Die Gedanken sind frei?
Vor vielen Jahren haben sie ihn hierhergebracht, in Handschellen. Er hat sich immer noch nicht an die Haft gewöhnt. Man gewöhnt sich nie daran, denkt er. Es wäre leichter, wenn er allein wäre, oder mit jemandem, mit dem er sich blind versteht. Aber hier sind so viele Mithäftlinge und er versteht die wenigsten von ihnen. Manche spielen ganze Nacht Karten und hindern ihn am Denken; andere spielen verrückt. Ein paar spinnen einfach so vor sich hin, diese Träumer.
Früher war er einer von ihnen. Einer der jungen Wilden. Hat immer wieder an den Gitterzellen gerüttelt, an den Zellergittern, an den Zittergellen oder den Gellenzittern, hat die Gitter zum Zittern und die Zellen zum Zetern gebracht.
Aber das ist lange vorbei. Jetzt freut er er sich sogar an seinen täglichen Runden im Hof; dabei geht der Gedanke im Kreis, immer und immer wieder. Sein Ansuchen auf Freigang haben sie abgelehnt. „Zu gefährlich!“ haben sie gesagt. Und die Sache mit den Ausbruchsversuchen hat er längst aufgegeben. Sie haben ihn immer wieder eingeholt, die Wachegedanken, die alles andere als wache Gedanken sind. Aber das hat er ihnen nicht gesagt, wozu sie beleidigen?
„Ich möchte bitte hier raus!“ hat er eine dieser Wachegedanken höflich gebeten, weil er verstanden hat, dass Druck nichts bringt, außer Gegendruck. Der vorwitzige Wachebeamte – pragmatisiert, oder verbeamtet, wie die deutschen Gedanken sagen – hat zynisch mit den großen Schlüsseln gerasselt und gesagt: „Dann geh doch! Die Gedanken sind frei!“
Leider nein, denkt der Gedanke. „Na gut, dann möchte ich zumindest mit dem Leiter der Gedankenvollzugsanstalt sprechen“, verlangt er, „das ist mein gutes Recht.“ Er wird zu ihm gebracht, in Handschellen, damit er sich unterwegs nicht verflüchtigt.
Der Leiter ist ein kluger, aber ein zynischer Kopf. Eine sehr häufige Kombination.
Unser Gedanke hält sich für einen besonders schlauen seiner Sorte, er will seinen Intellekt und seine Bildung beweisen, als er mit der flachen Hand theatralisch auf den großen Mahagonitisch des Direktors schlägt und aus Don Carlos zitiert: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit!“
„Aber wieso?“, fragt der Direktor leise und schiebt sich die Ärmelschoner ein Stückchen höher, „ich dachte, die Gedanken wären ohnehin frei?“
Der Gedanke wird traurig. Mit gesenktem Kopf schleicht er wieder zurück in seine Stammzelle. Sein Stammheim. Er war ein gefürchteter, berüchtigter, terroristischer Gedanke, damals. Dabei hat er nur an Gerechtigkeit gedacht und geglaubt, und dass Gerechtigkeit nichts mit Kapital zu tun hat und er hat Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Gedanken gefordert; ja, sogar Schwesterlichkeit hat er gefordert, für die feministischen Gedankinnen. Was für ein törichter, romantischer Gedanke ich damals war, denkt er abgebrüht und desillusioniert.
Als er am nächsten Tag in seiner Großraumzelle aufwacht, die keineswegs groß, sondern lediglich überbelegt ist, vergnügen sich gerade ein paar schmutzige Gedanken. Er wagt nicht hinzuschauen. Ihn ekelt. Wie diese dreckigen, versauten Gedanken schamlos vor den anderen herumvögeln, denkt er.
Der Zwangsgedanke, der in der selben Zelle untergebracht ist, leidet darunter noch mehr als er. Er schlüpft in seine Latexhandschuhe und putzt die Gitterstäbe. Wieder und wieder, obwohl sie längst glänzen wie Gold.
Der Gedanke, der so gerne frei sein will, setzt sich in die Ecke der Zelle und denkt nach. Er schließt die Augen und hält sich die Ohren zu, denn er hält das Gestöhne nicht aus. Auch aus den Nachbarzellen dringt Lärm. Trotz der zugehaltenen Ohren zuckt er zusammen, als er hört, wie die Gitter zu Boden krachen. Berstende Scheiben. Schüsse. Schreie.
Er kauert sich tiefer in sich zusammen. Gewalttätige Gedanken machen ihm Angst. Das war nicht immer so, als er noch jung und ungestüm war, da hatte er selbst zu Gewalt aufgerufen. Deshalb war er schließlich hier, im Gefängnis. Mittlerweile – alt und gestüm – hat er kapiert, dass man mit Gewalt gar nichts erreichen kann, schon gar nicht die Freiheit.
