Eine wirklich stille Nacht

„Klausi!“ Seine Nachbarin Angela rüttelte ihn sanft. „Du musst aufstehen. Es ist kurz vor Weihnachten und du liegst hier herum! Und wie es da schon wieder ausschaut!“ Angela hielt sich die Nase zu. Neben kunstvoll verpackten Geschenken schimmelten Spaghetti Bolognese, Fischstäbchen, Topfenstrudel mit Vanillesoße und andere Fertiggerichte in Styroporbehältern vor sich hin, denn zum Kochen hatte Klaus schon seit Wochen keine Zeit mehr. Auf den Speckstreifen tummelten sich Maden. In der Ecke des Zimmers stand eine Batterie mit leeren Wein- und Wodkaflaschen.
„Jetzt aber raus aus dem Bett!“ Angela zog ihm die Decke weg. „Und in deinen Kleidern hast du auch schon wieder geschlafen.“ Sie riss das Fenster auf, um den Mief zu vertreiben. Klaus hielt sich die Augen zu, so sehr blendete ihn das gleißende Tageslicht.
„Erst vor ein paar Tagen hab ich gelesen, dass ein Briefträger aus der Südoststeiermark, der 24.000 Briefe gehortet hat, anstatt sie auszutragen, für drei Jahre in den Knast musste“, sagte Angela. „Willst du, dass dich das gleiche Schicksal ereilt?“
„Eh nicht“, sagte er, aber in Wahrheit war es ihm egal. In Wahrheit war ihm längst alles egal.
Er wusste aber, dass Angela nicht eher aufgeben würde, bevor er sich aus dem Bett quälte und sich an seine Arbeit machte.
Ein paar Tage später reichte es Angela. „Ich kann das nicht mehr mitansehen“, sagte sie, stopfte ihn in ihren Kleinwagen und brachte ihn in eine psychologische Praxis am Stadtrand.

Klaus ließ es einfach geschehen. Im Wartezimmer starrte er erst die Wand an und blätterte dann die Magazine auf dem Glastischchen durch. Das Glamour-Weihnachtsspecial. Er schmiss es zur Seite und blätterte die nächste Zeitschrift auf: Verschenk etwas Besonderes an die Frau, die schon alles hat. Wir haben originelle Weihnachtsgeschenke, niedrige Versandkosten und das Trusted Shops Zertifikat.
Warum sollte man Frauen, die alles haben, etwas schenken anstatt es den Menschen zu geben, die zu wenig haben? Und warum in Herrgottsnamen – Klaus biss sich auf die Zunge - mobile Waschmaschinen und Schlafkopfhörer?
Er riss die Seite in schmale Streifen.

„Herr Santer, was führt Sie zu mir?“
Er erschrak. „Wer, muss das heißen. Wer führt sie zu mir? Angela, meine Nachbarin, hat mich geführt.“
Sie lächelte ein professionelles Lächeln. „Was ist Ihr Anliegen?“
Er zuckte die Schultern. „Woher soll ich das wissen?“

„Ich möchte, dass Sie zunächst diesen Test hier ausfüllen“, sagte die Psychologin und reichte ihm einen Packen Papier.
Er wollte sie nicht enttäuschen. Nie wollte er jemanden enttäuschen, und doch passierte ihm genau das ständig. Ständig waren die Leute von ihm enttäuscht. „Na ja, wenn Sie unbedingt möchten. Geben Sie schon her!“

Der Test umfasste 23 Seiten und Klaus brauchte dafür eine knappe Stunde. Die ersten Fragen nach Geschlecht, Körpergewicht (bei der er ein wenig schummelte), Ess- und Suchtverhalten (bei denen er ein wenig mehr schummelte) waren noch halbwegs einfach zu beantworten. Wenigstens bei der Frage nach harten Drogen konnte er guten Gewissens „nie“ ankreuzen. Im nächsten Testteil ging es um Schmerzen. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen... brav machte er seine Kreuzchen bei „ständig“.

