Liebe Marianne,
„Mariaaanne“, so haben Sie sich am Telefon immer gemeldet, mit einem langgezogenen a in der Mitte. Sehr oft haben Sie sich gemeldet, an manchen Tagen so oft, dass ich mich gelegentlich verleugnen lassen habe. Das tut mir jetzt leid. Ich möchte Sie um Entschuldigung bitten. Der Anrufbeantworter war da wesentlich geduldiger mit Ihnen, manchmal waren am Morgen 15 Nachrichten nur von Ihnen drauf.
Vor meinem Urlaub hab ich Sie gebeten, meine KollegInnen ein wenig zu schonen und nur im Notfall anzurufen. Ich weiß nicht, ob Sie angerufen haben in den letzten beiden Wochen. Ich weiß nur, dass Sie nie wieder anrufen werden. Und ich weiß, dass ich Ihre Anrufe vermissen werde. Vor allem die, wo Sie gesagt haben: „Frau Lehner, ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Alles paletti.“
In meinem Vorzimmer hängt das Bild, das Sie gemalt und mir geschenkt haben. Ein Gesicht, mit Kohlestift gezeichnet und mit tiefroten Lippen. Ich in dunklen Gedanken versunken steht darüber. Ich habe mich sofort in dieses Bild verliebt.
Und dann ist da noch das Gedicht, das Sie mir bei einem Hausbesuch übergeben und mich gebeten haben „Frau Lehner, machen Sie was draus.“ So wurde aus Ihrem Gedicht unser Gedicht. Der Letzte, heißt es und ich finde es richtig gut.
Der Schlüssel passt nur noch ins letzte Loch,
autet eine Zeile davon. Ich musste es mehrmals ausdrucken, auf gutem Papier, und Sie haben es stolz weitergeschenkt. Mit unseren beiden Namen darunter. Das macht mich jetzt ein wenig stolz, Marianne.
Es war nicht nur die vom Gericht verordnete Arbeitsbeziehung, die uns über viele Jahre (waren es 15 oder mehr?) verbunden hat, es war auch unser gemeinsamer Hang zur Kreativität. Und dieses Nichtgenugbekommen vom Leben, von seinen Genüssen, auch wenn uns oft nicht gut tut, was uns gut tut, das ist uns auch gemein. Ich glaub, wir waren ein gutes Team. Ich glaub, Sie haben gespürt, dass ich mich immer dafür eingesetzt habe, dass Sie so leben können, wie Sie wollen.
Wissen Sie eigentlich, wie gerne ich die Geschichte erzähle, als Sie zuerst freiwillig ins Heim gezogen und eineinhalb Jahre später wieder ausgezogen sind, obwohl niemand Ihnen das zugetraut hat? Nicht die Betreuer, nicht die Ärztin, nicht die Gutachter, und ich auch nicht. Da haben Sie meinen Urlaub genutzt, um die Koffer zu packen, sich ein Taxi zu rufen, Mobile Dienste zu organisieren und noch ein paar Jahre in Ihrem Haus gelebt. Jetzt haben Sie wieder meinen Urlaub genutzt, um ein Taxi zu rufen. Diesmal saß der Tod am Steuer.
Ich muss „Fälle abbauen“ (ja, so heißt das bei uns), weil ich eine neue Aufgabe übernehme. Und für mich war immer klar, Sie kann ich nicht abgeben, Sie werde ich als Klientin behalten, bis ich irgendwann in Pension gehe.
Vor meinem Urlaub hatte ich so ein komisches Gefühl, so ein Gefühl, als könnte ich Sie womöglich danach nicht mehr wiedersehen. Obwohl ich an so etwas nicht glaube, an solche Vorsehungen, oder Vorhersehungen. Ich weiß gar nicht mehr, was wir geredet haben beim letzten Hausbesuch, aber das war auch nicht so wichtig. Weil sich das Wesentliche ohnehin wortlos abgespielt hat.
Lass es dir gutgehen da oben, Marianne. Ich wette, du wirst ständig Besuch haben, du wirst dir auch dort oben ein Netz von Menschen spinnen, die dich beschützen und umgarnen, mit dir lachen und hin und wieder mit dir schimpfen, Menschen, die du manchmal an die Grenzen des Wahnsinns treibst, weil du selbst dort zu Hause bist. Du wirst endlich Unmengen von Cola trinken und Chips essen können, ohne auf deine Figur, dein Herz und deine Zuckerkrankheit achten zu müssen. Du wirst ungeniert und grenzenlos shoppen können im Paradies und all deine Lieben wiedertreffen, die du herunten so sehr vermisst hast.
