Das Kind, das ich einmal war

Vorwort: Seit kurzem führe ich ein Forschertagebuch. Das heißt, ich nehme mir jeden Tag - noch im Bett - 15 Minuten Zeit und schreibe. Wichtig dabei ist, dass die Schreibhand (in meinem Fall die Schreibhände) ständig in Bewegung bleibt und man unzensiert alles aufschreibt, was einem durch den Kopf geht.
Das soll den Bilck fokussieren, Schreibhemmungen (o.k., ich hab keine, aber es könnte ja werden) abbauen und Zugang zum mittleren Unbewussten schaffen.
Wie auch immer, ich finde zumindest Teile dieser Texte zu schade, um sie in meinem Forschertagebuch zu verstecken, vielleicht ist es auch nur mein Exhibitionismus, der mich dazu treibt, manche davon trotzdem zu veröffentlichen.


Das Kind, das ich einmal war

Lieb, sagt man, war ich, und das klingt beinahe wie nett. Ich mag kein liebes Kind gewesen sein. Ein wildes, abenteuerlustiges, schlimmes, schwieriges Kind mag ich gewesen sein. Aber wen auch immer ich frage, ich war einfach ein liebes, unkompliziertes Kind. Eins, das schon mit zwei Jahren in den Kindergarten gegangen ist, und zwar gerne, eines, das sich nicht vor dem Nikolaus gefürchtet hat, eines, das brav gelernt hat, viele Sternchen und römische Einser im Schulheft gehabt und der Lehrerin die Tasche nach Hause getragen hat. Ich war ein Kind, das keine Probleme gemacht hat. Eins, das auch bei ihrem dreimonatigen Krankenhausaufenthalt alle ins Herz geschlossen haben.

Dabei wäre ich so gerne ein wildes, zorniges, zügelloses, waghalsiges Kind gewesen. Ich möchte ein aufregendes Kind gewesen sein, eins, wo alle die Köpfe geschüttelt und gestöhnt hätten: „Ein schwieriges Kind“, und sie hätten die Schultern gezuckt und gesagt „na ja, wir lieben sie trotzdem.“ Ich wäre so gerne trotzdem geliebt worden, nicht einfach so, weil ich war. Weil ich einfach war. Gut, ein bisschen faul und schlampig war ich immer, aber unkompliziert.

Ich hatte keine Wutanfälle als kleines Mädchen, ich zog brav alles an, was Mama mir hergerichtet hat, sogar die gestrickten roten Hotpants, im Partnerlook mit meiner Schwester; ich hab brav Bitte und Danke gesagt und bei meiner Oma im Bett geschlafen, obwohl sie unter dem überdimensionalen Marienbild nicht gut gerochen und ständig mit dem strafenden Gott gedroht hat. Ich hab brav die Hände gefaltet und inbrünstig gebetet und dem Jesuskind nicht ins Gesicht gespuckt.
Dabei hätte ich so gerne aufbegehrt. Nicht damals, damals war ich zufrieden, ja, ich hatte eine scheißglückliche Kindheit, heidelbeerpflückend im Wald, aber rückblickend wäre ich gern anders gewesen.

Ich beneide sie immer noch, die Menschen, die eine schwierige, spannende, ungestüme und wilde Kindheit hatten. Die keine Nacht durchgeschlafen und um vier Uhr früh Wutanfälle gehabt haben, weil man ihnen den falschen Schnuller in den Mund gesteckt hat. Die, die mit dem Kopf ein Loch in die Wand bohren wollten und mit Gummistiefeln im frischbezogenen Bett gehüpft sind. Die in Betragen einen Dreier hatten und einen Termin mit der Schulpsychologin und die den Blattspinat aufs weiße Tischtuch gespuckt haben.
Das Problem war, dass mir der Spinat und die eingebrannten Erdäpfel und alles andere, was man mir vorgesetzt hat, immer geschmeckt hat. Wozu es also ausspucken?

