Zum Sterben zu viel

„Können Sie sich selbst warme Mahlzeiten zubereiten?“, will der Gutachter in den zehn Minuten wissen, in denen er die alte Frau untersucht.
„Aber sicher doch, Herr Doktor! Schauen Sie, ich bewege mich wie ein junges Pupperl!“
Selbst wenn sie nichts mehr hat im Leben außer rheumatische Hände und ein schlechtes Gehör, ihren Stolz lässt sie sich nicht nehmen. Der verbietet ihr, diesem Herrn gegenüber zuzugeben, dass sie – die einst die ganze Sippe verköstigt hat – nicht mal mehr Palatschinken kochen kann. Weil ihr meistens nicht einfällt, wo das Mehl steht. Und weil sie schon zweimal vergessen hat, den Herd abzudrehen.

Ihr Antrag auf Zuerkennung des Pflegegeldes nach dem Bundespflegegeldgesetz wird abgelehnt, heißt es in dem Schreiben, das ihre Tochter ihr vorliest.
Zum Glück hilft ihr die ein bisschen im Haushalt, dafür steckt sie ihr immer was von der Doppelten zu.

€ 704,- kommen monatlich aufs Pensionskonto, aber bevor sich das Geld noch an seinen neuen Aufenthaltsort gewöhnen kann, ist es auch schon wieder weg. Für die Miete und die Betriebskosten, für Essen auf Rädern, den Strom und die Heizkosten. Betreuung kann sie sich keine leisten, nicht einmal durch eine illegale Slowakin, wie der Klebekanzler für seine Mutter.
Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und für die Befreiung von der Rezeptgebühr und der Rundfunkgebühr auch zu viel. Einmal hat sie dem Staat die € 11,-, die ihre Rente über der Mindestpension liegt, zurückgeschickt - aber der wollte das Geld nicht.
Den Fernseher hat sie abgemeldet, sie sieht ohnehin nicht mehr gut. Außerdem hat sie sich in letzter Zeit nur geärgert bei den Nachrichten. Vor allem, als der Bundeskanzler erzählt hat, wie gut es den Senioren in Österreich geht.
Ihr Schwiegersohn hat ihr ein Wertkartenhandy geschenkt, für Notfälle, aber diesen neumodischen Kram schaltet sie gar nicht erst ein. Das Festnetztelefon ist abgemeldet, wegen der Grundgebühr.
Vom Arzt und vom Apotheker will sie sich nicht abmelden. Noch nicht. Vom Leben auch nicht.
Irgendwie hängt sie daran, trotz allem.
pringle - 23. Nov, 19:10

oh gott, da musste ich mir grade ein tränchen wegwischen.

caliente_in_berlin - 23. Nov, 19:20

puh...

larousse - 23. Nov, 19:37

Traurig. Und kein Einzelschiksal. Und Angst macht es auch irgendwie...

Anton Kurt - 23. Nov, 19:42

...traurig, wenn es ...

... ohne sorgsames Nachzudenken nach dem FORMULAR geht. Letzthin fragte ein Gutachter einen Mann, welcher komplett über eine Sonde ernährt werden muß, ob er sich Essen auf dem Teller selbst schneiden kann, und sich selber eingeben kann. Die Antwort ist: Ja. Nur darf er nicht. Es wäre für ihn tötlich. Diese Frage war sehr peinlich.

katiza - 23. Nov, 20:11

Eine ganz normale Geschichte

und so traurig der Alltag in unserem ach so reichen Land.

testsiegerin - 23. Nov, 22:16

danke euch.
ja. mich ärgert es immer wieder, wie gutachter sich in zehn minuten ein bild machen von leuten, und wie sie nicht mal auf die hören, die sie seit jahren kennen und betreuen.
wie sie mit dem porsche vorfahren und sich mit antworten wie "natürlich kann ich wäsche waschen" abfertigen lassen, ohne da noch mal nachzuhaken, zum beispiel.
ElsaLaska - 23. Nov, 21:35

