Vergissmeinnicht
„Ich schluck das Zeug bestimmt nicht!“ spuckt Grete Stocker die Tabletten in die Monstera Deliciosa. „Ich war fünfunddreißig Jahre lang Krankenschwester und weiß, was da drin ist. Den Scheiß könnt ihr selber fressen. Und die Grippeschutzimpfung könnt ihr euch ins Knie schießen, wenn ihr wollt!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, greift sie nach dem Hausschuh aus Plüsch und wirft ihn knapp an Schwester Ingrids Ohren vorbei.
Emma Rogner, gesetzliche Vertreterin von Grete Stocker, braucht ihre ganze Konzentration, um nicht zu lachen, als Oberfeldwebel Ingrid ihr empört über diesen Vorfall berichtet und dabei zu hyperventilieren droht.
„Wir müssen die Medikation erhöhen, weil Frau Stocker immer aggressiver wird“, schnappt Schwester Ingrid nach Luft.
„Vielleicht wird sie ja immer aggressiver, weil Sie die Medikation erhöhen wollen“, mutmaßt Emma. „Sie kommt ja jetzt schon kaum noch mit dem Ausspucken nach.“
„Deshalb mischen wir ihr die Medizin manchmal ins Essen“, bekennt die Schwester. „Sonst geistert sie ganze Nacht auf der Station herum und wäre noch unruhiger.“
„Sie tun was?“ Emma Rogner starrt sie fassungslos an. „Das ist medikamentöse Freiheitsbeschränkung und meldepflichtig, verdammt noch mal.“ Ihre Stimme ist leise, während die Wut in ihr aus vollem Hals brüllt.
„Ich will meine Zigaretten!“, schreit jetzt auch Grete Stocker aus dem Hintergrund. „Die haben sie mir schon wieder geklaut.“
Emma Rogner war mit dem guten Vorsatz, sachlich und freundlich zu bleiben, gekommen, aber es will ihr nur schwer gelingen. Sie ist zornig. Sie ist auch müde. Es hat keinen Sinn, mit Schwester Ingrid zu diskutieren. Argumente prallen an ihr ab wie Squashbälle an der Wand.
Emma weiß, dass es auch anders geht. Am Vormittag war sie in der Wohngemeinschaft Vergissmeinnicht, die sie mit Jahresende schließen würden. Aus budgetären Gründen, wie die Leiterin ihr erzählt und eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Als Emma in den Aufenthaltsraum kam, stand Alois Czermak in Gummistiefeln auf dem Esstisch und hielt eine Kampfrede. Er war früher Angestellter der Bezirksbauernkammer gewesen. Anstatt an ihm herumzuzerren und ihn zum Aufgeben zu bewegen, kletterte die junge Schwester Carmen zu ihm auf den Tisch. „Sie wollen heute aber hoch hinaus, Herr Czermak“, lächelte sie ihn an. Sie hörte ihm geduldig zu, als er die Landwirte zum Zusammenschluss und zur Gründung der Vereinigung Österreichischer Rübenbauern aufforderte.
„Tolle Rede!“, applaudierte sie, als er geendet hatte, „sehr eloquent, Herr Czermak.“ Sie stieg vorsichtig vom Tisch und der alte Herr folgte ihr ohne Widerspruch. „Die Erdäpfelsuppe wird kalt“.
Emma Rogner schaudert, wenn sie daran denkt, dass Alois Czermak demnächst unter Oberfeldwebel Ingrid dienen muss.
„Warum hat Frau Stocker schon wieder keine Zigaretten? Ich hab doch erst eine Stange vorbeigebracht.“
Schwester Ingrid betrachtet Emma mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Mitleid. „Wir teilen ihr die Zigaretten jetzt ein. Jede Stunde bekommt sie eine. Meistens steht sie aber ohnehin schon zwanzig Minuten vorher vor dem Dienstzimmer, quält uns und schreit völlig grundlos herum."
„Kein Verhalten ist grundlos", sagt Emma leise. „Wir können den Grund nur manchmal nicht sehen."
Schwester Ingrid hört den Einwand nicht und fährt ungerührt fort: „Außerdem ist ihre Lunge angegriffen. Rauchen ist halt nicht gesund.“
„Ach so. Gut zu wissen. Da hat Frau Stocker ja Glück gehabt, dass sie trotzdem 95 geworden ist.“ Emma sehnt sich nach ihrer Lucky Strike. Deine Dummheit ist auch nicht gesund, denkt sie, verschluckt ihre Gedanken aber.
„Wie würde es Ihnen gehen“, fragt sie die Stationsschwester stattdessen, „wenn man Ihnen das Wenige, das Sie noch haben, wegnimmt und Sie Aufmerksamkeit nur dann bekommen, wenn sie lästig sind? Wenn sie um ihre Zigaretten betteln, Tabletten in den Blumentopf spucken, vor das Bett scheißen oder mit Schlapfen um sich werfen müssen, damit man Sie wahrnimmt? Wie würde es Ihnen gehen, liebe Schwester Ingrid, wenn Sie liebevolle, nicht leistungsorientierte Zuwendung überhaupt nicht mehr kriegen, nur weil sie dement und anstrengend sind?“
Schwester Ingrid blickt auf die Uhr. Es ist halb vier. Dienstschluss. „Schwester Ivana wird sich um Sie kümmern. Auf Wiedersehen.“ Sie knallt die Tür vor Emma zu.
