Sonntag, 9. Oktober 2011

Die Grenze

Das war die allererste Geschichte, die ich geschrieben hab. Mit der mein Schreiben den Anfang genommen hat.
Gestern hat eine Frau sie bei einer Veranstaltung gelesen. Ganz leise wurde es im Saal. Und für mich war es aufregend, mal eine Geschichte von mir zu hören, die nicht ich lese.



„She walks softly and carries a big gun...“ tönte es aus dem Autoradio.

Da war sie wieder, die Grenze. Wie jeden ersten Freitag im Monat machte der Schlagbaum ihr die eigenen Grenzen bewusst. Da war die Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten. Gleichzeitig die Angst davor.
Sie stand im Stau. Es staute sich vor ihr. Hinter ihr. In ihr.
Auch die Mittagssonne ließ das nicht kalt. Mit voller Wucht durchdrang sie die Windschutzscheibe und prallte ungebremst aufs Lenkrad, auf dem zwei Hände den Rhythmus der Musik mittrommelten.
Vorne bei der Passkontrolle marschierte eine Zollwachbeamtin allein im Gleichschritt auf und ab. Ihr Anblick hatte etwas Einsames. „She walks softly and carries a big gun.“

Bald würde sie fallen, die Grenze. Die Grenze, die nicht nur Angst machte, sondern auch Schutz bot.
Sie kramte in ihrer Handtasche. Suchte den Lippenstift. Der ihre blassen Lippen schützte und Sicherheit und Stolz vortäuschte. Der ihre Angst blutrot übermalte.

Die Tasche war ein Spiegel ihrer Seele. Sie dachte an die Sonntagsbeilage der Zeitung, die sie sowieso nur sonntags las. Prominente zeichneten ihren Tascheninhalt und gaben so ihr Leben der Leserschaft preis. Lieferten die Innenwelt der Außenwelt aus. Oder bewahrten ihr Innerstes vor der Auslieferung, indem sie zum Schein Erfrischungstücher, Feuerzeuge und Organspenderausweise herausholten.

Sie täuschte in erster Linie sich selbst. In ihrer Tasche war nichts, das andere Menschen spannend finden können hätten. Mit o.b., Slipeinlagen, Nagelfeile, Parkscheinen, Handy, dem Kalender und den Schlüsseln würde es ihr vermutlich nicht gelingen, jemanden zu beeindrucken. Ein paar Kugelschreiber, ein Bleistiftspitzer, aber kein Bleistift. Ein Bild, das ihre Tochter für sie gemalt hatte. Sie selbst in roten Stiefeln, mit Leopardenstrumpfhose und Lippen im selben knallrot wie die Stiefeln. So sah ihre Tochter sie also. Zwei Taschenbücher, obwohl sie nie las, wenn sie ihre „Ausflüge“ über die Grenze machte. Taschenbücher und Taschentücher. Für überschüssige Lippenstiftspuren. Für die Tränen, die sich später ihren Weg über ihre Wangen bahnen würde.
Aber wen interessierte das schon? Sie war nicht prominent. Sie war eine ganz normale Frau, ständig auf der Suche nach ihren Grenzen. Ständig konfrontiert mit ihren Ängsten. Ihren Unzulänglichkeiten. Ihrem Mangel an Makellosigkeit.

Endlich. Mit einem Blick in den Rückspiegel zog sie die Lippen nach und presste sie auf das Taschentuch mit den Herzen. Das hatte Stil.

Sie trat auf die Bremse. Der Mann im BMW vor ihr tippte mit dem Zeigefinger an die Stirn. Sie antwortete mit dem Mittelfinger. „He, du alter Wichser, reg dich ab. Uns trennen drei Zentimeter.“ Das Gefühl der Befreiung währte nur kurz. Was sind schon drei Zentimeter gegen die Ewigkeit? Was waren schon drei Zentimeter gegen fünfundsechzig Kilo Angst?

Sie kramte weiter. Suchte, ohne zu wissen, wonach. Nach dem Sinn vielleicht, doch der war da nicht. Ein paar CDs. Die Knef. Aber es regnete keine roten Rosen. Es regnete nicht einmal ein paar Gewittertropfen, die das flaue Gefühl in ihr wegwaschen könnten.

Plötzlich kamen die Zweifel. Zweifle an denen, die sagen, sie kennen keine Angst. Aber hab Angst vor denen, die sagen, sie kennen keine Zweifel. Erich Fried. Es musste demnach keiner Angst vor ihr haben, und niemand an ihr zweifeln.

Er würde ihr weh tun. Er tat ihr immer weh. Seit Monaten tat er ihr weh. Jeden Monat. Jeden ersten Freitag. Und trotzdem stand sie immer wieder hier. An der Grenze, die es bald nicht mehr geben würde. Bald würde sie neue Grenzen suchen müssen.

