Sonntag, 20. Oktober 2013

Die Prüfung

Die junge Frau hielt sich am Lenkrad fest und heulte. Ein tiefes Schluchzen, die Flüssigkeit quoll nicht nur aus ihren Augen, sondern auch aus der Nase und aus den Mundwinkeln. Sie schniefte und zog auf.

Ich halte die Tränen nicht mehr aus. Die Tränen der jungen Frauen, die bei der Prüfung durchsausen. Die ich bei der Prüfung durchsausen lasse. Durchsausen lassen muss, weil sie die Kriterien nicht erfüllen. Ich kann sie doch nicht nur aus Mitleid in den Straßenverkehr schicken und auf andere Verkehrsteilnehmer loslassen. Manchmal würde ich diese Heulsusen gerne an den Schultern fassen und schütteln. „Das ist nur eine Führerscheinprüfung, Süße“, würde ich sie gern anschreien, „das ist nicht das Leben!“ Zumindest nicht deines, denke ich. Es ist mein Leben. Und ich verdamme dieses Leben manchmal.
Es ist unglaublich, wie unsagbar unselbstständig und dumm manche der Schüler und Schülerinnen sind. „Was machen Sie, wenn die Ölkontrollleuchte aufleuchtet?“, habe ich sie gefragt. Eine Standardfrage. „Ich ruf meinen Papa an“, hat sie gesagt. „Und wenn du den nicht erreichst?“ „Den erreich ich immer. Der hat WhatsApp.“

Ich reichte ihr ein Taschentuch. „Nicht weinen, junge Frau“, sagte ich hilflos, „in zwei Wochen können Sie wieder antreten. Arbeiten Sie bis dahin an Ihrem Blickverhalten und fahren Sie vorausschauend. Das waren keine kleinen Fehler, über die man hinwegsehen kann, da geht's ums Eingemachte.“

Ich schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte ich einen Termin beim Arzt. Die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchung nachbesprechen. „Diesmal werde ich Sie auf Herz und Nieren prüfen“, hatte er gesagt und sich wahrscheinlich auch noch lustig gefunden.

Meistens prüfe ich junge Mädels und Burschen. Im Gegensatz zu den Mädels machen die Burschen auf cool und tun, als ob sie das alles nichts anginge. Besser Autofahren können Sie trotzdem nicht.
Gestern hatte ich eine Fahrschülerin der anderen Art. „Was ist das eigentlich für ein Gefühl, immer nur das Negative zu sehen?“ hat sie mich gefragt, als ich das Ergebnis mit ihr nachbesprochen habe. Sie war keine der schlanken, blassen jungen Mädels, ganz im Gegenteil. 71, zu dick, in wallenden Kleidern, eine violette Strähne im Haar. Natürlich ist sie mit Pauken und Trompeten durchgefallen.
„Wie jetzt – Gefühl?“, hab ich geantwortet. Dabei ist es nicht so, dass ich keine Gefühle habe. Es bereitet mir auch keine Freude – im Gegensatz zu einigen meiner männlichen Kollegen – die Prüflinge zur Schnecke zu machen. Ich fühle mich ihnen nicht überlegen und Wertschätzung ist mir sehr wichtig. Wertschätzung, Fairness und korrekte Umgangsformen. Weil ich mich von den Tränen nicht erpressen lassen möchte, verbiete ich das Weinen schon im Vorfeld. „Manche Übertretungen bedeuten den sofortigen Abbruch der Prüfung“, erkläre ich und lächle dabei, „zum Beispiel das Überfahren einer roten Ampel, die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um mehr als 20 km/h - und Tränen.“ Es ist mir unangenehm, dass manche sich trotzdem nicht an meine Vorgaben halten.

Die 71jährige hat nicht geweint, sondern schallend gelacht. „Ich wollte Sie einfach kennenlernen“, hat sie gesagt, „wissen Sie, ich wollte die Frau kennenlernen, die meine beiden Enkelkinder und die Tochter der Nachbarin bei der Prüfung durchfallen lassen hat. Ich wollte wissen, was für ein Mensch hinter so einer Prüferin steckt.“
„Aha.“ Ich habe die Papiere ausgefüllt und ihr gereicht. Für Smalltalk werde ich nicht bezahlt. „Sie können in zwei Wochen noch einmal antreten“, habe ich gesagt, „fahren Sie weniger weit links, halten Sie vor und nicht hinter der Haltelinie und führen Sie auf dem Übungsparkplatz den Drei-S-Blick konsequenter aus. Außerdem fahren Sie bitte nicht so schnell auf ungeregelte Kreuzungen zu. Da geht's ums Eingemachte, verstehen Sie? Üben Sie vor allem das Fahren im Siedlungsgebiet. Lernen Sie Ihr Auto kennen und schauen Sie sich noch einmal an, wie man die Standbremsprobe korrekt durchführt.“
Üblicherweise nicken die Schüler und Schülerinnen zu meinen Vor- und Ratschlägen oder murmeln „ich verspreche es“, obwohl ich ihre Versprechungen weder brauche noch will. Ich bin nicht ihre Erziehungsberechtigte, zum Glück, denn bei vielen der jungen Menschen habe ich das Gefühl, dass sie noch nie von jemandem erzogen worden sind. Manchmal amüsiere ich mich darüber, wie die Mädels ihre kurzen Kleider nach unten ziehen und den Lippenstift ins Taschentuch pressen, wenn sie begreifen, dass ihr Prüfer eine Frau ist.

