Sonntag, 1. September 2013

Die Neue

Seit ein paar Wochen haben wir eine Neue in unserer Seniorenwohngemeinschaft Grauer Star. Ich war mir erst noch nicht ganz sicher, was ich von ihr halten sollte. Leichte Demenz. Sie wirkte etwas überheblich. Wortfindungsstörungen. Als ich sie fragte, was sie sich zum Essen wünsche, meinte sie: „Ich hätte gern Papierschnitzel“, statt „paniertes Schnitzel“ und so Dinge. Ein wenig paranoid ist sie („Warum schaut mich der Kerl so an?“), sie verlegt ständig ihre Sachen („Ich hab den Schuh bestimmt in den Kühlschrank gestellt und nicht unter die Decke, ich schwöre!“), ist ein bisschen verwirrt („Es donnert, also muss heute Donnerstag sein“). Nichts Schlimmes. Manchmal müssen wir sie nachts aus einem anderen Bett holen, seltsamerweise immer aus einem Männerbett. So ganz sicher bin ich mir mittlerweile nicht mehr, ob das nur an ihrer Desorientiertheit liegt.

Sie hält uns auf Trab und sich an keine Regeln oder ärztlichen Verordnungen. „Ich weiß selber, was gut für mich ist.“ Und sie behauptet, für sie wären morgens starker Kaffee und Schokolade gut, zu Mittag ein kleines Schläfchen und am Abend ein Filetsteak und Rotwein und vor dem Schlafengehen Tequila. Da ist sie stur. Ich glaube, es ist auch ihre Lust am Widerstand, der sie aufrecht hält. Deshalb denken wir uns manchmal etwas aus, das wir ihr verbieten können, damit sie diese Lust genießen kann.

Ich hab sie ins Herz geschlossen, denn sie ist sehr liebenswert, hat einen dunkelschwarzen Humor, ein großes Herz und jede Menge Macken.
Sie legt zum Beispiel Wert darauf, dass wir ihr jeden Tag, bei jedem Wetter, eine Strumpfhose anziehen. Nein, keine Stützstrümpfe oder beige Baumwollstrumpfhosen, wie andere Bewohnerinnen sie tragen, sondern richtig schöne Teile, manche sind bunt gemustert oder mit Giraffenmuster oder Streifen versehen.
„Aber die sieht doch niemand, Frau Lehner“, hab ich gesagt, als ich ihr gestern die Wolford ohne Naht angezogen habe – ich durfte die Nylons nur mit eigens dafür vorgesehenen Strumpfhandschuhen anfassen. Sie hat „aber das macht doch nichts, Kindchen“ gesagt, „ich fühle mich darin einfach sexy.“

Jeden Morgen – oder das, was sie für den Morgen hält, nämlich halb elf Uhr vormittags, müssen wir sie schminken. Ihre Augen sind schon schlecht und ihre Hände zittrig, und als sie ein paar Mal versucht hat, es selbst zu tun, hat sie wie ein Clown ausgesehen. „Ohne Lippenstift geh ich nicht aus dem Haus“, hat sie gemeint und geweint, dabei geht sie ohnehin nicht mehr aus dem Haus. Außer Mittwochs, aber dazu komm ich später.
Sie bekommt beinahe jeden Tag Besuch, von einer guten Freundin, oder von der besten, oder von der allerbesten Freundin, oder der allerallerbesten. Sie kennt ihre Namen nicht mehr, deshalb sagt sie zu allen: „Ach, meine Süße, ich hab dich so lieb!“ So nennt sie mich auch meistens. Oder „Kindchen“.

In ihrer Schreibtischschublade fand ich letztens ein Buch, und hab darin geblättert - ein ziemlich gewagtes Buch - mehr pornografisch als erotisch, und Sie können mir glauben, ich bin keineswegs prüde. Ich errötete und grinste und konnte mir die Frage nicht verkneifen. „Da schau her! So etwas lesen Sie?“
„Quatsch!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, „So etwas lese ich natürlich nicht.“ Und nach einer Pause: „So etwas schreibe ich nur.“
„Aber das Buch ist von Lucy Lubrič, von der hab ich schon mal gehört.“
„Glauben Sie, ich hätte das unter meinem richtigen Namen geschrieben? Das ist natürlich ein Pseudonym.“
Wie gesagt, sie ist etwas dement. Mal erzählt sie, sie wäre im Gefängnis gewesen, ein anderes Mal war sie früher Kinderbuchautorin, dann wieder Erotikbestsellerautorin, gelegentlich war sie Kabarettistin oder eine berühmte Schauspielerin. Sie fabuliert gern. „Sogar der Playboy hat mich einmal interviewt“, behauptet sie, „nackt.“

Von ihren Kindern weiß ich allerdings, dass sie früher Sachwalterin war. Ja, und jetzt hat sie selber einen, so ist das Leben. Mit dem, einem jungen Schnösel aus einer Anwaltskanzlei, fährt sie Schlitten, in dessen Haut möchte ich nicht stecken. Der zittert schon, wenn er bei der Tür hereinkommt, aber sie besteht darauf, dass er sie regelmäßig persönlich besucht. „Ich kenne meine Rechte, junger Mann“, pflegt sie ein Gespräch mit ihm zu beginnen. „Sie haben mir meine Wünsche zu erfüllen und nicht Ihre konservativen Werte von einem altersangepassten Leben aufs Auge zu drücken, kapiert? Ich scheiß auf ein in Ihren Augen würdiges Altern.“

