Donnerstag, 19. April 2007

Active Ageing

Lieselotte blätterte um und machte eifrig Notizen, während einige Zuhörer gähnten oder Kurznachrichten in ihre Handys tippten. Hin und wieder erhob sich jemand, um den Saal auf leisen Sohlen zu verlassen. Der Professor hinter dem Stehpult wirkte ebenso blutarm wie sein Vortrag.
Active Ageing - Multiprofessionelles Demenzmanagement stand auf dem Programmheft, das auf dem Stuhl neben Lieselotte lag.

„Interessiert Sie das wirklich?“ Der Mann zu ihrer Linken, der die ganze Zeit raschelnd in seinen Zetteln gekramt hatte, beugte sich herüber.
Sie schaute ihn über den Rand ihrer Hornbrille an, die ein Vermögen gekostet hatte und in ihrer Schlichtheit reinstes Understatement war.
„Natürlich interessiert mich das“, behauptete sie, schüttelte aber den Kopf.
„Freud lebt“, stellte er fest, obwohl er Internist war und nicht Psychiater.
„Verdammtes Unterbewusstes!“ Lieselotte lachte. „Nein, es interessiert mich nicht wirklich.“
„Warum schreiben Sie dann so angeregt mit?“ Er flüsterte, nachdem der Professor zu ihnen geblickt hatte.
„Ich bin Journalistin.“ Lieselotte übertrieb ein bisschen. In Wahrheit verfasste sie lediglich eine monatliche Kolumne in der Zeitschrift Da.Heim, einem Magazin der Landespensionistenheime. Manchmal schämte sie sich ein bisschen, dass sie nichts Ordentliches gelernt hatte. Sie war nämlich keineswegs multiprofessionell, sondern ganz und gar nullprofessionell.
„Oh. Sie sind Journalistin?“, wiederholte er. „Ich schreibe auch. Rezepte.“
„Ach, bestimmt für Remember Ravioli, dem Kochjournal für Alzheimer-Kranke! Sind Sie etwa deshalb hier?“
„Ich hab vergessen, warum ich hier bin.“ Er verzog keine Miene. „Für welches Blatt schreiben Sie?“
„Für den Observer“, sagte sie manieriert. „Manchmal auch für die Washington Post.“

Plötzlich war es still im Saal. Der Vortragende war eingeschlafen.
„Vielleicht ist er tot“, sagte Lieselotte. „Als Arzt müssen Sie Erste Hilfe leisten.“
„Um Gottes Willen!“ Er stopfte seine Papiere in die Aktentasche. „Wollen Sie wirklich, dass der noch weiterredet?“
Nein. Wollte sie nicht. Definitiv nicht. Sie wollte, dass der Typ neben ihr weiterredete. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er sah eher aus wie ein übermüdeter Schlittenhundeführer als wie ein seriöser Mediziner.
„Begleiten Sie mich auf einen Kaffee?“, fragte Lieselotte mutig und biss sich auf die Unterlippe.
Er blickte auf die Uhr.
„Tut mir leid, aber das geht nicht.“ Als er die Enttäuschung in ihren Augen las, fragte er: „Wie wär’s, wenn wir uns beim Inkontinenz-Workshop treffen? Die hyperaktive Blase beim alten Menschen.“
„Es gibt weiß Gott Aufregenderes als Blasen.“ Sie schaute unschuldig.
„Ja, aber ich bin auch mit weniger aufregenden Dingen zu befriedigen“, gab er grinsend zurück.
„Inkontinenz.“ Sie nickte. „Das ist meine journalistische Leidenschaft. Neben der Impotenz.“
„Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.“ Er warf ihr noch einen amüsierten Blick zu und schlich hinaus.

Auf ihrem Programm stand nun eigentlich der Vortrag “Bone und Joint Decade”. Zu gern hätte sie jetzt ein bisschen relaxt, aber ihr war klar, dass dort nicht wirklich gekifft wurde. Sie kramte in der Tasche mit den Proben, die sie im Foyer eingesammelt hatte. Auch da fand sich leider nichts Entspannendes. Frustriert stopfte sie sich ein paar von den Viagra-Imitaten aus Schokolade mit blauem Zuckerguss in den Mund.

Als sie den Hörsaal betrat, kam sie sich vor wie in einem ausverkauften Theater. „Scheint ja doch etwas ganz Spannendes zu sein, so eine hyperaktive Blase“, dachte sie. Lieselotte hatte nur ein hyperaktives Kind, das war meist alles andere als spannend. Vergeblich suchte sie die Reihen nach dem Schlittenhundeführer ab und nahm enttäuscht auf einem der wenigen freien Sitze Platz.
„Muss noch jemand aufs Klo, bevor wir anfangen?“ Erschrocken schlug Lieselotte das Programmheft zu. Diese Stimme kannte sie doch.

Da vorn auf dem Podium stand er. Mit einem Headset auf dem Kopf, wie ein Rockstar bei einem Konzert. Und die Bühne sollte für die nächste Stunde ihm gehören. Natürlich musste niemand aufs Klo.

Völlig ohne Fremdworte kam Professor Thomas Kilmer aus. Und geradezu leidenschaftlich erzählte er über den Umgang mit diesem Tabuthema, voller Empathie mit den Betroffenen und trotzdem witzig und charmant. Als er ein paar Übungen zur präventiven Stärkung des Beckenbodens erklärte, beobachtete Lieselotte, wie die Frauen die Lippen aufeinander pressten und die Mienen in ihren Gesichtern sich abwechselnd an- und entspannten. Seltsamerweise machten das auch einige Männer. Was die wohl jetzt stärkten?

