Montag - Die Versicherung

Sverre Solskjær hustete. Dabei war Sverre Solskjær kerngesund. Sverre Solskjær hatte sich soeben am Kaffee verschluckt und das war kein Wunder. Er saß mit der Kronen Zeitung im Bett und frühstückte. Aus ernährungsphysiologischer Sicht war es völlig falsch, im Bett zu frühstücken. Aus politisch-moralischen Gründen war es noch falscher die Kronen Zeitung zu lesen. Wer die Kronen Zeitung während des Frühstücks im Bett las, der durfte sich nicht wundern, wenn er sich am Kaffee verschluckte. Sverre Solskjær war intelligent genug, um sich nicht zu wundern.

Großartig! Sie hatten es auf die Titelseite geschafft. Ein Foto von der norwegischen Botschaft. Unter den Fenstern des Botschafters ein riesiges Transparent: Rettet die Wale. Sauber hatten die Beiden das gemacht, anständig gespannt, so dass man den Text gut lesen konnte.
Das war es aber nicht, was ihn husten ließ, sondern der Text zum Bild:
Noch in der Nacht auf Montag wurden militante Aktivisten der Tierschutzorganisation Vier Pfoten verhaftet. Ihre Büros wurden durchsucht, Beweisstücke sichergestellt und Unterlagen beschlagnahmt. Zuletzt hatten Mitarbeiter der Vier Pfoten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen, als sie nackt auf dem Opernball erschienen, um gegen Pelztierfarmen zu protestieren.

So ein Quatsch. Vier Pfoten. Seit wann hatten Wale Pfoten?
Wie dem Artikel zu entnehmen war, hatte sich erwartungsgemäß auch der Innenminister zu Wort gemeldet und eine Verbesserung der Fahndungs- und Überwachungsmöglichkeiten gefordert. Der norwegische Tourismusminister drohte sogar mit einer Schließung der heimatlichen Seehäfen für österreichische Ausflugsschiffe. Spätestens jetzt wusste Sverre Solskjær, dass er mit der nächsten Tasse Kaffee noch etwas warten musste.

Immerhin, so stellte er erleichtert fest, waren die zuständigen Behörden und – was ebenso wichtig war – auch die neugierigen Journalisten auf der falschen Fährte. Außerdem hatte Gregor ein Alibi, wie man auf der ersten Seite des Sportteils lesen konnte.
Der Schispringer Gregor Silberhügl muss für mindestens zwei Monate pausieren. Wie Siegfried Schmölzer mitteilte, der in Abwesenheit des Cheftrainers derzeit die Mannschaft betreut, zog sich die große nationale Goldhoffnung am Sonntag beim Training eine Sprunggelenksverletzung zu. Gregor Silberhügl wurde am Abend in einer Wiener Spezialklinik behandelt, musste aber nicht operiert werden.
Sverre grinste. Der Sigi. Auf den war schon immer Verlass, wenn es brenzlig wurde.

Er legte die Krone zur Seite, machte ein paar Sit-ups und strich über seinen Waschbrettbauch. Alles für die Katz, dachte er und warf einen Blick auf die andere Hälfte des Doppelbetts. Sie war zwar nicht leer, aber sowohl der getigerten Katze als auch den deutschen Romantikern war sein durchtrainierter Körper egal. Er schob Eichendorff und Novalis zur Seite und griff sich einen Tausendseitenwälzer über Versicherungsmathematik.
Sverre klappte seinen Laptop auf. Er hatte sich vorgenommen, die kommende Woche dazu zu nützen, endlich seine Dissertation fertig zu schreiben.
Irrationales Entscheidungsverhalten in rational arbeitenden Versicherungssystemen am Beispiel der privaten Altersvorsorge in Wien und Niederösterreich, so hatte er seine Doktorarbeit getauft. Eigentlich war es ein ziemlicher Blödsinn in einer Stadt zu promovieren, in der ohnehin jeder Würstelverkäufer mit Herr Doktor angesprochen wurde, aber daheim in Kristiansand machte das schon etwas her.
Sverre Solskjær studierte Germanistik und Technische Mathematik. Das erste studierte er aus Liebe zur deutschen Literatur, das zweite aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Seine Arbeit als Masseur bescherte ihm zwar ein ausreichendes Einkommen, er hatte jedoch das Gefühl, dass sie ihn auf Dauer intellektuell unterforderte.
Manchmal gerieten die unterschiedlichen Schwerpunkte in seinem Leben ein bisschen durcheinander. Der Doktorvater fand den Stil seiner Dissertation „prosaisch und schwülstig – dem Thema völlig unangemessen“, wie er sagte. Vielleicht war das aber auch nur eine gekränkte Reaktion darauf, dass Sverre ihm Übungen zur besseren Haltung vorgeschlagen hatte. Auch die Schispringer teilten seine Leidenschaft für deutsche Lyrik nicht, ließen ihn aber einfach rezitieren, während sie sich auf der Liege seinen Händen auslieferten. Außerdem waren sie es gewohnt, dass ihre Haltung beurteilt wurde.

