Die Phänomenologie des Geistes

„Elisabeth Kleist“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Hallo? Verdammt noch mal, wer ist da? Schon wieder irgendein dreckiger Stalker?“
Jetzt konnte sie ihn lächeln hören.
„Belästigen sie dich so oft, die Stalker? Na kein Wunder. Schön, deine Stimme zu hören, Elisabeth. Du weißt, ich liebe es, wenn du fluchst.“
„Paul.“
„Ja?“
„Nichts. Einfach Paul.“
„Ja.“
Ihr wurde warm. Sehr warm. Sie wusste nicht, wie er aussah. Wollte es auch gar nicht wissen. Sie wusste kaum etwas über sein Leben, seinen Alltag, und er nichts über ihren. Auch das war gut so, denn es wäre Elisabeth peinlich gewesen, wenn er wüsste, wie und wo sie lebte.
Sie waren einander nicht Alltag, sondern Luxus. Aber diese Stimme, die war ihr mittlerweile vertraut. Sehr vertraut. Und meistens sehr versaut.

„Wo waren wir bei unserem letzten Telefonat stehen geblieben?“, fragte sie unschuldig, dabei wusste sie es genau. In ihren Fantasien waren sie stehengeblieben, immer und immer wieder, in ihren verschwitzten Begierden, in dreckigen Gedanken, die sie mit niemandem sonst so teilen konnte wie mit ihm. Elisabeth schämte sich manchmal für diese Fantasien. Ein bisschen wenigstens.
„Ich nehme an, wir haben über Weltpolitik diskutiert und die Theorien der Vertreter des deutschen Idealismus erläutert“, sagte Paul.
„Ich nehme an, wir haben übers Ficken geredet.“ Elisabeth errötete und schluckte die letzten Reste ihrer Hemmungen hinunter, „darüber, wie du dich erst sanftzart an mir reibst und mich dann hart von hinten nimmst. Und mir dabei total dreckige Sachen ins Ohr flüsterst.“
„Das liebe ich an dir, Elisabeth. Du kommst immer gleich zur Sache. Aber du weißt schon, ich kann mit jemandem so richtig versaut nur reden, mit dem ich auch über die Verbriefungen zweiter Stufe der Subprime-Kredite und über Hegel reden kann.“
„Hegel war ein Arschloch. Er wähnte den Staat in Gefahr, wenn Frauen an der Spitze der Regierung stehen, weil diese seiner Ansicht nach nur nach zufälliger Neigung handelten und nicht im Sinne der Allgemeinheit.“
„Und? Hatte er nicht Recht? Ist unser Staat denn nicht in Gefahr?“ Er liebte es, sie zu provozieren. Er wusste, dass sie sich nach solchen Diskursen wie Wachs in seinen Händen formen ließ.
„Arschloch“, zischte sie in den Hörer.
„Wer? Hegel?“
„Du auch.“
„Immerhin eignen sich Hegels Meinung nach Frauen besonders zum Klavierspielen. Egal, für mich ist er der Philosoph, der seine Zeit in Gedanken fasst. Spannend an Hegel ist ja, dass das nach ihm niemals mehr so gelingen kann - danach, nach diesem ungeheuren Systementwurf, entlarvt sich alles als pure Ideologie. Insofern ist der Mann für mich zumindest ein notwendiges Arschloch.
„Ich muss dir etwas sagen, Paul.“
„Ja?“
„Ich kann gar nicht Klavierspielen.“
„Ich weiß. Du beherrscht das Blasen sicher besser. Ich hätte gern, dass du diese Kenntnisse endlich mal bei mir anwendest. Ich stell mir grad vor, wie du vor mir kniest, mich demütigst anschaust und ich dich an den Haaren näher zu mir ziehe.“
Sie kicherte. Sie seufzte. Sie stöhnte.
„Wo ist deine Hand denn gerade?“, wollte er wissen.
„Da, wo sie hingehört, wenn ich mit dir rede. Unter der Decke.“
„Brav. Stell dir einfach vor, es wäre meine.“
„Red weiter“, raunte sie jetzt. „Von mir aus über die Phänomenologie des Geistes. Hör jetzt bitte einfach nicht auf zu reden.“

*


„Schnell“, rief die Stationsschwester der geriatrischen Abteilung Sonnenblume, „ein entsetzlicher Schrei aus Zimmer 31. Die alte Kleist. Wahrscheinlich ist sie aus dem Bett gestürzt.“
„Ach was“, grinste der Pfleger, „die hat bestimmt wieder mit Herrn Paul vom Zimmer 23 telefoniert.“
rinpotsche - 30. Dez, 12:42

notiere: wenn mal bettlägrig, dann unbedingt mit Telefonanschluss! (wunderbare Geschichte!!!)

