Spieglein, Spieglein an der Wand

Ich lausche den Texten der jungen, schönen Autorinnen und Autoren auf der Slambühne. Lächle, weil ich mich in meine Jugend zurückversetzt fühle, an meine Liebes- und Lern- und Leidensgeschichten. Die Welt ist eine andere mit 50+, denke ich. Die Gegenwart abgeklärter. Die Vergangenheit verklärter.

Die letzte Nacht durchgemacht hab ich ... ja, vor einer Woche. Aber nicht aufgrund von 13 Tequilas, sondern, weil ich nicht schlafen konnte, weil meine Tochter am Tag der Bundespräsidentenwahl nach Dänemark geflogen ist und ich sie um 4 Uhr morgens zum Flughafen gebracht habe. Sie ist nicht wegen der Wahl ausgereist, sondern wegen eines rotblonden Wikingers mit Vollbart, nachdem sie mir 20 Jahre lang erzählt hat, dass sie Männer mit Bart nicht mag, außer den Papa. 
Der Kopf nach dieser durchgemachten Nacht hat sich ähnlich angefühlt wie vor Jahrzehnten nach den 15 Tequilas, aber die Traurigkeit jetzt lässt sich nicht hinter Tomatenstauden kotzen wie die Übelkeit nach den 17 Tequilas. Oder waren es 19?

Wie gesagt, mein Leben ist ein anderes als das der jungen Autoren und Autorinnen. Nicht Generation Praktikum, sondern seit 25 Jahren mit dem selben Mann verheiratet und seit 23 Jahren mit dem selben Job. Wie langweilig muss das klingen in den Ohren der anderen?

Wenn ich aber in den Spiegel schaue, und zwar unter die glänzende Oberfläche, ganz tief hinein, wo es dunkel und geheimnisvoll ist, dann sehe ich nicht eine 54jährige Frau mit grauen Schläfen, dann bin ich wieder das kleine Mädchen, das Angst davor hat, dass Papa und Mama sich nicht mehr lieb haben, und das glaubt, schuld daran zu sein, weil es sich an den Süßigkeiten in Papas Naschlade vergriffen hat.
Dann sehe ich das Volksschulkind, das kluge und intelligente Mädchen, das der Lehrerin die Tasche mit den Hausübungsheften nach Hause trägt und immer eine extra Zierzeile für diese Lehrerin malt. Gibt es Zierzeilen überhaupt noch oder sind sie vom Aussterben bedroht? Der geliebten Lehrerin die Hausübungshefte nach Hause zu tragen war nicht einmal in den 60ern cool. Weil ich aber so gerne cool sein wollte, erzählte ich zu Hause bei Eingebrannten Erdäpfeln (die sind auch vom Aussterben bedroht und das zu Recht), dass ich zur Lehrerin „Arschloch“ gesagt habe, was natürlich nicht gestimmt hat, weil ich sie angehimmelt habe. 
Was gestimmt hat: Ich habe die schönsten Aufsätze für sie geschrieben und dafür Sternchen bekommen. Und für 6 Sternchen gab es ein Klebeherz. Aber Sternchen und Klebeherzen waren auch in den 60ern nicht cool. Cool war der Rudi, der das Tintenfass ausgetrunken hat, ohne mit der Wimper zu zucken. 
„Arschloch“ zur Lehrerin zu sagen war mindestens genauso cool. So gerne wollte ich Pippi Langstrumpf sein und brachte es doch nur zur Annika. Ein liebes, nettes Mädchen war ich, umkompliziert und unauffällig. Ein VW Käfer, der gern ein Citroen DS gewesen wäre.
Für das "Arschloch", das ich nie gesagt hatte, bekam ich Watschen vom Papa statt Sternchen von der Lehrerin. Watschen waren auch in den 60ern nicht cool, aber durchaus üblich. Rebellion hat eben ihren Preis. 


