Die nackte Wahrheit

Wieso ist die Wahrheit eigentlich immer nackt?
Ich meine, die Gute ist ja nun auch nicht mehr die Jüngste. Ist es ihr nicht peinlich, wenn sie – egal, wohin sie geht – nackt auftritt? Schämt sie sich nicht, uns mit diesem Anblick so penetrant zu belästigen?
Also, wäre ich die Wahrheit, ich würde wenigstens in einen Schlüpfer schlüpfen. Nicht nur der bedrohten Wörter wegen, sondern wegen der Scham. Aber die Wahrheit scheißt sich nichts, reißt sich die Kleider vom runzligen Leib und benimmt sich so ... so überlegen irgendwie. Immer will sie recht haben. Und dann dieser Sauberkeitsfimmel. „Ich bin die reine Wahrheit“, pflegt sie zu sagen. Ja, sie hat nie so schmutzige Fingernägel wie ich, wahrscheinlich wühlt sie mit ihren Händen nie in der feuchten Erde und der Dreck geht sie einen Dreck an.
Vielleicht ist die Wahrheit ja auch bettelarm und kann sich keine Klamotten leisten? Nein, die Caritas würde ihr welche schenken. Ich auch.
Sie merken schon, sie nervt mich. Die reine, nackte Wahrheit. Diese Nudistenfreundin der Tatsachen und des Wahnsinns. Sie merkt nicht einmal, wie oft und wie sehr sie Menschen mit ihrer übertriebenen Ehrlichkeit verletzt. Das ist ihr auch völlig egal, darum geht’s ihr nämlich gar nicht, um Mitmenschlichkeit und funktionierende Beziehungen. Dafür bin ich nicht zuständig, winkt sie herablassend ab.
Und trotzdem, wenn man genau hinschaut, glücklich wirkt sie ganz und gar nicht. Sie wird zwar bewundert und begehrt, aber in Wahrheit haben die Menschen Angst vor ihr. Große Angst. Weil wir uns selbst ständig schuldig und nackt fühlen, wenn sie uns mit ihrem durchdringenden Blick ansieht?
Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, sehe ich an ihrer Gänsehaut, wie sie fröstelt. Und weil ich Mitleid habe, werfe ich ihr einen Mantel zu. Einen, der aus menschlicher Wärme und Notlügen gewebt ist. Genäht mit einem feinem Augenzwinkern. Ich hoffe, sie behält ihn an.
Ach ja, das mit der Hoffnung, das ist auch so eine Sache. Man meint zwar, sie wäre positiv und immer gut gelaunt. Irrtum, sie ist total egoistisch. Rundherum sterben die Gefühle, sie schaut gleichgültig zu, macht auf generös und lässt allen den Vortritt. In Wahrheit hat sie Angst. Angst vor dem Tod. Deshalb stirbt die Hoffnung immer zuletzt. Aber das ist eine andere Geschichte.
rosmarin (Gast) - 17. Jun, 00:26

ich denke, die wahrheit kann getrost nackt herumlaufen. es sieht sie ja eh keiner. letztlich suchen wir sie immer nur, gelegentlich finden wir etwas abgelegte haut von ihr.... aber dann ist sie schon wieder weitergezogen.... und wir suchen weiter nach ihr.

testsiegerin - 17. Jun, 10:51

Du hast recht. ich hab heute nacht im Traum alle meine Freunde und Bekannten gefragt, ob sie die nackte Wahrheit kennen. Sie alle haben den Kopf geschüttelt. Während der nackte Wahnsinn zu ihren besten Freunden gehört, haben von der Wahrheit alle nur gehört, aber keiner kennt sie persönlich.
Vielleicht gibt es sie gar nicht und das ist nur ein Gerücht? Damit es uns schlecht geht? So wie mit dem schlechten Gewissen?
schneck06 - 17. Jun, 01:43

haben sie recht, ein bisschen. die wahrheit zieht sich halt aus, weil dann schaut sowieso jeder hin (kann sie aber nichts dafür), egal, ob sie jetzt alt oder jung ist. und sie ist ja auch nicht zuständig. sie ist fein raus, muß sich nur nackig auf die stufen setzen. aber das muß man ja auch erst einmal hinbekommen, nicht? daß die fingernägel der wahrheit ohne würstchen sind, das wage ich zu bezweifeln. sie hat dreck am stecken, aber noch mehr dreck am stecken hat die notlüge. gottlob mögen sich die beiden nicht. eine frage wäre noch, ob die wahrheit und die notlüge weibchen sind? unwesentlich. mäntel, die man ihr zuwirft, die mag sie nicht. sie ist autistin, kein kommunikationswunder, das liegt ihr auf den chromosomen. und zuletzt, die tante hoffnung, die, die immer kuchen backen will, die macht sich nach meiner einschätzung auch eher sorgen um die beiden erstgenannten. na, soll sie.

