Sonntag II

Sie rollte sich auf die andere Seite des Bettes und griff sich den Wecker. Dreiviertel zehn. Sie hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen. Das Telefon läutete beharrlich weiter. Hoffentlich war nichts passiert. Blödsinn, Birgit fuhr immer so langsam mit dem Auto, dass sie zu jedem Zusammenstoß zu spät kommen würde. Und das Löwengehege im Zoo war durch Gitter so gesichert, dass nicht einmal die Cherokee hineinklettern konnten. Vielleicht war etwas mit Papa? Der hatte schon mal einen Schlaganfall gehabt. Und der würde eher seine Tochter als die Rettung anrufen. Mit einem Satz war Franziska auf den Beinen.

„Franziska Zapletal.“ Sie musste immer aufpassen, dass sie sich am Telefon daheim nicht mit „Schwes-ter Franzi, Station dreizehn“ meldete.
„Ja. Grüß Gott. Bitte legen Sie nicht auf.“
„Eh nicht. Ich hab ja grad erst abgehoben.“
„Danke. Vielen Dank. Es ist nämlich etwas kompliziert.“
Der Mann am anderen Ende war in Not, sagte ihr siebter Sinn. „Beruhigen Sie sich erst mal. Ich bin ja da. Ich leg auch nicht auf.“
Jetzt hörte sie ein erleichtertes Seufzen. Dann Atmen und Schnaufen.
„Hallo? Sind Sie eingeschlafen?“ Dafür hätte sie nämlich Verständnis gehabt.
„Nein. Ich kann so gar nicht schlafen. Mit dem Kopf nach unten. Ich hänge mit dem Fuß an der Dachrinne fest.“
Der Mann am anderen Ende war sogar in großer Not.
„Bleiben sie ganz ruhig. Sagen Sie mir einfach die Adresse. Ich schicke die Feuerwehr. Und versuchen Sie auf keinen Fall, den Schuh auszuziehen.“
„Mir ist nicht nach Witzen zumute.“ Es knackte. Allerdings nicht in der Leitung, sondern in der Stimme des Mannes. Ein Tiroler, schloss Franziska geistesgegenwärtig.
„Ja. Das verstehe ich. Entschuldigung. Nun, wo hän-gen Sie? Am Goldenen Dachl in Innsbruck?“
„Fast richtig. Sie müssen mir versprechen, weder die Feuerwehr noch die Polizei zu rufen, sonst kann ich ihnen nicht verraten, wo ich bin.“
„Alles klar.“ Das sagte Franziska mehr zu sich selbst. Zum Glück hatte sie auch Erfahrung mit Psychiatriepatienten.
Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich bin nicht verrückt“, presste er hervor. „Versprechen Sie es?“
„Ja doch, ja.“ Es war leicht etwas zu versprechen, wenn man im schlimmsten Fall einfach auflegen konnte. „Gut, was soll ich tun? Gemeinsam mit Ihnen beten?“
„Sehr witzig. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Kennen Sie das?“
„Nun seien Sie mal nicht so zickig. Sie brauchen meine Hilfe, nicht umgekehrt.“
Wieder Atmen und Schnaufen. Franziska ging zurück ins Bett und kroch unter die Decke. Mit der Wärme kehrte auch die Sanftmütigkeit in sie zurück.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Sie brauchen nur eine Telefonnummer zu wählen und mit Sverre zu sprechen.“
„Warum rufen Sie dann mich an und nicht diesen Sverre?“
„Weil ich das nicht kann. Bei dem Sturz wurde mein Handy beschädigt. ich kann nur einen Teil der Ziffern wählen. Da hab ich auf gut Glück getippt.“

Tatsächlich hatte er schon etliche Male auf gut Glück getippt. Neunundzwanzig mal hatte er auf gut Glück getippt. Die meisten dieser Glücksnummern waren aber gar nicht mit einem Anschluss besetzt. Drei von diesen entsetzlichen Mailboxen hatte er erwischt. Dann einen Menschen, der vermutlich so etwas wie Albanisch sprach. Eine Pensionistin, die sich beim Hausputz gestört fühlte. Ein kurzes Gespräch mit einem pubertierenden Schüler hatte ihm Gewissheit darüber verschafft, dass seine Lage einfach nur endgeil war. Mit Franziska hatte er geradezu das große Los gezogen, das durfte er nicht leichtfertig verspielen.