Ich beneide meine Tochter um ihre wilde, gar nicht brave Kindheit.
Sie leidet darunter, dass ihr immer gesagt wird, wie erstaunlich es ist, dass aus ihr so eine liebe, nette, junge Frau geworden ist, obwohl sie so ein schwieriges und anstrengendes Kind war. Dass aus ihr etwas geworden ist. Als müsse man erst etwas werden im Leben, als reichte das Sein nicht aus.

Sie ist wunderbar, witzig und liebenswert, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen, lernt für Prüfungen, begleitet mich bei Waldspaziergängen und ritzt sich nicht.

Ich liebe sie trotzdem.
la-mamma - 2. Jul, 15:15

toll, was bei ihnen rauskommt, wenn sie "unzensiert" schreiben;-)

nein im ernst: mir gefällt der text total gut. auch wenn jahrelanges ernsthaftes schreiben schon einen ordentlichen inneren zensor geschaffen zu haben scheint. oder sie einfach dinge prinzipiell recht systematisch denken? (das glaub ich aber wiederum irgendwie nicht soooo ganz ...)

testsiegerin - 2. Jul, 15:25

also ich hab zwar unzensuriert geschrieben, dann aber doch noch ein klein wenig geglättet. aber sehr viel unterschied ist zwischen den beiden texten nicht.
es ist wohl der innere zensor, der beim schreiben selbst ständig anwesend ist. aber nicht immer, es gibt genug forschertagebuchstexte, die ich niemals hier veröffentlichen würde, weil der zensor da auf urlaub war.
la-mamma - 2. Jul, 15:52

;-)
sie wären mir sonst nämlich unheimlich, wenn alles gleich so "rund" rauskommen würd ...
iGing - 3. Jul, 13:25

"Ich wäre so gerne trotzdem geliebt worden, nicht einfach so, weil ich war."
"... und ritzt sich nicht. Ich liebe sie trotzdem."


Das ist ein merkwürdiges Phänomen, dass man glaubt, um Liebe zu be-/erweisen, müssten eigentlich extrem schwierige Bedingungen gegeben sein. Als könnte Liebe sich nur gegen Widrigkeiten entfalten und darstellen.
Dass aber aufgrund vorhandener und gelebter Liebe das, was ist, sich in seiner Schönheit zeigt, ist eine Sicht, die viel grundlegender ist und ohne Mangelphänomen auskommt. Und sie ermöglicht es, das Schöne wirklich zu genießen.
Das darf man sich auf keinen Fall verleiden lassen!

testsiegerin - 3. Jul, 18:56

keine angst, ich lass mir das schöne eh nicht verleiden. meine gedanken schwurbeln nur manchmal so komisch herum ;-)
katiza - 3. Jul, 13:27

Danke für die Anregungen, bezaubernde B.; für das ForscherInnentagebuch und die Kindheitsgedanken . und danke fürs teilen.

Ich war das auch, ein braves Kind, ein begabtes...Ich habe alles gegessen (auch Steine, das kam weniger gut an), am Liebsten Schnecken Ich war also auch ein kapriziöses Kind, wurde mir oft gesagt und dass ich wild bin und schwierig - aber ich war das nicht.

Ein zwei Mal vielleicht und dann oft auch aus Angst. Ich war kein ängstliches Kind, ich kletterte auf Bäume, rangelte mit den Buben und mich konnte man schon bald allein zu Hause lassen.  Ich fürchtete mich nicht vor Gespenstern, Spinnen oder der Dunkelheit. Und doch erinnere ich mich an Angst, vor dem Krieg, der Wut, dem Scheitern, ein schlimmes Kind zu sein.

Ich bin ein glückliches Kind und eine Frau in ihren (besten) mittleren Jahren. Ich hab die kleine Turtle in meinen Gedanken schon mehr als einmal auf dem Schoß gehabt und ihr ezählt, dass alles gut ausgegangen ist, dass sie keine Angst haben muss, dass alles gut wird und ihr ein schönes Leben bevor steht, dass Scheitern erlaubt ist und Wut auch. Nur der Krieg nicht. Aber sich vor dem zu fürchten bringt auch nichts: "Ich hab zwei tolle, wilde Spielkameradinnen gefunden, liebe Turtle, einen 1. Offizier und viel wundervolle Menschen und man kann Piratenkönigin werden, wenn man wirklich will, auch wenn sie anderes behaupten...."