„Vergiss mich“, zischt Emma.
Ich werde Frau Stocker schwere Holzpantoffeln kaufen, denkt sie auf dem Weg zu ihrem Wagen und inhaliert gierig den Rauch der Zigarette. Fünf Paar.
Emma Rogner, gesetzliche Vertreterin von Grete Stocker, braucht ihre ganze Konzentration, um nicht zu lachen, als Oberfeldwebel Ingrid ihr empört über diesen Vorfall berichtet und dabei zu hyperventilieren droht.
„Wir müssen die Medikation erhöhen, weil Frau Stocker immer aggressiver wird“, schnappt Schwester Ingrid nach Luft.
„Vielleicht wird sie ja immer aggressiver, weil Sie die Medikation erhöhen wollen“, mutmaßt Emma. „Sie kommt ja jetzt schon kaum noch mit dem Ausspucken nach.“
„Deshalb mischen wir ihr die Medizin manchmal ins Essen“, bekennt die Schwester. „Sonst geistert sie ganze Nacht auf der Station herum und wäre noch unruhiger.“
„Sie tun was?“ Emma Rogner starrt sie fassungslos an. „Das ist medikamentöse Freiheitsbeschränkung und meldepflichtig, verdammt noch mal.“ Ihre Stimme ist leise, während die Wut in ihr aus vollem Hals brüllt.
„Ich will meine Zigaretten!“, schreit jetzt auch Grete Stocker aus dem Hintergrund. „Die haben sie mir schon wieder geklaut.“
Emma Rogner war mit dem guten Vorsatz, sachlich und freundlich zu bleiben, gekommen, aber es will ihr nur schwer gelingen. Sie ist zornig. Sie ist auch müde. Es hat keinen Sinn, mit Schwester Ingrid zu diskutieren. Argumente prallen an ihr ab wie Squashbälle an der Wand.
Emma weiß, dass es auch anders geht. Am Vormittag war sie in der Wohngemeinschaft Vergissmeinnicht, die sie mit Jahresende schließen würden. Aus budgetären Gründen, wie die Leiterin ihr erzählt und eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Als Emma in den Aufenthaltsraum kam, stand Alois Czermak in Gummistiefeln auf dem Esstisch und hielt eine Kampfrede. Er war früher Angestellter der Bezirksbauernkammer gewesen. Anstatt an ihm herumzuzerren und ihn zum Aufgeben zu bewegen, kletterte die junge Schwester Carmen zu ihm auf den Tisch. „Sie wollen heute aber hoch hinaus, Herr Czermak“, lächelte sie ihn an. Sie hörte ihm geduldig zu, als er die Landwirte zum Zusammenschluss und zur Gründung der Vereinigung Österreichischer Rübenbauern aufforderte.
„Tolle Rede!“, applaudierte sie, als er geendet hatte, „sehr eloquent, Herr Czermak.“ Sie stieg vorsichtig vom Tisch und der alte Herr folgte ihr ohne Widerspruch. „Die Erdäpfelsuppe wird kalt“.
Emma Rogner schaudert, wenn sie daran denkt, dass Alois Czermak demnächst unter Oberfeldwebel Ingrid dienen muss.
„Warum hat Frau Stocker schon wieder keine Zigaretten? Ich hab doch erst eine Stange vorbeigebracht.“
Schwester Ingrid betrachtet Emma mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Mitleid. „Wir teilen ihr die Zigaretten jetzt ein. Jede Stunde bekommt sie eine. Meistens steht sie aber ohnehin schon zwanzig Minuten vorher vor dem Dienstzimmer, quält uns und schreit völlig grundlos herum."
„Kein Verhalten ist grundlos", sagt Emma leise. „Wir können den Grund nur manchmal nicht sehen."
Schwester Ingrid hört den Einwand nicht und fährt ungerührt fort: „Außerdem ist ihre Lunge angegriffen. Rauchen ist halt nicht gesund.“
„Ach so. Gut zu wissen. Da hat Frau Stocker ja Glück gehabt, dass sie trotzdem 95 geworden ist.“ Emma sehnt sich nach ihrer Lucky Strike. Deine Dummheit ist auch nicht gesund, denkt sie, verschluckt ihre Gedanken aber.
„Wie würde es Ihnen gehen“, fragt sie die Stationsschwester stattdessen, „wenn man Ihnen das Wenige, das Sie noch haben, wegnimmt und Sie Aufmerksamkeit nur dann bekommen, wenn sie lästig sind? Wenn sie um ihre Zigaretten betteln, Tabletten in den Blumentopf spucken, vor das Bett scheißen oder mit Schlapfen um sich werfen müssen, damit man Sie wahrnimmt? Wie würde es Ihnen gehen, liebe Schwester Ingrid, wenn Sie liebevolle, nicht leistungsorientierte Zuwendung überhaupt nicht mehr kriegen, nur weil sie dement und anstrengend sind?“
Schwester Ingrid blickt auf die Uhr. Es ist halb vier. Dienstschluss. „Schwester Ivana wird sich um Sie kümmern. Auf Wiedersehen.“ Sie knallt die Tür vor Emma zu.
„Vergiss mich“, zischt Emma.
Ich werde Frau Stocker schwere Holzpantoffeln kaufen, denkt sie auf dem Weg zu ihrem Wagen und inhaliert gierig den Rauch der Zigarette. Fünf Paar.
testsiegerin - 14. Apr, 22:33