Alte Menschen und der Umgang mit ihnen ist so wichtig, und die Art und Weise, wie das geschieht, zeigt, wo eine Gesellschaft wirklich steht.
(Jetzt mal abgesehen von dem Problem, dass wir immer älter werden und die Leute einfach hinfälliger werden - in allen alten Kulturen gab es einen Ältestenrat. Heutzutage werden sie abgeschrieben. Da musste jemand kommen und den Begriff "oral history" prägen für das, was passiert, wenn wir den Älteren zuhören. Und wenn wir versuchen, was draus zu lernen).
Ich höre so häufig: Och, nicht wieder die ollen Kamellen aussem Krieg und wie ihr gehungert habt, im Zusammenhang mit den alten Leuten. Dabei sind diese Geschichten so unbezahlbar, so wichtig, so wertvoll und ja, vielleicht nerven sie und passen einem nicht in den Kram. Ich muss beim Kartoffelschälen immer an meine verstorbene Oma denken. Ich schäle immer großzügig - faules Mädchen, ich mach da nicht lange mit rum. Kartoffeln gibt es genug. Sie sind billig. Aber es gab eben mal eine Zeit, da hat man die Schale nur so kaum millimeterstark abschälen dürfen - alles andere war Verschwendung. Vielleicht kann man das nicht mehr umsetzen heutzutage, aber man kann es erinnern.
Es sind oft diese Texte, die ich am liebsten von dir lese, obwohl du natürlich vielseitiger bist als das.
Aber wenn du den Alten eine Plattform gibst und für sie eintrittst - das ist einfach ... YO!

testsiegerin - 23. Nov, 22:19

danke, elsa.
ich finde das auch schade, dass alte in unserer gesellschaft höchstens als konsumenten zählen. da aber natürlich auch nur die rüstigen senioren, die sich urlaube und konsumgüter leisten können.
dabei hätten uns die so viel mitzugeben und zu sagen. alles, was es von uns braucht, ist zeit. zeit um zuzuhören.
rauch - 23. Nov, 22:08

das mag ich so, wenn ich das sagen darf...

... das Soziale, das Politische, das Poetische: in einer Person vereint, die noch dazu keine Anstalten macht, die drei zu trennen!
Selbst dann nicht, wenn die drei sich manchmal furchtbar streiten (bei mir jedenfalls). Macht aber manchmal ganz schön Mühe, die drei unter einem Hut und in einem einzigen Herzen zu behalten, find ich. Wie schaffst du das?...

testsiegerin - 23. Nov, 22:27

das Erotische hast du vergessen ;-)

und ich krieg das alles eigentlich gut unter den sombrero. weil ich ja all das bin. es sind ja keine rollen, die ich nur spiele.
die umgebung kann nicht immer so gut damit umgehen.

dabei versuche ich es denen, ohnehin leicht zu machen. unter meinem mädchennamen verfasse ich kinderbücher, unter barbara a. lehner schreibe ich erwachsenenliteratur, unter meinem doppelnamen politisches.

aber letztens war doch dieser kleine skandal bei uns im ort, weil ich eine erotische geschichte gelesen hab. und da mussten sich auch einige meiner politischen weggefährten vorwerfen lassen, dass ich ja eine von ihnen bin.

und ich mag das, wenn sie sich schwer tun, mich in schubladen zu stecken. die porno-queen schreibt kinderbücher? und kolumnen über alte, arme menschen? wohin mit ihr?
steppenhund - 24. Nov, 00:24

unerlaubte Werbung

mache ich ausnahmsweise für meinen heutigen Eintrag:
http://steppenhund.twoday.net/stories/2975240/

Ich mache das deshalb, weil ich ein Email bekommen hab, in dem Unverständlichkeit meines Beitrags ausgedrückt wurde.
Jetzt am Abend lese ich Barbaras Eintrag und er scheint mir das Bild hervorragend abzurunden.
Es geht um Werte und um das Wegschauen.
Das Wegschauen ist eindeutig. Genauso wie das Zusehen, ohne etwas zu unternehmen.