„Wehe, das ist so ein Quatsch, wo sie die Leute anrufen und einen Schmarrn erzählen und nächste Woche läuft das im Radio und ich hab mich hier zum Affen gemacht. Wer sind Sie überhaupt?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Rufen Sie jetzt bitte Sverre an und sagen Sie ihm, er soll sofort kommen.“
„Wohin soll er kommen?“
„Er weiß das schon. 0699 1532078.“
Franziska notierte die Nummer, doch dann hielt sie inne. „Ich muss wissen, worum es geht. Vielleicht sind Sie ja ein Schwerverbrecher und ich mache mich zur Komplizin, wenn ich diesen Sverre anrufe.“
„Ich bin kein Krimineller, verdammt noch mal. Ganz im Gegenteil. Ich versuche ein Verbrechen zu verhindern.“
„Warum dann keine Polizei?“
„Puh. Zum Glück hab ich so eine gute Kondition.“ Er stöhnte genervt. „Also gut, ich bin in der Königlich Norwegischen Botschaft. An der Königlich Norwegischen Botschaft.“
„Darf ich fragen, was Sie dort machen außer an der Dachrinne festzuhängen? Sind wir mit Norwegen im Krieg? Habe ich wieder was verpasst?“
„Ich rette Wale.“
Franziska rollte die Augen. „Klar, das liest man in letzter Zeit überall, dass die österreichischen Wale vom Aussterben bedroht sind.“
„Und Sie? Leisten Sie einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft?“ Jetzt wurde der Kerl auch noch frech.
„Ich rette Menschen. Üblicherweise im Krankenhaus. Jetzt aber grad irgendeinen Idioten, der auf fremden Botschaften herumturnt.“
„Großartig. Ich habe wirklich Glück heute. Ein Gutmensch also. Wären Sie jetzt bitte so freundlich?“
„Ich bin schon freundlich genug, finde ich. Hören Sie, ich hatte Nachtdienst und habe in den letzten zwanzig Stunden so gut wie nicht geschlafen. Ich war so freundlich aus dem Bett aufzustehen. Ich war so freundlich mit Ihnen zu sprechen. Und ich war bisher so freundlich nicht aufzulegen.“
„Ja. Danke.“
„Bitte.“
Es folgte eine Minute des Schweigens. Manchmal ist Schweigen viel kommunikativer als Reden.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das tut nichts zur Sache. Sverre weiß schon, um wen es geht, wenn Sie ihn zur Botschaft schicken.“
„Oh nein. So nicht, mein Lieber. Entweder Sie sagen mir jetzt wie Sie heißen, oder Sie bleiben hängen, wo Sie sind. Ich habe keine Lust mich verarschen zu lassen."
„Puh, sind Sie hartnäckig. Also gut, mein Name ist Silberhügl.“
„Gregor Silberhügl? Der berühmte Schispringer? Echt?“
Er stöhnte abermals. „Echt.“
„Boahh, ich werd narrisch! Gregor Silberhügl. Können Sie mir ein Autogramm schicken? Nein, drei lieber, für die Buben auch, bitte. Die werden ausflippen, wenn ich ihnen das erzähle. Wissen Sie, die üben immer Schispringen, vom Couchtisch, und unsere Schiflugweltmeisterschaft findet vom Küchentisch statt, der ist höher. Ich hab ja meine aktive Karriere beendet, seit ich mir den Knöchel verknackst habe dabei, ich bin jetzt Wertungsrichterin. Eine strenge Wertungsrichterin, so wie der Finne. Beim Telemark hapert es nämlich noch arg bei den Buben. Der finnische Wertungsrichter, der war übrigens total ungerecht letztens in Zakopane. Ihre Landung war viel schöner als die von dem Polen, und trotzdem haben Sie nur eine Achtzehn-fünf gekriegt. Aber in Oberstdorf, bist du deppert, der Sprung war grenzgenial, ich hab schon geglaubt, Sie wollen oben bleiben. Und dann der Aufsprung, da hat der Pole die Ohren angelegt. Schade, dass Sie das selbst nicht sehen konnten. Ich muss gestehen, bei der Siegerehrung hab ich geweint. Weinen Sie eigentlich nie, wenn Sie die Bundeshymne hören?“
„Ja. Doch. Sicher. Hören Sie.“
„Ja?“
„Sverre. Würden Sie den jetzt bitte anrufen?“
„Ach ja. Sverre. Der wird sich freuen, wenn ich ihn vom Gregor Silberhügl grüße.“
„Sie sollen ihn nicht grüßen. Sie sollen ihm was ausrichten.“
„Selbstverständlich. Ausrichten. Wird gemacht.“
„Tausend Dank. Und anschließend hier wieder anrufen, geht das?“
„Klar geht das. Geht alles.“
Die Tatsache, dass am anderen Ende der Leitung der beste Schispringer des Landes hing – im wahrsten Sinne des Wortes – beflügelte Franziskas Tatendrang. Es ging um Gregor Silberhügl, die große Goldmedaillenhoffnung für die nächsten Olympischen Spiele. Es ging um Österreich. Land der Berge, Land am Strome, summte sie mit feuchten Augen, als sie die Ziffern in die Tastatur tippte.
„Tuuuut – tuuuut – tuuuut – God dag, Sverre Solskjær.“ Dann folgte ein endloser Monolog in norwegischer Sprache. „Piep.“
„Ja. Grüß Gott. Hier ist Franziska Zapletal. Sie kennen mich nicht und ich kenne Sie auch nicht. Sie werden nicht erraten, mit wem ich gerade telefoniert habe. Mit dem Gregor Silberhügl, dem berühmten Schispringer. Er will mir Autogramme schicken. Aber nicht sofort. Er hängt nämlich an der Botschaft. An der Norwegischen. Wir müssen ihn retten. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie Fragen haben. Wollen Sie auch ein Autogramm?“
Sie nannte noch ihre Telefonnummer. „Beeilen Sie sich. Es ist dringend.“

