Vom Verstehenwollen und seinem Scheitern

„Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.“
(Virginia Satir)

Ich bemühe mich wirklich, die Menschen zu hören, zu sehen, zu verstehen und zu berühren. Meistens gelingt mir das auch, vor allem in meinem Beruf, oder bei Lesungen. Doch manchmal versage ich dabei. Zum Beispiel, wenn es um Politik geht.

Die Ängste der Menschen ernst nehmen sollen wir. Eh. Aber auch völlig unsinnige Ängste? Wenn eine Klientin mir im Tunnel ins Lenkrad greift, weil sie überzeugt davon ist, dass uns Gespenster entgegenkommen, kann ich ihre Ängste durchaus ernst nehmen. Ich kann trotzdem sagen: "Das ist Ihre Wahrnehmung, meine ist, dass das keine Gespenster, sondern die Scheinwerfer von entgegenkommenden Autos sind. Und solange ich hinterm Steuer sitze, zählt meine Wahrnehmung."
Die Leute mit ihren Ängsten ernst zu nehmen heißt nicht, ihnen die Klinikleitung anzuvertrauen.

Auf der Hofer-Seite herrscht zum Beispiel massive Angst vor Kommunismus in Österreich. Dass das 1 %, das bei der letzten Nationalratswahl die KPÖ gewählt hat (ein paar der kommunistischen PolitikerInnen spenden übrigens einen Großteil ihres Einkommens) die Macht in Österreich an sich reißt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie Krokodile in der Drau.

Wenn mir mein Leben lieb ist, lass ich auch keine Rechtspopulisten ans Steuer, die versprechen, uns ins Paradies zu führen, aber keinen Plan haben, wo dieses Paradies überhaupt ist. Die uns in Wahrheit nur an die Wand fahren wollen. Und wenn das gelungen ist, vertschüssen sie sich, weil es nicht darum geht, Verantwortung zu übernehmen, sondern Land und Zukunft zu Schrott zu fahren, wie die beiden überaus sympathischen Herren Johnson und Farage.

Was bleibt, sind Fragen. Viele Fragen.

Warum hat die FPÖ nicht den ersten Wahlgang angefochten, wo ihr doch das Einhalten der Regeln so wichtig ist und sie die Demokratie retten will? Warum stand handschriftlich auf einem Protkoll. Nicht anfechten, weil Hofer gewonnen hat?

Warum tönen immer noch Menschen "linke Manipulation", obwohl der VfGH davon nicht sprach? Weil es ja nicht ausgeschlossen werden kann, sagen sie. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ich am Semmelberg Leichen vergraben habe, und trotzdem verhaftet man mich nicht, weil es keine Hinweise darauf gibt.

Warum wollen manche Menschen aus der EU austreten statt dafür einzutreten, dass sich in der EU etwas zum Positiven ändert? Glauben sie wirklich, dass der Öbaba (die österreichische Variante des Brexit) irgendetwas besser macht? Die österreichischen Exporte und den Tourismus stärkt? Wir auf einmal so reich werden wie die Schweiz oder das Öl im Marchfeld sprudelt wie in Norwegen?

Warum liest man riesige Schlagzeilen, dass ein Mädchen vergewaltigt wurde, von einem Asylwerber... aber nur eine kleine Fußnote, als rauskommt, dass die Geschichte von dem Mädchen erfunden wurde?

Warum wollen Leute den Schilling zurück? Glauben sie, dass dann eine Wurstsemmel wieder 5 Schilling kostet? Oder wechseln sie vor dem Urlaub in Jesolo, wo sie dann wieder Stunden an der Grenze stehen, so gern Geld? Wollen sie verhindern, dass ihre Kinder im Ausland studieren und arbeiten können?

Warum ist es immer mehr Leuten egal, wenn Menschen, deren Heimat zerbombt worden ist, im Meer ertrinken, weil sie überzeugt davon sind, dass unser Boot voll ist?

Warum gibt es so viele - auch durchwegs kluge Leute - die auf diese Hütchenspieler von Rechtspopulisten hereinfallen? Die sich blenden lassen durch ein freundliches Lächeln, ein gemeinsam getrunkenes Bier, flotte Reden gegen „die da oben“ (ohne zu kapieren, dass die, die gegen „die da oben“ am meisten hetzen, selbst „da oben“ und nicht bei den unteren Zehntausend sind) und nicht sehen, mit wem Hofer und Strache sich ins rechte Bett legen. Wir sind keine Nazis, sagen sie. Dann benehmt euch bitte auch nicht wie welche. „Das wird man doch noch sagen dürfen“, sagen sie dann.
„Man darf in diesem Land beinah alles sagen“, singt Danny Dziuk, „nur muss man aber dann auch das Echo ertragen.