oops - 30. Dez, 12:43

kann mich nur anschliessen
testsiegerin - 30. Dez, 16:36

merci.
zum glück werden wir dann alle schon handys haben im pflegeheim ;-)
la-mamma - 30. Dez, 17:49

auf jeden fall besser als skypen;-)

ah ja und: mir g'fallt die geschichte auch.
testsiegerin - 30. Dez, 18:30

@ lamama: in dem fall glaub ich das auch ;-)
Sternenstaub - 30. Dez, 14:41

welch tolle Wendung .... immer wieder ein Genuss ;))))

testsiegerin - 30. Dez, 16:38

wieso wendung?
die wendung passierte höchstens in deinem kopf. weil wir halt heißen telefonsex (noch?) nicht mit alten, lustorientierten menschen verbinden.
Sternenstaub - 30. Dez, 16:44

wahrscheinlich, geb ich zu .... aber ich konnt mir mit 20ig auch ned vorstelln, dass ich mit 40ig und plus noch Sex hab ....

bzw. kannte ich mal eine die musste sich als Kind immer genieren, weil ihre Mutter sie mit 35 bekam und damit offen kund tat in DEM Alter noch Sex zu haben ....

aber egal ... ich mag solche Wendungen, die mir eben zeigen, dass das Leben aus anderen Bildern, als denen in meinem Kopf bestehen kann !!!

drum ist es für mich auch immer wieder ein Genuss, deine Geschichten zu lesen ;)))))
rosmarin (Gast) - 30. Dez, 18:13

:-)
nun frage ich mich, wann frau kleist und herr paul sich endlich mal in der wäschekammer treffen :-)

testsiegerin - 30. Dez, 18:31

das wird schwierig. die wissen ja nicht, dass sie beinahe tür an tür wohnen ;-)
und vielleicht wäre elisabeth sehr enttäuscht, weil herr paul seit seinem schlaganfall nur noch eine hand bewegen kann.
rosmarin - 31. Dez, 01:04

eine hand, kann durchaus sehr angenehm sein :-)
testsiegerin - 31. Dez, 10:44

das ist wohl wahr.
datja - 30. Dez, 21:19

:)))

Anja-Pia - 1. Jan, 11:44

Der alte Kleist würde sich im Grabe umdrehen. ;-)

testsiegerin - 1. Jan, 12:33

Der alte Kleist wurde ja nicht wirklich alt. Er hat sich 1811 (also vor 200 Jahren) im Alter von nur 34 Jahren am Wannsee erschossen. Aus seinen Werken zu schließen war Liebesleidenschaft ihm keineswegs fremd - auch wenn vermutet wird, dass diese Leidenschaft eher Männern als seiner Ulrike galt. Zumindest enthalten einige seiner Briefe an befreundete Männer sehr direkte und sinnliche Passagen.

"Und was ist des Strebens wert, wenn es die Liebe nicht ist!" (Kleist)
Jossele - 2. Jan, 18:42

Das nimmt ein bisserl die Angst vor dem Altwerden ;-)
Knusprig und weich zugleich, wie immer.

Ps.: Ich tät deine Anschrift für Post benötigen (josef_muehlbacher@utanet.at)

testsiegerin - 2. Jan, 18:49

wahrscheinlich schreib ich ja gegen das älterwerden an.
aber ich glaub ehrlich gesagt tatsächlich nicht, dass das mit der lust und den trieben ganz aufhört, nur weil man älter wird.

ich hoff, ich find mal ein altersheim, in dem tarockiert wird und in dem es tequila und caipirinha gibt. - auch noch nach 17 uhr.
Uta-Traveller - 3. Jan, 19:50

Intelligenz und Triebe gepaart in einem Text - klasse

und diesen Satz mag ich besonders:
"Sie waren einander nicht Alltag, sondern Luxus."

lieben Gruß
Uta

testsiegerin - 3. Jan, 22:53

oh ja. ein seltener glücksfall, wenn intelligenz, eloquenz und triebhaftigkeit bei männern hand in hand gehen ;-)
Yorvik (Gast) - 7. Jan, 20:34

gestern nacht hab ich mir boris vian bei amazon endlich wieder nachbestellt und heute aus einer inspiration heraus deine seite angeschaut...2011 wir gut und du auf deine alten tage immer besser :-)

küsschen aus berlin

ein wundervolles jahr euch

jörg

testsiegerin - 9. Jan, 19:30

oh. das ist schön, von dir zu lesen! ich hoff, euch geht es auch gut und ihr genießt das leben.
hoffentlich sehen wir einander bald wieder!

bussi
b.

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