27. Tag - Mehr schlecht als recht
Weil ich schon ein bisschen müde bin vom vielen Herumwandern in mir, nehme ich den Bus. Schleiche am Kontrollor vorbei, steige hinauf ins offene Oberdeck, setze Sonnenbrille und Kopfhörer auf und lasse mir den Wind durchs Haar wehen. Ein bisschen Bequemlichkeit darf ich mir ruhig hin und wieder gönnen.
„We welcome you warmly to our today’s trip“, haucht mir eine warme, männliche Stimme ins Ohr und ich fummle hektisch an der Fernbedienung herum. „Bienvenue ...“ chchch ....“Sdrasdwui ...“ chchchch ... „Herzlich willkommen ...“ Endlich. „Wir heißen Sie nochmals herzlich willkommen zu unserem kleinen Ausflug in das Innenleben. Sie haben die Wahl.“ Nicht schon wieder. Ich will keine Wahl, ich will, dass mir jemand sagt, wo es lang geht. „Um in die Liebenswürdigkeit abzubiegen, drücken Sie bitte den linken Knopf. If you decide to visit your gentleness, please press the left button.“
Au ja, das klingt nett. Ich freue mich auf mein liebenswertes Lächeln. Meine freundlichen, lobenden Worte. Weil ich aber neugierig bin, warte ich die zweite Möglichkeit ab. „Leider haben Sie keinen Knopf gedrückt“, ertönt es nach einer langen Pause. „Wir biegen daher rechts ab. In die Schlechtigkeit.“
Was hören meine Ohren? In die Schlechtigkeit?
Nun bin ich ja das, was die schlechten Menschen so abfällig einen Gutmenschen nennen. Immer auf Seiten der armen, alten, schwarzen, alleinerziehenden, lesbischen, kriminellen, behinderten Rollstuhlfahrerinnen.
Es gibt nicht viele von ihnen, leider, deshalb merken manche Leute meine Gutmenschlichkeit gar nicht. Und ausgerechnet ICH reise jetzt in meine Schlechtigkeit, es ist nicht zu fassen.
Nun gut, denke ich, ich bin in bester Gesellschaft, denn sogar Robin Hood nahm den Reichen und gab den Armen. Ich bin halt selber arm, na und? Schuldhaft in Not geraten.
„Rechts zwischen den Büschen können Sie die Reliquien einer diebischen Vergangenheit sehen“, vernehme ich durch die kleinen Knöpfe in meinem Ohr. Ich erröte und schäme mich in Grund und Boden, aber ich wage einen Blick. Hinter dem Hollerbusch stapeln sich die Sonntagszeitungen, viele von ihnen noch ungelesen. Ein Lippenstift aus England. Ich erinnere mich an das Herzklopfen, als ich – knapp 15jährig – in London an der Kassa stand, den Lippenstift in meiner Tasche.
An einem Baum hängt ein dickes Buch von Ulla Hahn. Mit Widmung. Ich habe es auf der Frankfurter Buchmesse geklaut. Aus Notwehr, denn ich wollte es erwerben (es gibt sogar eine Zeugin), aber die haben es mir nicht verkauft, obwohl da tausende davon herumlagen, einfach so. Die Widmung habe ich mir selbst auf dem Klo hineingekritzelt, weil ich Angst vor einer Kontrolle hatte.
„Fahren Sie bitte schneller!“, schreie ich dem Busfahrer zu, aber der zuckelt langsam durch meine kleinen Vergehen und Verbrechen. Ein paar gefälschte Unterschriften aus der Schulzeit fliegen herum und eine Schadensmeldung an die Versicherung. Auf jedem zweiten Baum pickt ein Aufkleber mit der Aufschrift Schwarzfahrerin. Plötzlich reißt eine Windböe mir meine Sonnenbrille vom Gesicht. Sie bleibt in den Blättern eines Johannisbeerstrauches hängen. Hoffentlich kriegt sie keine Kratzer ab. Ja, ich gestehe, ich hab vergessen, sie zu bezahlen. Wirklich vergessen, ich schwöre! Seitdem sehe die Welt durch eine gestoh... vergessene Brille, glauben Sie mir, das ist Strafe genug. Ich schleudere die Kopfhörer aus dem Bus und presse meinen Kopf zwischen die Knie. Aufhören! Bitte! Ich will nicht damit konfrontiert werden.
Die Stimme lässt sich nicht abdrehen. Sie kommt jetzt aus riesigen Lautsprecherboxen. Alle können hören, wie ich wirklich bin. Sie zeigen mit den Fingern auf mich. Sie verachten mich.
Ich heule.
„Die Rundfahrt ist zu Ende. Bitte alles aussteigen.“ Ich bleibe sitzen, denn ich möchte mit diesem Gefühl nicht schlafen gehen. Ich schenke Ulla Hahn mein nächstes Buch, nehme ich mir vor. Die englische Verkäuferin von 1977 werde ich wohl nicht mehr auftreiben. Ich kann nur hoffen, dass sie den Lippenstift nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlen musste.
„Bitte alles aussteigen!“, wiederholt der Busfahrer.
Vielleicht kann ich ihn überreden, mit mir noch eine Runde zu fahren. Ich werde auch ganz bestimmt den linken Knopf drücken.