Das Publikum applaudierte begeistert, als Professor Kilmer geendet hatte. Mit einem Plädoyer für mehr Respekt. Einem Appell an die Toleranz. Und einem unverschämt hinreißenden Grinsen auf seinen Lippen. Irritiert blickte Lieselotte zur Seite, als sie leichten Uringeruch wahrnahm. Die Dame neben ihr zuckte mit den Achseln und schaute verlegen. Lieselotte lächelte. Tolerant und respektvoll.

„Gibt es noch Fragen?“ Es wurde wieder still im Saal. Plötzlich eilte eine Frau im blauen Kostüm auf Lieselotte zu und hielt ihr ein Mikrofon vor den Mund. Dabei hatte sie sich nur mal am Kopf gekratzt.
„Lieselotte Pfeffer vom ... ähm ... vom Da.heim.“ Sie stammelte: „Was ... was würden Sie einer Frau raten, die erste Symptome bemerkt?“ Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.
„Nun“, er blickte geradewegs in ihr Gesicht. „Nicht immer ist plötzlich auftretende Feuchtigkeit ein Alarmsignal für Inkontinenz. Erzählen Sie uns doch mehr darüber. In welchen Situationen tritt dieses Phänomen bei Ihnen auf?“
„Jetzt“, dachte Lieselotte und errötete. Denn plötzlich war sie da. Die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Dieses angenehme Kribbeln.
„Es geht nicht um mich“, versuchte sie auszuweichen.
Er ignorierte ihren Einwand.
„Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, würde ich aus ärztlicher Sicht keine Gegenmaßnahmen ergreifen.“
„Danke, ganz lieb. Ich lebe gern im Überfluss!“ Sie strahlte.
„Die Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur kann ich Ihnen trotzdem empfehlen“, setzte er nach. „Sie hat ausschließlich erwünschte Wirkungen. Nicht nur für Sie selbst.“
„Ich bin da nicht egoistisch.“ Lieselotte behielt das letzte Wort. „Ich helfe, wo ich kann.“

Später wartete sie geduldig vor der großen Flügeltür. Endlich kam er. Er blieb direkt vor ihr stehen, sehr nah vor ihr, stellte seine Aktentasche zu Boden und schaute sie an.
„Ja?“ Sonst sagte er nichts.
„Ja?“, wiederholte Lieselotte und hob die Schultern.
„Ja.“ Er wandte seinen Blick nicht von ihr.
„Ja.“ Sie hielt ihm stand.
Sie sahen einander tief in die Augen. Sehr warm war der Blick. Und sehr hungrig. Sie schwiegen. Lange schwiegen sie. Ein sehr viel sagendes Schweigen war das. Und Ein sehr lustvolles.
Als sie fertig waren mit Schweigen, sagte Lieselotte:
„Ich möchte mit Ihnen immer noch gern einen Kaffee trinken.“
„Tut mir leid, ich trinke keinen Kaffee.“ Er blickte sie weiter an. „Ich trinke Tee.“
„Blasentee?“, mutmaßte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Mein Lieblingstee ist ein Formosa. Ding Dong Green Oolong.“
Ihr Blick wanderte zu seiner Hose. „So, so. Ding Dong Oolong.“
Er nickte. „Ja.“
„Ich will mit Ihnen schlafen“, hörte sie sich sagen. Das hatte sie überhaupt noch nie in ihrem Leben gemacht, so direkt auszusprechen, was sie wollte. Zu ihrem Mann konnte sie noch nicht einmal sagen: „Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“

„Ja.“
„Was ja?“
„Ja.“ Seine Stimme war warm und ruhig. „Sie wollen mit mir schlafen.“
Lieselotte war verunsichert und erregt. Gerne hätte sie jetzt etwas Witziges gesagt, aber in Momenten wie diesen versagte ihr sonst so scharfer Verstand.

„Warum?“, fragte er jetzt.
„Was warum?“
„Warum wollen Sie mit mir schlafen?“
„Sie sind berühmt und wahrscheinlich auch reich und Sie haben einen tollen Körper.“ Das war nur ein kleiner Teil der Wahrheit, denn sein Witz, seine Eloquenz und seine Selbstsicherheit zogen sie weit mehr an.
„Ja. Da muss ich Ihnen zustimmen. Alles richtig.“
Lieselotte wünschte sich, dass er sie endlich berührte, mit den Lippen am besten oder wenigstens mit den Händen, aber er tat nichts dergleichen. Sie sehnte sich danach, dass seine Hände unter ihren Rock krochen, während er sie sanft und bestimmt gegen die Holzwand presste.

„Lieselotte“, sagte er nach einer Weile, ganz ohne Kriechen und Pressen. „Lieselotte von daheim. Gehen wir.“
Ihre Wangen wurden rot, ihre Knie wurden weich, und ihr Slip wurde noch ein bisschen feuchter.
„Wohin gehen wir?“ Ihr Mund hingegen war trocken.
„Wünsche erfüllen.“ Er nahm sie an der Hand und zog sie mit hinaus.

„Enden deine Vorträge häufig so?“, fragte sie später an Thomas gekuschelt. Glücklich, erschöpft und befriedigt.
„Ja“, sagte er. „Immer, wenn unter meinen Zuhörerinnen Frauen sind wie du. Geistreich, frech und schön.“ Er küsste sie. „Also nie.“


Der Alltag hatte sie längst wieder eingeholt. Sie reiste Thomas Kilmer nicht nach. Sie rief ihn auch nicht an. Sie hatte ihm gesagt, was sie wollte. Und sie hatte es bekommen. Sogar ein bisschen mehr. So einfach war das also.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja?“, fragte der verwundert.
„Ja.“ Lieselotte schluckte.
Jetzt würde sie es ihm sagen. Sie atmete noch einmal tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
„Ich will, dass du den Geschirrspüler ausräumst!“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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