen?“
„Ach, ich bin 17,73 mal den Kölner Dom hinaufgeklettert.“
*
„Kannst du dir den Ultraschall selber machen?“, fragt die Therapeutin, da eine Kollegin von ihr heute ausgefallen ist.
„Sicher. Ich lass mir dann auch das Bad selber ein und massier mir die Lendenwirbelsäule.“
Ich tiefenwärme mit dem Ultraschallgerät mein Knie und starre auf den Bildschirm. Ich hoffe, dass da ein undefinierbares Gebilde auftaucht und die Therapeutin - in diesem Fall ich – sagt:. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Lehner, Sie bekommen einen Knorpel!“
Aber sie schüttelt enttäuscht den Kopf und sagt: „Oh je, sehen Sie, er ist abgegangen. Es tut mir sehr leid für Sie. Für einen neuen sind Sie zu alt.“ Das hört man gerne.
„Aber mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten, kann man da nicht...In Vitro und so?“, frage ich verzweifelt.
„Nein. Auch ein Leben ohne Knorpel kann sehr glücklich sein, Frau Lehner. Stellen Sie sich bitte darauf ein. Suchen Sie sich Hobbys.“
„Kann ich einen Knorpel adoptieren? Vielleicht aus Afrika? Einen armen Waisenknorpel? Ich werde ihn mit Hyaloronsäure füttern und behandeln, als wäre es mein eigener.“
Pieps.
„So, das war’s für heute.“
*
Die Käseglocke über dem Kuralltag sorgt dafür, dass der Ballast, die Sorgen und die Ignoranz von draußen nicht herein und der Gestank nach Schwefel, Butter und Ignoranz von drinnen nicht hinausdringt.
Morgen wird sich die Glocke lüften, die Gerüche von draußen und drinnen werden erst hart aufeinanderprallen und sich dann zu einem neuen Duft vermischen.
Alles, was hier 3 Wochen lang unwichtig war, der ungemähte Rasen, die ungeliebte Ehefrau, das ungelebte Leben zeigen auf und schreien: „Hier sind wir!“
*
Zum Abschluss wird noch ein Gruppenfoto mit Herrn Direktor Schnösel gemacht. Zuhause werden wir das Foto herzeigen und sagen: „Schau, die mit den roten Locken, das ist die Susanne, und das ist die Laura, die ihren Freund gar nicht betrogen hat, weil der Sex so schlecht war, und das ist die Brigitte, die drei Wochen vorgekocht hat und das der Generikum-Italiener.
„Und wer ist die in den peinlichen Leopardenleggings?“
„Keine Ahnung, wie die heißt, aber von Sternzeichen ist sie Schnepfe, Aszendent Dumpftussi.“
*
Morgen werden wir abreisen, ich werde die letzte Kurkolumne schreiben und nichts wird sich ändern.
Frische Gäste werden ankommen, im Gepäck Sehnsüchte, Schmerzen, Ängste und Hoffnungen. Sie werden Buttermilch trinken und Linsen mit Tofu essen und in der Konditorei heimlich über eine Kardinalschnitte herfallen. Sie werden wildfremden Menschen ihre Kranken- und Lebensgeschichten anvertrauen und Muskelpartien stärken, von denen sie nicht gewusst haben, dass diese existieren. Sie werden zu „Atemlos“ tanzen und in Augen fallen, die nur im Discolicht türkisfarben leuchten.
Sie werden sich von Meister Toni durchkneten und „Madalan“ nennen lassen und für Kathrin im Pool in die Knie gehen und ertrinken. Kathrin wird dazu lächeln und sagen: „Und jetzt spannen wir die Beckenbodenmuskeln an.“
Und irgendwie freue ich mich, dass wir die letzte Gruppe waren, die Heike kennenlernen durfte. Was die wohl jetzt macht?
Wir Abreisenden werden Adressen austauschen, die wir nach einem Jahr in den Tiefen unserer Handtaschen finden und uns fragen werden, wer noch mal Birgit Pospischil war.
*
„Freust du dich schon auf zu Hause?“
„Hast du schon gepackt?“
Das sind die am meisten gestellten Fragen heute.
„Wenn ich hier bin, freue ich mich hier zu sein“, antworte ich weise, „und wenn ich zu Hause bin, freue ich mich zu Hause zu sein. Wenn ich ein letztes Mal Aquafit brutal mache, mache ich Aquafit brutal und schwitze im Wasser. Packen tu ich zehn Minuten vor der Abreise.“
Mein neues Mantra gefällt mir.
Wir lesen uns morgen. Ein letztes Mal.
testsiegerin - 3. Jun, 09:42
SCHADE!!!