Warum nützen Argumente nichts? Die Leute interessiert in Wahrheit nicht, dass sie diejenigen sind, die im Fall eines EU-Austritts oder einer blauen Regierung zuerst draufzahlen. SachwalterInnen wird es vermutlich danach mehr denn je brauchen.
Und dass die Partei der kleinen Leute gegen die Vermögenssteuer gestimmt hat, und selbst abkassiert, wo es nur geht, ohne Leistung, interessiert sie offensichtlich auch nicht. Von der Hypo red ich gar nicht. Und dass diese Typen kein Herz für Obdachlose haben, sondern für Bettelverbote sind. Frauen sind ihnen in Wahrheit egal, sie stimmen gegen Förderung von Frauenhäusern.
Nach dem Motto: Unsere Frauen dürfen nur von unseren Männern geschlagen werden.

Warum, warum, warum???

Ich hab keine Antworten, dabei würde ich die Leute so gerne verstehen.
Lo - 10. Jul, 18:39

Wie schön, wieder von Dir etwas lesen zu können.
Auch wenn Du keine Antworten hast:
dafür hast Du ja kluge Fragen gestellt - und wer weiss...

Virginia Satir war mir bis jetzt kein Begriff. Dieses Zitat hat mich neugierig gemacht, und nun bin ich wieder um etwas Wichtiges reicher.
Danke dafür - und ich wünsche Dir, dass es Dir ganz schnell wieder gut geht!

Annette S. - 11. Jul, 11:42

Frau L. hat Leichen am Semmelberg vergraben!

(Die Gegendarstellung schreibe ich nach Ihrem Dementi dann übermorgen schwarz- und kleinbuchstabig weiter unten in die Kommentare.)

Rosenherz (Gast) - 15. Jul, 16:22

Ein sehr schöner, ernster Text von Ihnen, finde ich.

Politik ist ein von Machtgelüsten und Kapitalismus getriebenes Handeln, das kennt Mitgefühl nur dann, wenn sich daraus Kapital erwirtschaften lässt.

Ihre Frage nach dem "Warm" in der Politk habe ich mir gestellt als "Wie konnte das" in Bezug auf Hitler und den Nationalsozialismus. Vor allem wo doch viele seiner Anhänger aus einer gut ausgebildeten, intellektuellen Schicht gekommen sind. Haben sie sich derart blenden lassen? Waren ihre geistigen Kräfte beinträchtigt?
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Die Herren der Agrarpolitik agieren ähnlich kurzsichtig wie jene in der Sozialpolitik. Schaut man sich die Bildungs-Strukturen im Hintergund an, wird das Dilemma deutlich. Von 50 Lehrstühlen für Agrarwesen im deutschprachigen Raum sind 49 Lehrstühle nur noch auf Agrarökonomie ausgerichtet, ein einziger (!) auf Agrarsoziologie.
Wen wundert es da, was dabei rauskommt, wenn Agrarsoziologie nicht mehr gelehrt wird, dass es bei den Absolventen dafür auch kein Bewusstsein mehr gibt. So entsteht eine Schieflage, bei der die Ökonomie Vorrang erhält, während soziale Seiten des Lebens negiert und ausgeblutet werden.

la-mamma (Gast) - 16. Jul, 18:23

Mein "Kommentar" ist irgendwie zu lang geworden, jetzt steht er bei mir! Trauen Sie sich ruhig hin!

la-mamma - 17. Jul, 03:22

Muss überarbeitet werden... drum ist es offline
bonanzaMARGOT - 3. Sep, 09:35

das liegt sehr viel an niederen instinkten.

Lo - 9. Sep, 09:22

Huhu!

Liebe Barbara, es ist so ruhig hier.
Alles in Ordnung?

testsiegerin - 11. Sep, 20:02

Danke der Nachfrage. Ja, mir gehts gut. Beruflich viel um die Ohren und Schreiben geht mir grad nicht so locker von der Hand.
Aber das kommt schon wieder.
Liebe Grüße
Barbara
Lo - 12. Sep, 08:43

*Hach* :-))

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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