Sonntag, 8. Januar 2012

Maßliebchen

„Na du?“ seufzte Veronika und zog die verfaulte Wurzel aus der Erde. „Hast es auch nicht leicht gehabt im Leben, wie? Sei froh, dass es jetzt vorbei ist.“
Ihre Worte waren mehr an die Leiche unter als an die Pflanze in der Erde gerichtet, aber das war egal, denn keiner der beiden antwortete.
Veronika hatte grüne Augen und einen schwarzen Daumen. Zu Hause am Fensterbrett stand nur noch ein einsamer Philodendron scandens, die anderen Pflanzen waren unter ihre Pflege eingegangen.

Sie hatte eigentlich Friseurin und Perückenmacherin werden wollen. Aus Unachtsamkeit hatte sie das Kreuzchen bei der Frage nach dem Berufswunsch an die falsche Stelle gesetzt und war deshalb auf dem Friedhof gelandet. Immerhin als Gärtnerin.
Vielleicht war das auch gut so. Bestimmt war das gut so, denn wenn sie daneben schnitt, und sie schnitt oft daneben, dann gingen höchstens die Pflanzen ein und nicht die Kundinnen. Die waren in ihrem Fall ohnehin schon tot.

„Veronika!“ Oh, einer der Juniorchefs persönlich. Die drei Chefs ließen sich selten hier herüben blicken, wahrscheinlich machten die Toten ihnen Angst. „Die Stiefmütterchen sind grad gekommen.“
Johan van de Madeliefjes zog einen voll beladenen Handkarren hinter sich her. Unter dem Einfluss der prallen Junisonne senkten sich die Köpfe der Pflanzen demütig und nickten artig bei jeder Bodenwelle. „Die Todgeweihten grüßen dich“, raunten sie Veronika zu.
„Du lieber Himmel, Johan, wohin sollen denn all diese Omablumen?“
„Von wegen Omabloemjes. Schau nur, die herrliche Farben. Die kommen alle auf die Familiengrab von die ungarische Adelfamilie.“

Na großartig. Nicht genug, dass Österreich nicht mehr mit Ungarn vereint war, jetzt drohte auch noch eine kriegerische Auseinandersetzung. Oder zumindest eine diplomatische, was angesichts der Schlagkraft der beiden Armeen vermutlich verheerender war. „Österreicher schänden ungarisches Adelsgrab“, so würde die Schlagzeile in der Magyaren-Krone lauten. Wie grausam musste das erst auf Ungarisch klingen?

„Ähm. Ganz schön viele Blumen sind das. Wo ist denn eigentlich unser Praktikant? Der könnte mir wunderbar dabei helfen.“
„Ja, könnte er. Wenn er nicht bei die Voetbalspel die Bein gebrochen hätte. Macht nichts. Du hast die ganze Woche Zeit.“
„Ich schon, aber die Blumen sehen so aus, als würden sie den Tag nicht überleben.“ Veronika wusste, dass das eine optimistische Einschätzung war.
„Kopf hoch“, sagte Johan, aber die Pflanzen gehorchten ihm nicht. Veronika hatte sich oft gefragt, warum sie nicht längst hinausgeschmissen worden war. Sie mochte ihren Beruf mittlerweile ganz gerne, sie war gern in der Natur, sie mochte die trauernden und traurigen Menschen auf dem Friedhof, die Stimmung, wenn der Nebel sich im Herbst über die Gräber legte. Sie wusste selbst, dass sie eine lausige Gärtnerin war. Zu ungeschickt. Zu langsam. Zu verträumt. Die meisten jungen Pflänzchen starben ihr unter den Fingern weg. Sie spiegelten im Zeitraffer die Vergänglichkeit des Lebens. Wahrscheinlich hatte Veronika es einzig Johan zu verdanken, dass sie noch immer hier war. Er nahm sie gegenüber seinen Eltern und Brüdern immer in Schutz.