In Ermangelung einer Frau massierte Sverre die Rückenmuskulatur von Isolde, seiner Katze, die sich augenblicklich entspannte und zufrieden schnurrte. Sie verdankte ihren Namen Sverres Mitbewohner, dem Kunststudenten Andreas. Zwar interessierte sich Andreas nicht besonders für klassische Musik und schon gar nicht für Richard Wagner, aber er hieß mit Nachnamen Tristan. Isolde interessierte sich weder für Wagner noch für Germanistik oder Schispringen.
Isolde war Sverre im vergangenen Sommer auf einem Bauernhof vor die Füße gelaufen, als er Versicherte und Versicherer zur Datenerhebung aufgesucht und interviewt hatte. Andreas Tristan war ihm in derselben Woche in der U-Bahn-Station vor die Füße gelaufen, ähnlich zerzaust wie die Katze und ebenso auf der Suche nach einer neuen Unterkunft, nachdem seine Ex-Freundin ihn hinausgeschmissen hatte.
Sverre hatte nicht nur ein Herz für herrenlose Tiere, sondern auch für frauenlose Menschen und nahm Tristan als Untermieter auf.

Am liebsten hätte er sich jetzt die Seidendecke über seinen Kopf gezogen und noch eine Runde geschlafen. Er schlief nämlich nicht nur sehr gern in seinem Bett, sondern auch sehr gut. Seine letzte Freundin hatte entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er ihr den Preis des Bettes verraten hatte. Keine furnierten Spanplatten, sondern edles, volles Rotbuchenholz, keine Metall- oder Kunststoffteile, sondern gezinkte Eckverbindungen, und kein billiger Lack, sondern eine naturbelassene, mit duftendem Leinöl behandelte Oberfläche. Was er ihr verschwiegen hatte, war die Tatsache, dass er noch einmal so viel für die Bio-Matratze aus Naturlatex und Kokoskautschuk mit eingestreutem Lavendel ausgegeben hatte. Aber an seinem Bett war ihre Beziehung ohnehin nicht gescheitert, sondern daran, dass er zu oft in fremden Betten schlief. In billigen Hotelbetten, wohlgemerkt, wenn er mit der Schisprungnationalmannschaft unterwegs war.
Jetzt aber wurde nicht geschlafen, jetzt wurde gearbeitet.

Lustlos übersetzte Sverre seine poetischen Formulierungen in trockenes Wirtschaftsdeutsch. Derartige Kennzahlen sind für den Vermögensaufbau im Rahmen der privaten Altersvorsorge von besonderer Relevanz, da sie im Gegensatz zu zweiseitigen Schwankungsmaßnahmen das Verständnis von Risiko als Gefahr der Unterschreitung eines angestrebten Mindestvermögens abzubilden vermögen. Schön klang das nicht, aber der Professor wollte es nicht anders.

Die Waldviertler Nebenerwerbsbauern hatten ihn ausgelacht, als er sie zu ihrem Entscheidungsverhalten bezüglich einer privaten Altersvorsorge interviewen wollte. „Ein bissl eine Pension werden wir schon noch kriegen“, haben sie gesagt, „und ein Bausparvertrag lauft auch demnächst ab. Dann halt noch die Pachteinnahmen vom Obstgarten, und wohnen werden wir in der Ausnahm’.“ Wenigstens hatten sie ihm netterweise erklärt, dass man darunter das Altenteil verstand.
Wären all seine Interviewpartner in ihren Entscheidungen so vernünftig gewesen wie die Waldviertler Bauern, dann wäre seine Doktorarbeit ein dünnes Heftchen und kein 250-Seiten-Werk geworden. Aber er hatte dann doch noch Glück gehabt und Menschen gefunden, die in ihren Entscheidungen weniger rational waren.

Sverre selbst ließ sich weniger von seinen Gefühlen als von seiner Vernunft leiten – meistens, denn auch er hatte in seinem Leben schon viele irrationale Entscheidungen getroffen. Durch seine Dissertation war ihm aber klar geworden, dass solche Entscheidungen oft notwendig waren.
Noch häufiger als falsche wurden nämlich gar keine Entscheidungen gefällt, was sich im Nachhinein oft als das Schlechteste herausstellte. Und so hatte er die These entwickelt, dass es durchaus rational war, wenn man sich zwischen mehreren irrationalen Möglichkeiten entschied, anstatt nach einer rationalen Lösung zu suchen, die es vielleicht gar nicht gab.
War es wirklich vernünftig gewesen, seinen Job als Masseur in Kristiansand und Mamas hervorragenden Hammel in Kohl sausen zu lassen, um in Wien zu studieren und sich von fettigen Schnitzelsemmeln zu ernähren? Und war es jetzt vernünftig über all diese Dinge zu philosophieren, anstatt endlich weiter zu schreiben?

Fortsetzung folgt...
Uta-Traveller - 27. Aug, 14:03

ein Montag mit Versicherungsmathematik
dazu fallen mir dann die Boomtown Rats ein:
I don't like Mondays.

aber Sverre wird mir gerade recht sympathisch

Grüße in den Mittwoch
Uta

morphetetis - 27. Aug, 14:27

Die These mit dem rationalen Handeln bei irrationalen Möglichkeiten gefällt mir..

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Von Herzen und Seelen - CD

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Wie geht es unserer Testsiegerin?
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Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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