Die jungen, ungestümen Gedanken haben ihn am Vortag ausgelacht, als er vom Direktor zurückgekommen und ihnen von ihrem Gespräch erzählt hat. „Und du willst ein vernünftiger Gedanke sein?“, haben sie gehöhnt und ihn nachgeäfft: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ „Freiheit kann uns niemand geben“, hat einer gesagt, der sich für den Knastphilosophen hält, „Freiheit müssen wir uns nehmen. Mit allen Mitteln.“
Sie trampeln über ihn hinweg und stürmen hinaus ins Freie, das sie mit der Freiheit verwechseln.
Unser Gedanke bleibt einfach sitzen und wartet. Er hat Zeit. Langsam lässt der Lärm nach, hin und wieder hört er noch, wie Einrichtung kaputtgeschlagen wird, als könnte sie etwas für die Vergehen der Gedanken, oder für die schrecklichen Haftbedingungen. Von weitem schreit jemand: „Der Direktor ist tot, es lebe die Freiheit!“
Irgendwann sitzt er ganz allein in der Zelle. Ein alter, einsamer Gedanke.
Ein fürsorglicher Mitgedanke ist noch einmal zurückgekommen. „Los, komm mit.Willst du denn nicht hinaus? Gib mir die Hand, ich helfe dir!“, bietet er seine Unterstützung an.
Der Gedanke schüttelt nachdenklich den Kopf und bedeutet dem mitfühlenden Mitgedanken mit einem Klopfen auf den kalten Boden, sich neben ihn zu setzen.
„Weißt du“, sagt er, „die Freiheit ist in uns, oder eben nicht.... Ja, halt mich ruhig für blöd oder pathetisch oder alles zusammen, aber ich bin zum Schluss gekommen, dass wir sie da draußen nicht finden, sondern nur, wenn wir endlich zur Ruhe kommen. Ich bin alt, ich habe viel gedacht im Leben, zu viel vielleicht. Zu viel gedacht und zu wenig genossen. Und zu wenig gespürt“, fügt er hinzu und seufzt.
„Aber fürs Spüren sind wir nicht zuständig. Dafür sind die Gefühle da, nicht wir“, widerspricht der mitfühlende Mitgedanke sich selbst.
„Wie auch immer. Ich bin zum Schluss gekommen...“, sagt er und stirbt.
Der fühlende Gedanke, der Widerspruch in sich, schließt ihm die Augen und deckt ihn mit einer gestreiften Decke zu. Er hat viel Erfahrung und weiß: Immer, wenn ein Gedanke stirbt, kommt ein neuer.
Früher war er einer von ihnen. Einer der jungen Wilden. Hat immer wieder an den Gitterzellen gerüttelt, an den Zellergittern, an den Zittergellen oder den Gellenzittern, hat die Gitter zum Zittern und die Zellen zum Zetern gebracht.
Aber das ist lange vorbei. Jetzt freut er er sich sogar an seinen täglichen Runden im Hof; dabei geht der Gedanke im Kreis, immer und immer wieder. Sein Ansuchen auf Freigang haben sie abgelehnt. „Zu gefährlich!“ haben sie gesagt. Und die Sache mit den Ausbruchsversuchen hat er längst aufgegeben. Sie haben ihn immer wieder eingeholt, die Wachegedanken, die alles andere als wache Gedanken sind. Aber das hat er ihnen nicht gesagt, wozu sie beleidigen?
„Ich möchte bitte hier raus!“ hat er eine dieser Wachegedanken höflich gebeten, weil er verstanden hat, dass Druck nichts bringt, außer Gegendruck. Der vorwitzige Wachebeamte – pragmatisiert, oder verbeamtet, wie die deutschen Gedanken sagen – hat zynisch mit den großen Schlüsseln gerasselt und gesagt: „Dann geh doch! Die Gedanken sind frei!“
Leider nein, denkt der Gedanke. „Na gut, dann möchte ich zumindest mit dem Leiter der Gedankenvollzugsanstalt sprechen“, verlangt er, „das ist mein gutes Recht.“ Er wird zu ihm gebracht, in Handschellen, damit er sich unterwegs nicht verflüchtigt.
Der Leiter ist ein kluger, aber ein zynischer Kopf. Eine sehr häufige Kombination.