Johan war das schwarze Schaf in der Familie, eine einzige Enttäuschung, wie sein Vater einmal gesagt hatte. Er interessierte sich nicht für Fußball und nicht für Volksmusik. Vor allem interessierte er sich nicht fürs Geld und fürs Geschäft. Er wäre gerne Kindergartenpädagoge geworden, aber dann starb sein Opa und Johan erbte ein Viertel des Betriebs und war geblieben. Er mochte keine Konflikte, und so zog er eben junge Pflänzchen anstatt Kinder groß und band Allerheiligenkränze anstatt kleinen Mädchen Haarkränze zu flechten. Johan war für die Rosenzucht und fürs Personal in der Gärtnerei zuständig. Sowohl mit den einen als auch mit den anderen ging er liebe- und respektvoll um. Er war der festen Überzeugung, dass Stress weder Pflanzen noch Menschen gut tat. Dass sie sich nicht entfalten konnten, wenn sie schlechten Einflüssen ausgesetzt waren.

„Bis später in die Pause“, sagte er. „Niet weer darauf vergessen.“

Veronika begann die blauen Stiefmütterchen in die Erde zu setzen und malte sich dabei ihr Leben als Gräfin aus. Es war ihr klar, dass sie als Gräfin jetzt nicht mit bloßen Händen in der Erde wühlen würde, was sie aber nicht als besonderen Vorteil angesehen hätte. Die Graberde fühlte sich angenehm warm und weich an, und der leicht modrige Geruch verursachte ihr ein ehrfürchtiges Gruseln, besonders wenn sie sich vorstellte, dass der Moder aus zwei Metern Tiefe an die Oberfläche gekrochen war. Aber im Inneren eines alten Schlosses herrschte wohl ein ähnlich morbides Klima. Sie atmete tief ein, schloss die Augen und saß als Gräfin in einer schummrigen Bibliothek und blätterte in einem Buch mit Ledereinband. Schloss Trautmannsdorf, stand auf einigen der Grabinschriften, mal als Ort der Geburt, mal als der des Todes. Einige Familienmitglieder schienen das Gebäude in der Zeit dazwischen gar nicht verlassen zu haben.
Veronika kannte das Schloss, schließlich kam ihr erster richtiger Freund aus Trautmannsdorf und sie waren einmal dort spazieren gegangen. Sie erinnerte sich nur noch schwach an das baufällige Gemäuer, doch an die Zärtlichkeiten, die sie in dessen Schatten genossen hatte, erinnerte sie sich gut.