testsiegerin - 17. Jun, 10:58

Erstmal danke für die Inspiration. Ich sah sie auf Ihrem Bild auf den Stufen sitzen, die nackte Wahrheit. Du wirst dich erkälten, habe ich gesagt, geh lieber nach Hause. Ich habe kein Zuhause, hat die Wahrheit geantwortet und meinen Mantel abgelehnt, in Wahrheit gehöre ich nirgends hin und keiner will mich haben. Höchstens hin und wieder, als Besucher. Sie sah irgendwie traurig aus. Am ganzen Körper hatte sie blaue Flecken. Sie treten mich mit ihren Füßen, hat sie noch gemeint und war ganz blass.
Ich hätte sie gern ins Krankenhaus gebracht, aber auch das wollte sie nicht, wahrscheinlich ist sie nicht versichert. Die Wahrheit muss so etwas aushalten, hat sie gemeint und überheblich gegrinst.
schampar (Gast) - 17. Jun, 02:10

nackte Wahrheit ist immer nur

das, was ich dafür halte. Meine echten, eben nackte Gefühle/Gedanken. Meistens für Mitmenschen nicht nach voll zieh bar. Wenn ich sie nutze, beschert sie mir oft Verluste und Schmerzen.

Da erziele ich mit der durchgestylten Heuchelei doch ganz andere Resultate - aber das zwiespältige Gefühl danach? Sich ja nur keine Blösse geben.

Mal so, mal anders. Da bleibt oft nur noch die andere Geschichte. Aber die werden Sie uns sicher nicht vorenthalten wollen. Bin gespannt.

testsiegerin - 17. Jun, 11:06

Ja, die Wahrheit ist gewalttätig. Sie tut weh. Auch ohne Waffen. Sie ist eine Waffe. Und die Entscheidung, ob wir sie anwenden müssen wir jedesmal aufs neue treffen.

es wird noch viele andere geschichten geben. ich werde sie meinen leserInnen nicht vorenthalten. kann ich gar nicht ;-), selbst wenn ich wollte.
datja (Gast) - 17. Jun, 13:19

mein bild ist so:
die reine, nackte wahrheit ist für mich ein stählernes schwert. zweischneidig.
vorsichtig zu benutzen. man kann sich so leicht selbst damit reinschneiden.
selten notwendig. meistens verletzend.
bei lästigen lebenslügen, spöttischen überheblichkeiten, groben respektlosigkeiten und anderen unangenehmen dingen aber manchmal erforderlich.
als notwehr vielleicht? halt auch zum kaputtmachen geeignet. in jedem fall gefährlich.
aber bei sachgerechtem umgang (wer kann das schon ?) zum entfernen von geschwüren geieignet. kann dann heilsam sein.
wirkt gegen die hitze des nackten wahnsinns.
macht aber frösteln.
da ist mir die feine ironie viel lieber, die versteht sich nämlich mit der liebe.

testsiegerin - 18. Jun, 11:03

schön hast du das gesagt.
ironie verträgt sich nur nicht mit menschen, die keine ironie vertragen.
Doc Sarah Schons - 17. Jun, 18:38

Heureka

folgte ihr unauffällig und sah ihren bevorzugten Aufenthaltsort: die Relativitätstheorie.
Im e=mc Quadrat macht sie Quantensprünge und wirkt recht ausgelassen. Nachgerade heiter und unbeschwert. Sogar mit der Hoffnung hab ich sie Tanzen gesehen... und allerlei Phantasmagorien...

testsiegerin - 17. Jun, 20:15

puh. so kompliziert ist die wahrheit, dass sie sich mit der relativitätstheorie herumtreibt?
Doc Sarah Schons - 17. Jun, 20:22

Nu - vielleicht ist sie ja einfach nur lustbetont - so nackich wie sie immer rumsaust..
la-mamma - 17. Jun, 23:26

hab dir so lang "geantwortet"

dass es ein eigener beitrag geworden ist
http://lamamma.twoday.net/stories/3885687

sokrates2005 - 18. Jun, 16:12

Wie uns ...

Herr Khol schon vor einiger Zeit mitteilte, ist die Wahrheit ein Kind ihrer Zeit und also immer jung.

In den ORF-Foren kann man, im Kontext der Berichterstattung über ausländische Straftäter, von Rechtsaußen gerne den triumphierenden Satz lesen: "Ja, ja, die Wahrheit tut weh!" (meist mit mehreren Rufzeichen) und das soll den "Gutmenschen" mitteilen, in "Wahrheit" sind alle Ausländer G'fraster usw. usf.
An diesem Beispiel sieht man, dass die Wahrheit auch nur ein Wegwerfutensil ist, dass sich jeder zueigen machen kann, dem danach ist ...

DrYes - 21. Jun, 01:11

Keine falsche Scham!

Da auch meine Antwort eher länglich geworden ist, bin ich La-Mammas Beispiel gefolgt und habe sie im eigenen Blog gepostet:
http://dryes.twoday.net/stories/3933608

Ich hebe sie gern hierhin rüber, wenn es für Barbara okay ist.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
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