Adieu, Marianne – und wenn du mal Zeit hast, ruf mich an und erzähl mir, wie es dir geht.
Ich werde dir zuhören, ich verspreche es.
Vor meinem Urlaub hab ich Sie gebeten, meine KollegInnen ein wenig zu schonen und nur im Notfall anzurufen. Ich weiß nicht, ob Sie angerufen haben in den letzten beiden Wochen. Ich weiß nur, dass Sie nie wieder anrufen werden. Und ich weiß, dass ich Ihre Anrufe vermissen werde. Vor allem die, wo Sie gesagt haben: „Frau Lehner, ich wollte nur sagen, es geht mir gut. Alles paletti.“
In meinem Vorzimmer hängt das Bild, das Sie gemalt und mir geschenkt haben. Ein Gesicht, mit Kohlestift gezeichnet und mit tiefroten Lippen. Ich in dunklen Gedanken versunken steht darüber. Ich habe mich sofort in dieses Bild verliebt.
Und dann ist da noch das Gedicht, das Sie mir bei einem Hausbesuch übergeben und mich gebeten haben „Frau Lehner, machen Sie was draus.“ So wurde aus Ihrem Gedicht unser Gedicht. Der Letzte, heißt es und ich finde es richtig gut.
Der Schlüssel passt nur noch ins letzte Loch,
autet eine Zeile davon. Ich musste es mehrmals ausdrucken, auf gutem Papier, und Sie haben es stolz weitergeschenkt. Mit unseren beiden Namen darunter. Das macht mich jetzt ein wenig stolz, Marianne.
Es war nicht nur die vom Gericht verordnete Arbeitsbeziehung, die uns über viele Jahre (waren es 15 oder mehr?) verbunden hat, es war auch unser gemeinsamer Hang zur Kreativität. Und dieses Nichtgenugbekommen vom Leben, von seinen Genüssen, auch wenn uns oft nicht gut tut, was uns gut tut, das ist uns auch gemein. Ich glaub, wir waren ein gutes Team. Ich glaub, Sie haben gespürt, dass ich mich immer dafür eingesetzt habe, dass Sie so leben können, wie Sie wollen.
Wissen Sie eigentlich, wie gerne ich die Geschichte erzähle, als Sie zuerst freiwillig ins Heim gezogen und eineinhalb Jahre später wieder ausgezogen sind, obwohl niemand Ihnen das zugetraut hat? Nicht die Betreuer, nicht die Ärztin, nicht die Gutachter, und ich auch nicht. Da haben Sie meinen Urlaub genutzt, um die Koffer zu packen, sich ein Taxi zu rufen, Mobile Dienste zu organisieren und noch ein paar Jahre in Ihrem Haus gelebt. Jetzt haben Sie wieder meinen Urlaub genutzt, um ein Taxi zu rufen. Diesmal saß der Tod am Steuer.
Ich muss „Fälle abbauen“ (ja, so heißt das bei uns), weil ich eine neue Aufgabe übernehme. Und für mich war immer klar, Sie kann ich nicht abgeben, Sie werde ich als Klientin behalten, bis ich irgendwann in Pension gehe.
Vor meinem Urlaub hatte ich so ein komisches Gefühl, so ein Gefühl, als könnte ich Sie womöglich danach nicht mehr wiedersehen. Obwohl ich an so etwas nicht glaube, an solche Vorsehungen, oder Vorhersehungen. Ich weiß gar nicht mehr, was wir geredet haben beim letzten Hausbesuch, aber das war auch nicht so wichtig. Weil sich das Wesentliche ohnehin wortlos abgespielt hat.
Lass es dir gutgehen da oben, Marianne. Ich wette, du wirst ständig Besuch haben, du wirst dir auch dort oben ein Netz von Menschen spinnen, die dich beschützen und umgarnen, mit dir lachen und hin und wieder mit dir schimpfen, Menschen, die du manchmal an die Grenzen des Wahnsinns treibst, weil du selbst dort zu Hause bist. Du wirst endlich Unmengen von Cola trinken und Chips essen können, ohne auf deine Figur, dein Herz und deine Zuckerkrankheit achten zu müssen. Du wirst ungeniert und grenzenlos shoppen können im Paradies und all deine Lieben wiedertreffen, die du herunten so sehr vermisst hast.
Adieu, Marianne – und wenn du mal Zeit hast, ruf mich an und erzähl mir, wie es dir geht.
Ich werde dir zuhören, ich verspreche es.
testsiegerin - 29. Jul, 15:29