Ein diskretes Räuspern riss sie aus ihren Schlossgartenträumen.
„Entschuldigung“, stammelte sie, sprang auf und wischte sich die erdigen Hände im Overall ab. Es gehörte sich nicht, bei der Arbeit am Grabsteinrand zu sitzen, wenn Trauergäste in der Nähe waren. Und es gehörte sich schon gar nicht, bei der Arbeit nicht zu arbeiten, sondern zu träumen.
Der alte, aufrechte Herr mit weißem Schnurrbart und dicken, weißen Augenbrauen winkte ab. „Lassen Sie nur“, er lüftete seinen Hut und verbeugte sich. „Sie hat bestimmt Verständnis für ihre Müdigkeit. Sie selbst hat überhaupt nie in ihrem Leben gearbeitet. Sie war nur schön“, sagte er mit ungarischem Akzent und Bitterkeit in der Stimme.
„Wer?“
„Die Gräfin. Sie liegt hier.“
Veronika bückte sich und entfernte ein paar verwelkte Blätter vom Grab. „Kannten Sie sie?“
„Und ob ich sie kannte. Ich bin... ich war...“, er zog ein gebügeltes und akkurat gefaltetes Taschentuch aus seiner Sakkotasche und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Veronika zog die Augenbrauen hoch. Sie war gespannt. Wer war er zur Gräfin? Ihr Ehemann, der Graf himself? Ihr Koch, ihr Fahrer, ihr Leibarzt? Ihr heimlicher Geliebter gar?
„Sie war meine Schwester.“
Veronika stutzte. „Sie sind der Bruder der Gräfin?“, fragte sie erstaunt. „Aber ich hab Sie noch nie hier gesehen.“
Der alte Herr seufzte, setzte sich auf die Einfriedung des Grabes, nahm das Schäufelchen, grub damit ein kleines Loch und pflanzte ein violettes Stiefmütterchen ein. „Violett war ihre Lieblingsfarbe. Ich... ich bin das erste Mal hier“, erklärte er, „ich war länger verreist, wissen Sie?“
„Wie lebt es sich als Bruder einer echten Gräfin?“
„Halbbruder“, korrigierte er. „Ich war das Ergebnis einer Affäre unseres Vaters, des Fürsten, mit einer Bürgerlichen. Die Familie wollte nichts mit mir zu tun haben. In ihren Augen war ich ein Bastard. In meinen Adern fließt nur zur Hälfte blaues Blut.“
Veronika setzte sich zu ihm und strich über seinen Unterarm.
„Ich hatte Hausverbot im Schloss", fuhr er fort. „Wenn sie könnten, würden sie mir sogar verbieten, meine Schwester am Friedhof zu besuchen.“
Veronika hörte zu. Die Geschichte des alten Herrn verwob sich in ihrem Kopf mit ihrer eigenen Geschichte. Auch sie war ein unerwünschtes Kind gewesen, nur war ihr Vater kein Fürst, sondern Fleischhauerlehring gewesen. Ihre Mutter keine Bürgerliche, sondern eine siebzehnjährige drogensüchtige Schulabbrecherin. Mit dem Balg fühlten die Eltern sich heillos überfordert, ihre Mutter haute ins benachbarte Ausland ab und ließ sie zurück. Ihre Großmutter väterlicherseits erbarmte sich und zog Veronika auf. Einmal hatte sie gehört, wie die sie gegenüber der Nachbarin als Rauschkind bezeichnete. Wenn jemand wusste, wie es sich anfühlte, unerwünscht zu sein, dann sie.
„Haben Sie versucht, mit Ihrer Schwester Kontakt aufzunehmen?“ fragte sie ihn. Sie selbst hatte es probiert, aber ihre Mutter nicht gefunden. Sie wusste nicht mal, ob sie noch lebte.
„Veronika“, rief Johan von weitem. „Du musst nicht vergessen op die Pause, ja?“
„Gehen Sie ruhig, Kindchen“, sagte der alte Herr, der Laszlo hieß. „Lassen Sie sich Ihren Kaffee schmecken. Ich setze inzwischen die Blumen hier noch ein und geh dann. Wenn ich darf, komme ich morgen gerne wieder.“

Von da an kam Laszlo jeden Tag. Er half Veronika beim Laubrechen, machte Ordnung im Geräteschuppen, goss die Blumen und sorgte dafür, dass mehr Pflänzchen denn je ihre ersten Tage in Freiheit überlebten. Zwischendurch erzählte er Veronika aus seinem Leben, der Armut in Ungarn, während seine Familie im Schloss feudale Feste feierten, seiner Verhaftung während des Ungarnaufstands, von seiner lebenslangen Sehnsucht, zur Familie zu gehören. Veronika hörte zu, sagte selber nicht viel und schloss Laszlo von Tag zu Tag mehr in ihr Herz.
„Wovon träumen Sie?“, fragte sie einmal, als er einfach da saß und seine Augen sich in der Weite verloren. „Ich träume davon, wenigstens im Tod mit meiner Familie vereint zu sein.“ Ich noch im Leben, dachte Veronika, aber sie schwieg.


Eines Morgens tauchte Laszlo mit zerknittertem Anzug und völlig aufgelöst auf. „Ich geh da nicht mehr hin“, sagte er, „nie, nie wieder.“ Veronika schenkte ihm Tee aus der Thermoskanne ein, stellte Fragen, redete beruhigend auf Laszlo ein, aber es war nichts aus ihm herauszubekommen. Außer, dass er dort nicht mehr hinging. Wo immer dieses „dort“ auch sein mochte. „Bitte, Veronika“, schluchzte er verzweifelt, „schicken Sie mich nicht mehr dorthin zurück. Versprechen sie mir das. Bitte!“ Veronika versprach es. Wenn Lazlo nicht zurück wollte, wollte er eben nicht zurück.