Unser Gedanke hält sich für einen besonders schlauen seiner Sorte, er will seinen Intellekt und seine Bildung beweisen, als er mit der flachen Hand theatralisch auf den großen Mahagonitisch des Direktors schlägt und aus Don Carlos zitiert: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit!“
„Aber wieso?“, fragt der Direktor leise und schiebt sich die Ärmelschoner ein Stückchen höher, „ich dachte, die Gedanken wären ohnehin frei?“
Der Gedanke wird traurig. Mit gesenktem Kopf schleicht er wieder zurück in seine Stammzelle. Sein Stammheim. Er war ein gefürchteter, berüchtigter, terroristischer Gedanke, damals. Dabei hat er nur an Gerechtigkeit gedacht und geglaubt, und dass Gerechtigkeit nichts mit Kapital zu tun hat und er hat Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Gedanken gefordert; ja, sogar Schwesterlichkeit hat er gefordert, für die feministischen Gedankinnen. Was für ein törichter, romantischer Gedanke ich damals war, denkt er abgebrüht und desillusioniert.
Als er am nächsten Tag in seiner Großraumzelle aufwacht, die keineswegs groß, sondern lediglich überbelegt ist, vergnügen sich gerade ein paar schmutzige Gedanken. Er wagt nicht hinzuschauen. Ihn ekelt. Wie diese dreckigen, versauten Gedanken schamlos vor den anderen herumvögeln, denkt er.
Der Zwangsgedanke, der in der selben Zelle untergebracht ist, leidet darunter noch mehr als er. Er schlüpft in seine Latexhandschuhe und putzt die Gitterstäbe. Wieder und wieder, obwohl sie längst glänzen wie Gold.
Der Gedanke, der so gerne frei sein will, setzt sich in die Ecke der Zelle und denkt nach. Er schließt die Augen und hält sich die Ohren zu, denn er hält das Gestöhne nicht aus. Auch aus den Nachbarzellen dringt Lärm. Trotz der zugehaltenen Ohren zuckt er zusammen, als er hört, wie die Gitter zu Boden krachen. Berstende Scheiben. Schüsse. Schreie.
Er kauert sich tiefer in sich zusammen. Gewalttätige Gedanken machen ihm Angst. Das war nicht immer so, als er noch jung und ungestüm war, da hatte er selbst zu Gewalt aufgerufen. Deshalb war er schließlich hier, im Gefängnis. Mittlerweile – alt und gestüm – hat er kapiert, dass man mit Gewalt gar nichts erreichen kann, schon gar nicht die Freiheit.
Die jungen, ungestümen Gedanken haben ihn am Vortag ausgelacht, als er vom Direktor zurückgekommen und ihnen von ihrem Gespräch erzählt hat. „Und du willst ein vernünftiger Gedanke sein?“, haben sie gehöhnt und ihn nachgeäfft: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ „Freiheit kann uns niemand geben“, hat einer gesagt, der sich für den Knastphilosophen hält, „Freiheit müssen wir uns nehmen. Mit allen Mitteln.“
Sie trampeln über ihn hinweg und stürmen hinaus ins Freie, das sie mit der Freiheit verwechseln.
Unser Gedanke bleibt einfach sitzen und wartet. Er hat Zeit. Langsam lässt der Lärm nach, hin und wieder hört er noch, wie Einrichtung kaputtgeschlagen wird, als könnte sie etwas für die Vergehen der Gedanken, oder für die schrecklichen Haftbedingungen. Von weitem schreit jemand: „Der Direktor ist tot, es lebe die Freiheit!“
Irgendwann sitzt er ganz allein in der Zelle. Ein alter, einsamer Gedanke.
Ein fürsorglicher Mitgedanke ist noch einmal zurückgekommen. „Los, komm mit.Willst du denn nicht hinaus? Gib mir die Hand, ich helfe dir!“, bietet er seine Unterstützung an.
Der Gedanke schüttelt nachdenklich den Kopf und bedeutet dem mitfühlenden Mitgedanken mit einem Klopfen auf den kalten Boden, sich neben ihn zu setzen.
„Weißt du“, sagt er, „die Freiheit ist in uns, oder eben nicht.... Ja, halt mich ruhig für blöd oder pathetisch oder alles zusammen, aber ich bin zum Schluss gekommen, dass wir sie da draußen nicht finden, sondern nur, wenn wir endlich zur Ruhe kommen. Ich bin alt, ich habe viel gedacht im Leben, zu viel vielleicht. Zu viel gedacht und zu wenig genossen. Und zu wenig gespürt“, fügt er hinzu und seufzt.
„Aber fürs Spüren sind wir nicht zuständig. Dafür sind die Gefühle da, nicht wir“, widerspricht der mitfühlende Mitgedanke sich selbst.
„Wie auch immer. Ich bin zum Schluss gekommen...“, sagt er und stirbt.
Der fühlende Gedanke, der Widerspruch in sich, schließt ihm die Augen und deckt ihn mit einer gestreiften Decke zu. Er hat viel Erfahrung und weiß: Immer, wenn ein Gedanke stirbt, kommt ein neuer.
testsiegerin - 29. Jul, 12:38
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