Hin und wieder kommen auch ihre Kinder und Enkelkinder. Ihr Sohn ist Biobauer, fährt mit dem Traktor vor und bringt uns jedes Mal einen Sack Erdäpfel mit, oder einen Riesenkürbis; ihre Tochter ist Filmregisseurin in Kopenhagen. Ich hab sie letztens im Fernsehen bei der Oscar-Verleihung gesehen, eine sehr adrette Frau. Leider hat sie die Statue nicht gewonnen.

Ihre blonde Enkeltochter Matilda und sie sind ein Herz und eine Seele. Matilda ignoriert den Stuhl, den wir ihr vors Bett stellen, sondern setzt sich zu ihrer Oma ins Bett und liest ihr vor. Stundenlang. „Sie ist auch Autorin“, hat mir die Alte letztens stolz erzählt, „aber sie schreibt nur anständige Sachen. Ich würde ihr ja gerne helfen, aber so etwas kann ich wirklich nicht schreiben.“

Jeden Mittwoch kommt ihr alter Freund Anton. Er ist selbst nicht mehr so gut auf den Beinen, aber er holt sie mit dem Taxi ab und führt sie zum Essen aus, in die besten Restaurants der Stadt. An diesen Abenden macht sie sich immer besonders schön. Wenn ich am nächsten Morgen frage, was es denn zu Essen gegeben hat, sagt sie gereizt: „Woher soll ich das wissen?“ Und fügt versöhnlich hinzu: „Aber wir haben viel gelacht.“ Ja, das scheint ihr noch wichtiger zu sein als das Essen, das Lachen.

Sie ist eine friedliebende Person. Ein einziges Mal habe ich sie erwischt, wie sie aggressiv mit einem Stock auf eine Mitbewohnerin losgegangen ist und musste dazwischen gehen. „Die hat mir meine Strumpfhosen zerschnitten, diese Schlampe!“, hat sie geschrien und in einer Sprache geschimpft, die sich so ähnlich wie Chinesisch anhörte, aber das hab ich natürlich nicht verstanden. Wahrscheinlich war sie auch einmal eine berühmte chinesisch-russische Doppelagentin.

Nachts, wenn die anderen schlafen, spielt sie. Entweder sie zockt am Computer – ich habe aber auch schon beobachtet, dass sie schnell ein Fenster schließt, wenn ich hereinkomme und sie mein Klopfen nicht gehört hat - oder sie tarockiert mit Pfleger Jan und zwei männlichen Bewohnern im Dienstzimmer und knöpft ihnen Geld ab. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie klar sie da plötzlich ist, wenn sie die Spielkarten in der Hand hält. Keine Spur von Verwirrtheit. Für das Geld kauft sie sich Prosecco, und wenn sie richtig fett gewonnen hat, auch mal Champagner. Da besteht sie dann darauf, dass wir mit ihr anstoßen, aufs Leben, oder auf die Liebe. Oder auf überhaupt alles.

Sie teilt sehr gern. Letztens hat sie mir ihre Schmuckschatulle gezeigt, sehr originelle und schöne Stücke – natürlich war sie früher einmal eine berühmte Schmuckdesignerin und behauptet, den Schmuck selbst gemacht zu haben. Als ich einen Ring probiert und bewundert habe, hat sie gemeint: „Er steht Ihnen gut. Behalten Sie ihn. Mitnehmen kann ich mir ja doch nichts.“ Ich hab erklärt, dass das sehr lieb ist, wir aber keine Geschenke annehmen dürften. Das hat sie verstanden. „Das war bei uns früher auch so“, hat sie gesagt und mir eine Quittung ausgestellt. „Dankend erhalten“, hat sie mir zugezwinkert.

„Versprechen Sie mir etwas, meine Süße?“, fragt sie, als ich schon bei der Tür bin.
„Was soll ich Ihnen denn versprechen?“ Ich gehe zurück an ihr Bett und streiche ihr zärtlich über das weiße Haar.
„Versprechen Sie mir...“ Sie schaut in die Weite, als würde sie dort suchen, was sie mir sagen möchte. Aber sie findet die Gedanken und Worte nicht mehr. „Ich weiß nicht mehr“, sagt sie und schämt sich.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist drei Uhr früh. „Schlafen Sie gut, es ist spät.“ Ich schenke ihr noch einen Tequila ein, streue Salz auf die Stelle zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger und halte ihr die Hand, damit es nicht herunterrieselt. Sie leckt es ab, kippt den Tequila hinunter und beißt in das Stück Zitrone, das ich ihr gereicht habe.
„Jetzt weiß ich wieder, was ich sagen wollte.“ Sie strahlt. „Vergessen Sie nicht zu leben, meine Süße. Leben Sie einfach. Und genießen Sie. Dann können Sie auch in Frieden sterben.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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