Die Alte mit den kurzen grauen Haaren hat nicht genickt und sich nicht für meine Unterstützung bedankt. Sie hat einfach weitergelacht. „Sicher nicht“, hat sie gesagt. „Wissen Sie, ich fahre seit 54 Jahren Auto. Hat mein Großvater mir beigebracht. Seit 54 Jahren fahre ich ohne Führerschein und das werde ich auch die nächsten Jahre meines Lebens so halten. Aber in Zukunft werde ich bei jeder Kreuzung halten und die Lichtanlage kontrollieren. Und wenn ich nachts losfahre, überprüfe ich vorher die Hupe.“ Dann hat sie in ihrer überdimensionalen Handtasche gekramt und mir eine Flasche Champagner überreicht. „Genießen Sie das Leben“, hat sie gesagt, „es ist zu kurz, um es sich und anderen kaputtzumachen. Schön, Sie kennengelernt zu haben.“

Ich hätte sie anzeigen müssen. Aber irgendetwas hinderte mich daran. Am Abend machte ich die Flasche Champagner auf. Nach dem dritten Gläschen begann ich zu weinen. Niemand war da, der es mir verbot. Ich wollte doch nur alles richtig machen. Immer hatte ich alles richtig machen wollen, vor allem nach dem Tod meiner Mutter.
„Sei perfekt“, dröhnte es in meinem Kopf, „du musst immer alles besser machen, es ist nie gut genug.“ Es war die Stimme meines Vaters. Ganz leise mischte sich auch die sanfte Stimme meiner Therapeutin ein. „Du darfst Fehler machen und aus ihnen lernen.“ Aber sie hatte keine Chance gegen den autoritären Ton meines Vaters. Weil ich von mir selbst Perfektion fordere, meinte meine Therapeutin, verlange ich sie auch von den anderen. Die sollten es auch nicht einfacher haben als ich.

Die Therapie habe ich nach dem Scheitern meiner letzten Ehe begonnen. Ehemann Nummer eins war alles andere als perfekt gewesen. Dabei hatten wir es schön gehabt miteinander, mit dem VW-Bus durch die Wüste. Aber ich habe ihn in die Wüste geschickt, als mein Vater gesagt hat: „Such dir einen, der eine Familie erhalten kann.“
Ehemann Nummer zwei konnte. Er arbeitete Tag und Nacht. Zumindest dachte ich das. Irgendwann kam ich drauf, dass er nachts im Büro nicht nur arbeitete. Der Klassiker. Sie war jünger, blonder und dümmer.
Ehemann Nummer drei war treu, fleißig und langweilig. Nummer vier weigerte sich Ehemann zu werden. „Mein Leben ist mir auch ohne dich Prüfung genug“, hat er zum Abschied gesagt.
Ich habe das Kapitel Männer abgeschlossen.

Das Mädchen neben mir heulte immer noch. Ich konnte sie unmöglich so aus dem Auto schmeißen. „Na na, jetzt beruhigen wir uns aber wieder.“ Sie beruhigte sich nicht, sondern ihr Schluchzen wurde lauter und hysterischer. „Haben Sie Angst?“, fragte ich.
Sie nickte. „Wissen Sie, mein Vater wird so enttäuscht sein von mir. Bei ihm zählt man nur, wenn man sich anstrengt und alles richtig macht. Sonst ist man in seinen Augen nichts wert. Und ich mach immer alles falsch!“, steigerte sie sich hinein.
Ich schluckte. „Ach was“, tröstete ich sie, „das bilden Sie sich nur ein.“ Aber ich wusste, dass meine Worte gelogen waren. Sie bildete sich das nicht ein. Ich sah mich selbst hinter dem Lenkrad sitzen und weinen, aus Scham, versagt zu haben und aus Angst vor der Enttäuschung meines Vaters. Ich hätte uns beide, also das Mädchen und das Kind in mir, gern tröstend in die Arme genommen. Ich konnte nicht. Ich konnte aber auch nicht beide Augen zudrücken und sie durchlassen, damit sie zu Hause keine Schwierigkeiten bekam.
„Ich bring Sie jetzt nach Hause“, sagte ich und brachte sie nach Hause. „Schimpfen Sie bitte nicht mit Ihrer Tochter“, bat ich den Vater, „es ist wichtig, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen.“

*

„Und? Haben Sie mich auf Herz und Nieren geprüft? Hab ich bestanden oder muss ich noch mal antreten?“
„Herz und Nieren sind in Ordnung. Aber im Lungenröntgen haben wir Rundherde entdeckt, sehen Sie hier, diese weißen Flecken?“ Ja. Sie waren nicht zu übersehen, die Flecken. Große, weiße Schatten lagen über Lunge und Leben. „Auch die Harn- und Blutwerte deuten auf eine Veränderung hin“, fuhr er fort. Seine Miene wirkte besorgt. „Wir müssen weitere Untersuchungen machen, um eine genaue Diagnose zu stellen.“
„Krebs?“ Ich konnte plötzlich fühlen, wie er mich von innen her auffraß, der Krebs. „Was ist es eigentlich für ein Gefühl, Patienten solche Nachrichten zu überbringen?“, wollte ich wissen.
Er wich aus. „Ich schreib Ihnen eine Überweisung für die Untersuchungen und wir sehen uns in zwei Wochen wieder. Vielleicht ist ja alles nicht so schlimm.“
Auf einmal konnte ich seine Gedanken lesen. „Hoffentlich sehen wir uns in zwei Wochen wieder“, dachte er, „es ist nämlich noch schlimmer.“

Auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir eine Flasche Champagner und violette Haarfarbe. Vielleicht hat er ja nur einen Fehler gemacht bei der Untersuchung, dachte ich. Ich klammerte mich ans Lenkrad und weinte.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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