Sie betrachtete ihr Foto im Reisepass und erinnerte sich an den Tag, an dem es entstanden war. Draußen war es kalt gewesen und in ihr warm, satt und zufrieden. Es schien Ewigkeiten her zu sein. Damals hatte sie sich nichts beweisen müssen. Heute war es draußen heiß und in ihr kalt.

Der Schmerz würde sich in sie bohren und sie sich in ihm spüren. Wie sagte William Faulkner? Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz.
Lust und Schmerz waren Nachbarn, die war versuchten, sich aus dem Weg zu gehen, aber doch immer wieder aufeinander prallten. Mitten in ihrem Körper. Mitten in ihrer Seele.

Sie mochte ihn nicht. Trotzdem. Er war gut. Er tat, was unausweichlich war. Sie fuhr freiwillig zu ihm, und doch musste sie sich jedes Mal dazu zwingen. Sie dachte an das Danach. Danach würde sie sich besser fühlen. Leichter. Schöner. Begehrenswerter. Hoffentlich.

Seine Gesichtszüge waren ernst, beinahe streng. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals lächeln gesehen zu haben. Es war nicht seine Aufgabe, zu lächeln.
Er war Mitte Vierzig, sein Körper athletisch, seine Hände kräftig. Hände, die ihr weh tun würden. Grob waren und eindrangen in sie. Die ihre Grenzen überschritten und sie bluten ließen.

Hier war sie wieder, die Grenze. Die Angst drückte sich ihr in den Bauch, nahm ihr die Luft zum Atmen.
„Was führen Sie ein“?
Nichts. Jedenfalls nichts, was sie vorzeigen konnte. Sie führte Verwundbarkeit ein. Angst. Aber auch Mut. Überwindung. Und Lust. Er würde auch etwas einführen. Gegen ihren Willen. Und doch auch wieder nicht.

Er stopfte Dinge in ihren Körper. Harte und weiche. Ihr Schreien würde ihn auch heute nicht abschrecken. Das Unbehagen kroch ihr den Nacken hoch und setzte sich im Kopf fest. Sie klammerte sich an das Lenkrad und die Hoffnung auf Erleichterung, die sie empfinden würde, wenn es vorbei war. Wenn der Schmerz langsam nachließ und ihr Körper sich entspannte.

Was er wohl heute mit ihr vorhatte? Sie ertappte sich bei dem Gedanken umzukehren. Nein, das war feige. Sie würde sich dafür verachten. Was, wenn sie sich wehrte? Wenn sie sich aus seinem Griff löste und ihm zornig ins Gesicht spuckte, wenn er sich ihr näherte. Was, wenn sie einfach zubiss oder ihm ihre Knie in seinen Unterleib rammte?
In Wahrheit wusste sie, dass sie alles mit sich machen lassen würde. Nicht nur aus Angst, weil Gegenwehr ihn wütend machen und er ihr dann noch mehr Schmerz zufügen würde. Besser sich ausliefern. Bewegungslos dort liegen und geschehen lassen. Benutzt werden. Nur noch Objekt sein. Die Augen ängstlich aufgerissen im grellen Schein der Lampe. Oder fest geschlossen.

Nur noch wenige Kilometer. Die Grenze war überschritten. Es gab kein Zurück mehr. Die Entscheidung war längst gefallen.

Sie parkte vor der ehemals prachtvollen, jetzt heruntergekommenen Villa. Bemühte sich, das Unbehagen zu verdrängen, und versagte dabei kläglich. Durch einen Blick in den Rückspiegel versicherte sie sich, dass sie schön war. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Zupfte an ihrem schwarzen Top, damit ihre vollen Brüste besser zur Geltung kamen.

Bis in die Fingerspitzen klopfte ihr Herz, als sie die Klingel drückte. Mutig stieß sie die Tür zur Hölle auf, als sie das gequälte Summen des Türöffners hörte. Er stand schon im Flur. Er hatte auf sie gewartet.
„Sie kommen spät, meine Liebe“, sagte er streng und schlüpfte in die Latex-Handschuhe.
„Ich weiß. Es tut mir Leid.“

„Nehmen Sie Platz.“ Der Tonfall war befehlend, nicht einladend. Sie gehorchte. Wie sie diesen Stuhl hasste. Wie sie ihn hasste.

Sie legte sich hin und wartete. Eine große, dunkelhaarige Frau betrat den Raum. Vom Flur hörte sie seine Stimme: „Heute machen wir den Dreier“, sagte er mit ungarischem Akzent. „Rechts unten. Eine Krone.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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