Franziska wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ganz schön anstrengend und aufregend, das Leben eines Schispringers zu retten. Zum Glück war Silberhügl durchtrainiert und hatte so eine gute Kondition. Und Gott sei Dank war der Gute ein bisschen magersüchtig, ein Sumoringer hätte es da oben bestimmt nicht so einfach gehabt. Sie hatte große Lust, Birgit anzurufen und ihr von dem Abenteuer zu erzählen. Aber das ging nicht. Erstens, weil die Leitung frei bleiben musste für Sverre, zweitens, weil Birgit nicht die Klappe halten konnte. Obwohl – Franziska schloss die Augen. Krankenschwester rettet Sprungstar, sah sie schon die Schlagzeile der Kronen Zeitung, dabei las sie sonst nie die Krone. Und daneben ein großes Foto, von ihr und Gregor Silberhügl.
Als Dankeschön lud er sie natürlich zu den Olympischen Spielen ein. Sie träumte davon, in einem schönen Hotel in Vancouver zu schlafen. Die Betten brauchte sie nicht selber zu machen. Auf der Ehrentribüne saß sie neben dem kanadischen König und nippte am Champagner. Und an Gregors freiem Tag zwischen den Bewerben gingen sie gemeinsam zum Wildlachs-Fischen.

„Ja?“
„Ich bin’s. Die Franziska.“ Unglaublich. Jetzt waren sie schon fast per Du.
„Ja und? Was sagt er?“
„Ich weiß nicht. Es war alles Norwegisch.“
„Norwegisch?“
„Auf dem Anrufbeantworter. Er hat nicht abgehoben.“
„Mist.“
„Ja. Und nun? Soll ich nicht doch die Rettung rufen?“
„Nein. Ich hab keine Lust morgen früh mein Gesicht auf der ersten Seite der Kronen Zeitung zu sehen. Und als Schlagzeile: Schispringer bricht in Norwegische Botschaft ein.
„Verstehe.“ Er hatte Recht. Keine Sau würde sich für die unbekannte Retterin interessieren. „Ich hab aufs Band gesprochen, dass er mich anrufen soll. Mehr konnte ich nicht tun.“
„Noch mal danke, Franziska. Sie sind netter, als ich erst dachte. Tut mir leid, dass ich vorhin so grantig war. Aber ich häng nicht so oft an Regenrinnen von fremden Ländern.“
„Schon gut, Gregor. Ich muss jetzt auflegen, sonst kann Sverre nicht zurückrufen.“
„Ja. Bitte rufen Sie in einer Viertelstunde wieder an, falls er sich nicht meldet. Ich denk solange weiter nach.“

Sie starrte auf das Mobilteil in ihrer Hand. Los, du blöder Wikinger, ruf endlich an und hilf mir, die österreichische Ehre zu retten. Aber das Telefon in ihrer Hand machte keine Anstalten zu läuten. Deshalb versuchte Franziska es noch einmal. Wieder erzählte die Stimme auf dem Anrufbeantworter ihr eine norwegische Geschichte.
Verdammt. Was sollte sie jetzt tun? Schlafmangel machte nicht gerade erfinderisch. Sie wählte die Telefonnummer, die ihr seit Jahren die vertrauteste war.

Fortsetzung folgt...
la-mamma - 25. Aug, 19:06

...hoffentlich bald;-)

fängt jedenfalls schon seit zwei beiträgen (und einem einmal gehörten;-)) sehr vielversprechend an!

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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