„Entschuldigen Sie bitte, aber was hat das alles für einen Sinn?“, fragte er die Psychologin, als sie mit einem Kaffee vom Automaten vorbeikam.
„Wir unterhalten uns später. Machen Sie jetzt bitte mit dem Test weiter.“
Klaus versuchte sich wieder auf den Test zu konzentrieren, aber es fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren.

Stellen Sie sich häufig Fragen wie: „Was hat das alles für einen Sinn?“
Er lachte zynisch. Und schrieb: Würden Sie das an meiner Stelle nicht? Was hat das denn alles für einen Sinn? Meine Arbeit. Mein Leben. Alles.

Denken Sie häufig, trotz Ihres Einsatzes nichts bewirken zu können?
Die Antwortmöglichkeiten lauteten: Nie, selten, manchmal, häufig oder oft.
Klaus zeichnete ein zusätzliches Quadrat auf den Zettel, in das er ein Kreuz machte. Immer, schrieb er daneben.

Hat Ihr sexuelles Verlangen nachgelassen?
Klaus hielt inne. Welches sexuelle Verlangen denn? Er war eine asexuelle Person. Zumindest erwarteten das die Menschen von ihm. Na gut, früher, da hatte sich oft etwas geregt, wenn Angela mit ihm Kaffee trank, Kekse aß und lachte. In letzter Zeit regte sich gar nichts mehr. Er entschied sich für „eher ja“.

Machen Sie zynische Bemerkungen über Ihre Kunden/Kollegen/Mitmenschen?
Nein. Diese gierigen Gfraster haben meine Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdient. Nichts ist genug. Immer mehr wollen sie, und je mehr sie bekommen, umso unglücklicher werden sie, die Erwachsenen wie die Kinder.

Vernachlässigen Sie Ihr äußeres Erscheinungsbild?
Das letzte Mal hatte er sich vor einem halben Jahr rasiert. Seine Arbeitskleidung war alt und zerschlissen, aber die Firma musste sparen und hatte kein Geld für neue. Und immer öfter schlief er in diesen Klamotten, weil seine Jeans nicht gewaschen waren und kein frisches Shirt im Schrank war. Und weil es ohnehin egal war.

Haben Sie sich von Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zurückgezogen?
Hohoho. Welche Freunde denn? Sein einziger Freund war sein Arbeitskollege Rudolph, und der war ein Rentier. Nein, kreuzte er an.

Sind Sie in den letzten sechs Monaten vergesslicher geworden?
Ja, in letzter Zeit vertauschte er immer öfter Pakete und konnte sich keine Namen mehr merken. Erst gestern hatte er zu Rudolph Ronald gesagt. Ronald. Rudolph hatte ihn gekränkt mit seiner roten Nase weggestupst.

Auf Seite 23, bei Frage 345.1a, nämlich Fühlen Sie sich innerlich leer, ausgelaugt und erschöpft?, schlief Klaus ein.

Die Psychologin beutelte ihn behutsam an den Schultern. „Herr Santer? Alles klar bei Ihnen?“
Er nickte und folgte ihr in das Sprechzimmer. Auf dem Tischchen lagen Tannenzweige und flackerte eine Kerze aus Bienenwachs. Die Psychologin überflog den ausgefüllten Testbogen, setzte sich ihm gegenüber in den weichen Ledersessel und schwieg. Plötzlich liefen ihm Tränen über die Wangen und verfingen sich im verfilzten Bart.

„Sie haben ein Burnout-Syndrom, Herr Santer.“ Sie blies die Kerze, die beunruhigend weit heruntergebrannt war, aus.
„Ist... ist das gefährlich, dieses Burn...?“ Davon hatte Klaus noch nie etwas gehört.
„Burnout beschreibt den Zustand des körperlichen und emotionalen Ausgebranntseins. Es kommt sehr häufig bei Menschen in helfenden Berufen vor. Gefährlich ist es, wenn Sie nicht dagegen angehen. Sie müssen etwas Grundlegendes in Ihrem Leben ändern. Außerdem müssen Sie prüfen, ob Ihre Lebenssituation noch Ihren Bedürfnissen entspricht oder wichtige Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben.“
Seine Bedürfnisse. Was hatte er denn für Bedürfnisse, außer sich Abend für Abend zuzudröhnen?