Meine Mama ging in die Schule und entschuldigte sich bei der Lehrerin für das "Arschloch", und später gab es noch mehr Watschen, fürs Lügen. Und der Dieter durfte der Lehrerin die Hausübungshefte nach Hause tragen, was viel mehr weh getan hat als die Watschen, die nur auf der Oberfläche schmerzten, aber nicht im Herz innen drinnen.
Im Spiegel sehe ich eine trotzige Pubertierende, die Hesse liest und Gedichte schreibt und die ein Stückchen Wüste grün machen möchte. Die die Schulkollegin, die stolz die Flecken der ersten sexuellen Erfahrungen auf der Bluse präsentiert und diese „Sportflecken“ nennt, naiv fragt „von welchem Sport?“ und dafür Spott und Hohn erntet.
Ich sehe die ungeschickte, tollpatschige Schülerin, die nicht in die Mannschaft gewählt wird. Die bei den Tauen grad mal zwei Meter schafft und sich den Medizinball auf die Zehen schmeißt.

Der Spiegel, in den ich schaue, bekommt Risse. Oder ist es in Wahrheit die Haut, die Falten wirft?

Die jungen Autorinnen und Autoren auf der Bühne erzählen vom Anderssein, vom Sichausgeschlossenfühlen und von der Sehnsucht dazuzugehören. Wenn ich so nachdenke, kenne ich niemanden, der sich rundum geliebt gefühlt und dazu gehört hat, cool war und beim Völkerball als erstes in die Mannschaft gewählt wurde. Wo sind sie, die Menschen, die das Gefühl hatten und haben, zu entsprechen und gut genug zu sein, für das Leben und die Herausforderungen, die es uns vor die Füße knallt. Wo sind sie, die Helden und Heldinnen der Nation, die uns das Leben schwergemacht haben? Sind sie nur eine Projektion, eine Illusion?

Vielleicht ist die Welt der jungen Autorinnen und Autoren auf der Bühne gar nicht so anders als die meine.

Nur jetzt.
blinkymen (Gast) - 29. Mai, 20:15

Alles wiederholt sich

Reale und vermeintliche Probleme gehören zum Leben wie Essen und Trinken, und „so ist die Welt der jungen Autorinnen und Autoren auf der Bühne gar nicht so anders“ als deine und meine. Möglicherweise ist die Dekoration eine andere.

Lo - 30. Mai, 19:28

Ein Teil dieses Kindseins bleibt in einem wohl immer erhalten. Liebgehabt werden und sich auch ab und zu einmal beschützt zu fühlen, obwohl man doch dem Kindsein er- oder entwachsen ist.
In meinem (Rück-)Spiegel sehe ich auch manchmal noch das Kind, das gern den Klassenclown gab, weil es damit ablenken konnte von dem, was es nicht hatte oder nicht war - oder einfach auch "dazugehören" wollte, und das schon damals davon träumte, Schauspieler zu werden, oder etwas anderes. Hauptsache, es löst Bewunderung aus bei denen, die man selbst bewunderte.
Einige von ihnen habe ich nach Jahrzehnten wiedergetroffen und dabei erkannt: ich hätte den Clown damals gar nicht geben brauchen.

Danke Dir für diesen Denkanstoß, liebe Barbara.

wortmischer - 31. Mai, 10:41

Ja, Klassenclown. Oder Mädchenschwarm. Oder vielleicht sogar beides? - Dieses Gefühl, nicht dazu zu gehören zu denen, die schon etwas erlebt hatten, Sportflecken zum Beispiel; und dann auf einmal mitbekommen, dass auch diese anderen nur mit Wasser kochen, genau so wenig erlebt haben wie man selbst, aber eben Selbstmarketing betreiben und aufschneiden bis zum Geht-nicht-mehr.

Das waren die besten Momente, wenn man plötzlich merkte, dass einen die anderen gar nicht so beknackt fanden, wie man sich selbst. - "Hauptsache, es löst Bewunderung aus bei denen, die man selbst bewundert."

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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