„Johan“, sagte sie ins Telefon, „können Sie bitte kurz kommen? Ich brauche Ihre Hilfe.“ Johan kam, hörte und half. Hin und wieder kratzte er sich am Kinn, um schließlich zusammenzufassen: „Wenn Laszlo nicht zurück will, dann blijvt er even hier. Wir können ohnehin Hilfe gebrauchen.“
„Wenn Ihr Vater das erfährt, schmeißt er Sie aus der Firma“, sagte Veronika, als sie gemeinsam das alte Sofa in den Geräteschuppen schleppten.
„Nett, dass Sie sich mehr für andere Mensen sorgen dan für Sie. Keen Angst, der kommt so gut wie nie rüber.“

Johan besorgte noch einen Elektroradiator, einen Rasierapparat und Kosmetikartikel, Veronika organisierte eine Kochplatte sowie Töpfe und Teller und holte ein paar Hemden und Anzüge aus dem Caritas-Lager. Laszlo war eine große Hilfe, und Johan kam immer öfter rüber. Noch immer hatte er Angst vor den Toten, aber zu den Lebenden, die hier arbeiteten, fühlte er sich genauso hingezogen wie zu seinen Rosen.


„Wir möchten zu Herrn Graf“, sagten zwei Polizisten in Uniform und blickten sich suchend um.
„Der liegt da drüben. Im Familiengrab.“ Veronika nahm die alten Blumen und Kränze von einem Grab und blickte nicht auf.
„Nein, nein, wir suchen keinen Toten, sondern einen Lebenden. Harald Graf. Angeblich treibt er sich jeden Tag hier auf dem Friedhof herum.“
„Harald Graf? Nein, den kenne ich nicht. Nie von dem gehört oder gesehen.“
„Ein älterer Mann mit weißem Haar und Schnauzbart. Zirka 1,85 groß und gut gekleidet.“
Veronika ging ein Licht auf. „Sie sprechen nicht etwa von Laszlo?“ Der hielt gerade seinen verdienten Mittagsschlaf.
„Doch, von dem reden wir. Herr Harald Graf ist ein bisschen...“ er kreiste mit der flachen Hand vor seiner Stirn, „ein bisschen... Sie wissen schon. Laut Stationsschwester nennt er sich manchmal Laszlo und gibt sich als verstoßener Adeliger aus.“
Veronika biss sich auf die Lippen. „Hat er etwas angestellt?“
„Nein. Er ist nur aus dem Pflegeheim abgehaut. Wir sollen ihn wieder zurückbringen.“
„Hm.“ Jetzt war Veronika ratlos. „Nehmen Sie erstmal Platz, meine Herren“, Sie deutete auf die Parkbank bei dem Grabmal eines ehemals berühmten Volksschauspielers und drückte ihnen die Thermoskanne in die Hand. „Bitte bedienen Sie sich." Dann rief sie Johan an: „Johan? Können Sie bitte kurz rüberkommen?“

„Graf Laszlo hat gesagt, er will nicht mehr zurück“, erklärte Johan den Uniformierten, nachdem er vom Geräteschuppen zurück war. „Und wenn er nicht mehr zurück will, dann blijvt er even hier. Außerdem gebrauchen wir ihn hier. Er ersetzt den Praktikanten.“
„Oh Schwarzarbeit?“, zwinkerte einer der Polizisten verschwörerisch und klopfte sich selbst auf die Schulter.
„Nein. Ich habe ihn natuurlijk gemeldet. Sie können das gerne kontrolleren.“
Die beiden Polizisten schauten einander ratlos an. „Und jetzt?“, fragte einer. „Wir können das doch nicht einfach auf sich beruhen lassen?“ „Stimmt“, nickte der andere eifrig, „vielleicht wird Herr Graf ja gegen seinen Willen hier festgehalten? Wir müssen wenigstens mit ihm sprechen.“
„Könnten Sie bitte morgen weerkommen?", schlug Johan vor, „es geht heute Graf Laszlo nicht so goed.“

Veronika zog drei verwelkte Rosen aus dem vertrockneten Kranz und reichte sie den Polizisten. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Die dritte ist für die Stationsschwester. Sie soll sich keine Sorgen machen.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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