„Erzählen Sie doch: Was haben Sie denn vor Ihrer Erkrankung gerne gemacht.“
Er dachte nach. Es schien ewig her zu sein. „Ich bin Schlittenrennen gefahren“, sagte er und seine Augen begannen zu leuchten. „Und stundenlang durch den Wald marschiert. In meinem Sack hatte ich Nüsse und eine Rute und kein Einhorn-Dosenfleisch und Blutbad-Duschgel. Schön war das.“

„Ich schreibe Sie jetzt krank, Herr Santer. Zunächst einmal für drei Monate. Und zweimal wöchentlich kommen Sie zu mir zur Therapie.“
„Aber“, entgegnete Klaus, „ich muss doch...“
„Sie müssen gar nichts. Sie schauen jetzt bitte einfach nur auf sich.“


Das Gerücht, dass es dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke geben sollte, verbreitete sich rasch. Die Menschen waren aufgebracht und schrieben Beschwerdebriefe und der Handel stöhnte über massive Umsatzeinbrüche. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass die Psychologin und Angela sich gezwungen sahen, vor die Presse zu treten, eine Erklärung abzugeben und die Menschen um Entschuldigung zu bitten.

Klaus Santer an Burnout erkrankt

titelten die Zeitungen am nächsten Morgen. „Er muss sich schonen!“
Die Menschen, unter deren Freunden und Kollegen viele ebenfalls an Burnout litten, reagierten nachdenklich und betroffen. Sie fühlten sich mitschuldig am Gesundheitszustand von Klaus Santer. Also verschenkten sie dieses Jahr selbstgebackene Kekse, Aufmerksamkeit und Zeit, und trippelten auf Zehenspitzen durch die Stadt, um den Weihnachtsmann durch den Lärm nicht zusätzlich zu belasten.

Dieses Weihnachtsfest ging als stillste und friedlichste in die Geschichte ein.


Ich wünsche euch allen stille, friedliche und wunderschöne Feiertage!


KarenS - 24. Dez, 11:58

Ein wirklich schöner Text, der mich nachdenklich stimmt.

HARFIM - 24. Dez, 13:04

Der arme Weihnachtsmann :-)

Aber für mein kleines Finchen in Irland hoffe ich sehr, dass sich noch eine Vertretung findet.
Die Großen, joo, die können ruhig leer ausgehen.
Ich wünsche ebenfalls ein schönes Fest für jeden wie er es mag.

rote Zora (Gast) - 25. Dez, 21:32

for heaven´s sake!

Ich fühle mich Herrn Santer sehr verbunden und fühle mit ihm mit. Und er hat ein wunderschönes Fest ermöglicht. Da ich ja Weihnachten so liebe...
Danke liebe B.!!!

steppenhund - 26. Dez, 00:03

Tja, wär doch schön, wenn es sich wirklich so zutragen würde. Ich kann allerdings sagen, dass wir es in Brunn ruhig erlebt haben. Nur als ich letzte Woche mit meinen serbischen Kollegen auf der Mariahilferstrasse unterwegs war, hätte ich ja auch die Nerven weghauen können. Mehr Menschen, als ich in China gesehen habe. Das will etwas heißen.
Aber ich denke, ihr habt euch auch die notwendige Ruhe bewahrt.
Alles Gute nachträglich und dann noch einen guten Rutsch!

la-mamma - 26. Dez, 17:41

ein sehr schöner titel für eine sehr schöne geschichte;-)

datja (Gast) - 26. Dez, 18:11

;) :

mancherorts ist sein cousin nico laus eingesprungen.
gut gemeint halt ...

;)

testsiegerin - 29. Dez, 17:49

Danke euch!

rosmarin (Gast) - 15. Jan, 20:39

soifz..... schreiben sie gar nix mehr hier, liebe testsiegerin???

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
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