Und das Ticket bezahlen.
Liebe Grüße!
Die Karte habe ich gekauft.
Ich schwöre.
„We welcome you warmly to our today’s trip“, haucht mir eine warme, männliche Stimme ins Ohr und ich fummle hektisch an der Fernbedienung herum. „Bienvenue ...“ chchch ....“Sdrasdwui ...“ chchchch ... „Herzlich willkommen ...“ Endlich. „Wir heißen Sie nochmals herzlich willkommen zu unserem kleinen Ausflug in das Innenleben. Sie haben die Wahl.“ Nicht schon wieder. Ich will keine Wahl, ich will, dass mir jemand sagt, wo es lang geht. „Um in die Liebenswürdigkeit abzubiegen, drücken Sie bitte den linken Knopf. If you decide to visit your gentleness, please press the left button.“
Au ja, das klingt nett. Ich freue mich auf mein liebenswertes Lächeln. Meine freundlichen, lobenden Worte. Weil ich aber neugierig bin, warte ich die zweite Möglichkeit ab. „Leider haben Sie keinen Knopf gedrückt“, ertönt es nach einer langen Pause. „Wir biegen daher rechts ab. In die Schlechtigkeit.“
Was hören meine Ohren? In die Schlechtigkeit?
Nun bin ich ja das, was die schlechten Menschen so abfällig einen Gutmenschen nennen. Immer auf Seiten der armen, alten, schwarzen, alleinerziehenden, lesbischen, kriminellen, behinderten Rollstuhlfahrerinnen.
Es gibt nicht viele von ihnen, leider, deshalb merken manche Leute meine Gutmenschlichkeit gar nicht. Und ausgerechnet ICH reise jetzt in meine Schlechtigkeit, es ist nicht zu fassen.
Nun gut, denke ich, ich bin in bester Gesellschaft, denn sogar Robin Hood nahm den Reichen und gab den Armen. Ich bin halt selber arm, na und? Schuldhaft in Not geraten.
„Rechts zwischen den Büschen können Sie die Reliquien einer diebischen Vergangenheit sehen“, vernehme ich durch die kleinen Knöpfe in meinem Ohr. Ich erröte und schäme mich in Grund und Boden, aber ich wage einen Blick. Hinter dem Hollerbusch stapeln sich die Sonntagszeitungen, viele von ihnen noch ungelesen. Ein Lippenstift aus England. Ich erinnere mich an das Herzklopfen, als ich – knapp 15jährig – in London an der Kassa stand, den Lippenstift in meiner Tasche.
An einem Baum hängt ein dickes Buch von Ulla Hahn. Mit Widmung. Ich habe es auf der Frankfurter Buchmesse geklaut. Aus Notwehr, denn ich wollte es erwerben (es gibt sogar eine Zeugin), aber die haben es mir nicht verkauft, obwohl da tausende davon herumlagen, einfach so. Die Widmung habe ich mir selbst auf dem Klo hineingekritzelt, weil ich Angst vor einer Kontrolle hatte.
„Fahren Sie bitte schneller!“, schreie ich dem Busfahrer zu, aber der zuckelt langsam durch meine kleinen Vergehen und Verbrechen. Ein paar gefälschte Unterschriften aus der Schulzeit fliegen herum und eine Schadensmeldung an die Versicherung. Auf jedem zweiten Baum pickt ein Aufkleber mit der Aufschrift Schwarzfahrerin. Plötzlich reißt eine Windböe mir meine Sonnenbrille vom Gesicht. Sie bleibt in den Blättern eines Johannisbeerstrauches hängen. Hoffentlich kriegt sie keine Kratzer ab. Ja, ich gestehe, ich hab vergessen, sie zu bezahlen. Wirklich vergessen, ich schwöre! Seitdem sehe die Welt durch eine gestoh... vergessene Brille, glauben Sie mir, das ist Strafe genug. Ich schleudere die Kopfhörer aus dem Bus und presse meinen Kopf zwischen die Knie. Aufhören! Bitte! Ich will nicht damit konfrontiert werden.
Die Stimme lässt sich nicht abdrehen. Sie kommt jetzt aus riesigen Lautsprecherboxen. Alle können hören, wie ich wirklich bin. Sie zeigen mit den Fingern auf mich. Sie verachten mich.
Ich heule.
„Die Rundfahrt ist zu Ende. Bitte alles aussteigen.“ Ich bleibe sitzen, denn ich möchte mit diesem Gefühl nicht schlafen gehen. Ich schenke Ulla Hahn mein nächstes Buch, nehme ich mir vor. Die englische Verkäuferin von 1977 werde ich wohl nicht mehr auftreiben. Ich kann nur hoffen, dass sie den Lippenstift nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlen musste.
„Bitte alles aussteigen!“, wiederholt der Busfahrer.
Vielleicht kann ich ihn überreden, mit mir noch eine Runde zu fahren. Ich werde auch ganz bestimmt den linken Knopf drücken.
Und das Ticket bezahlen.
Liebe Grüße!
Die Karte habe ich gekauft.
Ich schwöre.
testsiegerin - 30. Mai, 21:15