Und wie sollten Werte vermittelt werden können, wenn man dem Gegenüber nicht zuhört.
Die Geschichte mit dem Kartoffelschälen kenne ich auch.
Und irgendwie habe ich immer ein ganz mieses Gefühl, wenn irgendwo ein Brot verschimmelt ist und weggeworfen werden muss.
Letzten Endes geht es auch um Familienstrukturen, wo das Alter noch geehrt und nicht entsorgt wird.
-
Ich werde mich an niemanden rächen wollen, weil ich noch keinen Kommentar gesehen habe. Doch für mich ist es klar. Dieser Eintrag hier und die zwei beschriebenen Begebenheiten gehören zusammen. Da wird ein Muster erkennbar. Und es ist grauenvoll.
-
aber vielleicht unverständlich...

saoirse - 24. Nov, 01:07

eine ehemalige kollegin erzählte mir neulich voller stolz, dass sie sich eine eigentumswohnung anschafft, um den unterhalt für ihre alzheimerkranke mutter nicht zahlen zu müssen (argument: die anderen drei geschwister seien auch zahlungsunfähig, und der vater sei ja selbst schuld, dass er seine firma und das dazugehörige haus in den sand gesetzt habe). wenn ich diese geschichte freunden aus serbien weitererzähle, ist die reaktion immer gleich (naiv): "ist doch nett, dann kann die alte frau in der neuen eigentumswohnung wohnen und muss nicht ins heim." die vorstellung von abschiebung unterbringung der alten in sozialfinanzierten verwahranstalten altersheimen zugunsten eines höheren lebensstandards hat sich auf dem balkan noch nicht durchgesetzt. da backen die omas so lange palatschinken, bis die enkel es gelernt haben. manchmal sehne ich mich nach der großfamilie zurück...

testsiegerin - 24. Nov, 08:19

das glaube ich dir aufs wort.
und ich glaub, irgendwann fällt die art und weise, wie wir mit unseren alten umgehen, auf uns zurück.
nein, nicht irgendwann ... bald ... spätestens, wenn wir alt sind.
steppenhund - 24. Nov, 08:43

ja, es fällt auf uns zurück

und es tut dies bereits viel früher. Wobei die Problematik schon sehr stark finanziell angehaucht ist. Mit genügend Geld wohnt man fast hotelgleich in einem Rahmen, wo regelmäßig für Interaktion und Unterhaltung gesorgt ist. Meine Tante war zb im Pensionistenheim in Liechtenstein bei Mödling. Dort hätte ich auch gerne selbst leben wollen.
Da kann man schwer von Abschiebung sprechen. Meinen Vater hat meine Frau bis zu seinem Tod mit 90 Jahren bei uns zu Hause gepflegt. (Parkinson, teilweise schon sehr schwierig)
Sie arbeitet nach seinem Tod in einem Pflegeheim, was für sie sehr aufreibend ist. Trotzdem ist es eine sehr befriedigende Arbeit, was ich gut nachvollziehen kann. Ich höre mir dann auch gerne ihre Erzählungen an.
Übrigens würde sie, wenn sie jetzt aufhört, nicht einmal 400 Pension bekommen. Denn die 18 Jahre, die sie zuhause die drei Kinder aufgezogen hat, zählen überhaupt nicht. (d.h. es zählen 8 Jahre insgesamt)
Auch ein Grund, warum wir uns nicht scheiden haben lassen, obwohl das einige Jahre zu Debatte stand. Um sie in den Genuss einer Scheidung mit Rechtsnachfolge in meine Pension und Krankenversicherung zu kommen, musste man mindestens drei Jahre getrennt wohnen.
Und irgendwann war die Scheidung dann auch nicht mehr so interessant;)
-
Ja, warum glaubt ihr, beschäftige ich mich so sehr mit dem Kochen? jetzt als Opa? Reine Lebensversicherung! Solange ich Palatschinken kochen kann, schiebt man mich nicht ab...
testsiegerin - 24. Nov, 19:39

natürlich gibt es die heime, die du schilderst.
aber von denen können frauen wie die, von der ich hier erzähle, nur träumen.

aber auch in landespensionistenheimen wird oft sehr engagierte und gute arbeit geleistet. trotzdem. plötzlich teilt man sich ein zimmer mit zwei anderen frauen. liegt um fünf uhr nachmittag im bett. vor allem aber - ist nicht zu hause.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


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bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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