Zerrissen
Aufgebrezelt für die Lesung, im kleinen Schwarzen und mit den schwarzen Strümpfen mit den großen Löchern, schau ich vorher noch bei meiner Lieblingsgroßtante vorbei.
Ich war immer das Liebkind von meiner Lieblingsgroßtante. Als Kind hab ich bei ihr Peter Alexander und Heintje gehört, am Samstag Abend Heinz Conrads „Guten Abend die Madln, servas die Buam“ geschaut, Würstel mit Senf und Semmeln (zu Hause gab es Semmeln nur ganz selten) gegessen und auf Kartonplättchen gezeichnet. Mit der Riesenpackung Buntstifte, weil ihr Bruder in der Buntstiftfabrik gearbeitet hat.
Als ich 18 war und und zu Bernd, dem deutschen Psychotherapeuten gezogen bin, ist sie zu mir gestanden. Und hat Bernd 10.000 Schilling geborgt, für die Autoreparatur. Bernd hat sein Auto reparieren lassen und war weg. Das Geld auch. „Nicht so wichtig“, hat meine Lieblingsgroßtante gesagt, die von der Mindestrente gelebt hat. „Das war Lehrgeld, das wir bezahlt haben.“ Von mir wollte sie es nicht zurück.
Jetzt ist sie 84.
„Barbara“, begrüßt sie mich, „du schaust ja entsetzlich aus. Hast du keinen Spiegel?“
Ähm. Ist auf der Fahrt ein Pickel gewachsen? Oder Nasenhaare? Ich werfe einen Blick in ihren Badezimmerspiegel. Alles wie es sein soll. O.k., ein paar Fältchen um die Augen, aber ich mag kein Botox. „Ganz schrecklich!“ Tante ist fassungslos. „Der Lippenstift ist viel zu rot.“
Ah. Das ist es. „Tu das weg. Da rennen ja die Leute davon bei deiner Vorlesung“, warnt sie mich. „Und diese zerrissene Strumpfhose! Dabei könntest du so bildhübsch sein.“ Immerhin. „Ja, schämst du dich denn gar nicht?“
Nein. Tu ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem beruhige ich sie. In dem Alter soll sie sich nicht mehr so aufregen. Sie ist herzkrank, hat Hautkrebs, Gicht und auch sonst alles, was nicht wirklich gesund ist. „Tante, keine Sorge, so zieh ich mich normal eh nicht an. Nur, wenn ich lese.“
Aber das beruhigt sie nicht. „ Barbara, Barbara, du wirst auch nicht gescheiter.“ Da mag etwas Wahres dran sein. „So eine Schande. So etwas können junge Dinger anziehen, aber doch nicht du in deinem Alter. Damit kannst du höchstens im Garten Laub rechen.“
Da würde sich mein Nachbar aber schön bedanken, Tante. Wenn ich in dem Aufzug und mit diesen Schuhen im Garten Laub reche.
„Wisch dir wenigstens den Lippenstift runter!“, rät sie mir noch.
Ich weiß, sie meint es gut. Deshalb drücke ich ihren schmalen Körper an mich und einen rubinroten Lippenstiftkuss auf ihre Wange. „Pass gut auf dich auf“, sage ich und wische nicht den Lippenstift vom Mund, sondern eine Träne aus den Augenwinkeln. Beinahe zerreißt es mir mein Herz. Nicht, weil ihre Ehrlichkeit mich kränkt. Sondern weil ich jedes Mal, wenn ich sie umarme, denke, es könnte das letzte Mal sein.
Ich war immer das Liebkind von meiner Lieblingsgroßtante. Als Kind hab ich bei ihr Peter Alexander und Heintje gehört, am Samstag Abend Heinz Conrads „Guten Abend die Madln, servas die Buam“ geschaut, Würstel mit Senf und Semmeln (zu Hause gab es Semmeln nur ganz selten) gegessen und auf Kartonplättchen gezeichnet. Mit der Riesenpackung Buntstifte, weil ihr Bruder in der Buntstiftfabrik gearbeitet hat.
Als ich 18 war und und zu Bernd, dem deutschen Psychotherapeuten gezogen bin, ist sie zu mir gestanden. Und hat Bernd 10.000 Schilling geborgt, für die Autoreparatur. Bernd hat sein Auto reparieren lassen und war weg. Das Geld auch. „Nicht so wichtig“, hat meine Lieblingsgroßtante gesagt, die von der Mindestrente gelebt hat. „Das war Lehrgeld, das wir bezahlt haben.“ Von mir wollte sie es nicht zurück.
Jetzt ist sie 84.
„Barbara“, begrüßt sie mich, „du schaust ja entsetzlich aus. Hast du keinen Spiegel?“
Ähm. Ist auf der Fahrt ein Pickel gewachsen? Oder Nasenhaare? Ich werfe einen Blick in ihren Badezimmerspiegel. Alles wie es sein soll. O.k., ein paar Fältchen um die Augen, aber ich mag kein Botox. „Ganz schrecklich!“ Tante ist fassungslos. „Der Lippenstift ist viel zu rot.“
Ah. Das ist es. „Tu das weg. Da rennen ja die Leute davon bei deiner Vorlesung“, warnt sie mich. „Und diese zerrissene Strumpfhose! Dabei könntest du so bildhübsch sein.“ Immerhin. „Ja, schämst du dich denn gar nicht?“
Nein. Tu ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem beruhige ich sie. In dem Alter soll sie sich nicht mehr so aufregen. Sie ist herzkrank, hat Hautkrebs, Gicht und auch sonst alles, was nicht wirklich gesund ist. „Tante, keine Sorge, so zieh ich mich normal eh nicht an. Nur, wenn ich lese.“
Aber das beruhigt sie nicht. „ Barbara, Barbara, du wirst auch nicht gescheiter.“ Da mag etwas Wahres dran sein. „So eine Schande. So etwas können junge Dinger anziehen, aber doch nicht du in deinem Alter. Damit kannst du höchstens im Garten Laub rechen.“
Da würde sich mein Nachbar aber schön bedanken, Tante. Wenn ich in dem Aufzug und mit diesen Schuhen im Garten Laub reche.
„Wisch dir wenigstens den Lippenstift runter!“, rät sie mir noch.
Ich weiß, sie meint es gut. Deshalb drücke ich ihren schmalen Körper an mich und einen rubinroten Lippenstiftkuss auf ihre Wange. „Pass gut auf dich auf“, sage ich und wische nicht den Lippenstift vom Mund, sondern eine Träne aus den Augenwinkeln. Beinahe zerreißt es mir mein Herz. Nicht, weil ihre Ehrlichkeit mich kränkt. Sondern weil ich jedes Mal, wenn ich sie umarme, denke, es könnte das letzte Mal sein.
testsiegerin - 9. Apr, 23:01