testsiegerin - 3. Jul, 19:00

natürlich kann man piratenkönigin werden, wenn man will. wer behauptet etwas anderes?
und das mit dem kleinen kind in uns auf dem schoß, das ist ein schönes bild. ich denke auch, dass wir mit uns, grad, wenn es uns mal nicht so gut geht, umgehen sollten wie eine liebende mutter mit ihrem traurigen kind. uns nicht mit dem unglück identifizieren, aber das kind wiegend in den armen halten und trösten und sagen, dass alles wieder gut wird.

und mit toll3sten weibern an der seite und ersten und zweiten und dritten offizieren ist sowieso alles gut ;-)
rosmarin - 3. Jul, 14:54

hach.... wie schön, wieder lesestoff von dir zu bekommen :-) .... habe ihn sehr genossen und beschmunzelt!
Ich versteh dich gut.... denn ich war auch so ein echt liebes kind mit einfacher und glücklicher kindheit. gar nicht so leicht das :-)

testsiegerin - 3. Jul, 19:00

aber uns könnte ein trost sein, dass es nie zu spät ist, eine unglückliche kindheit gehabt zu haben ;-)

merci, madame rosmarin! ich vermisse sie!
rosmarin (Gast) - 4. Jul, 11:24

ich vermisse sie auch :-)

hier im blögchen (aber da tut sich ja langsam bei uns beiden wieder was) und in livegesprächenmitlachsalven (und da muss ich im herbst was ändern)
lg ro
Anna (Gast) - 3. Jul, 17:36

Ich glaube nicht, dass es erstrebenswert ist, ein anstrengendes Kind gewesen zu sein. Anstrengende Kinder werden nämlich kaum jemals geliebt. (Und sind wahrscheinlich deshalb so anstrengend.)

testsiegerin - 3. Jul, 19:03

das glaub ich nicht. also weder, dass anstrengende kinder nicht geliebt werden, noch dass sie deshalb anstrengend sind. das würde ja doch wieder zu der annahme führen, dass die mutter schuld daran ist, ob ein kind anstregend ist oder nicht. mütter fühlen sich sowieso immer schuldig.
ich glaub, kinder kommen eben auch mit einer sehr unterschiedlichen lebensenergie zur welt. mit unterschiedlichen genen sowieso. manche sind hübsch und manche nicht so, manche freundlich und manche grantig, manche groß, manche klein, manche anstrengend und manche nett.
und das ist gut so, denn wie langweilig wäre eine welt, in der alles pflegeleicht ist.
Anna (Gast) - 5. Jul, 10:56

Ich glaube, wir haben verschiedene Auffassungen über ein anstrengendes Kind.
Für mich sind anstrengende Kinder solche, die den Unterricht stören und dauernd versuchen oder auf andere Weise dauernd versuchen, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen.
Daneben gibt es Kinder, die dauernd von Erwachsenen beschäftigt sein wollen. Die sind zwar auch anstrengend, dafür aber meistens sozial gut entwickelt.
Anna (Gast) - 5. Jul, 10:57

Man sollte Posts unbedingt noch einmal durchlesen, bevor man sie abschickt. ;-)
testsiegerin - 5. Jul, 11:06

Manche Kinder stören aber zum Beispiel in der Schule, weil sie sich langweilen und unterfordert sind, und andere sind überfordert, und unser Schulsystem kümmert sich nur um die "normalen". Und auch Kinder mit Beeinträchtigungen sind eben anstrengender als andere, und auch sozial oft nicht so entwickelt wie gesunde, werden aber um nichts weniger geliebt.

Und natürlich erlebt jeder etwas anderes als "anstrengend". Ich find auch Leute anstrengend, mit denen so mancher kein Problem hat. Und liebe die, die als mühsam gelten. Vielleicht liegt das auch an meinem Beruf. Oder ich hab meinen Beruf deshalb so gewählt.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36
loving it :-)
loving it :-)
viennacat - 2. Jan, 00:51
Keine weiße Weste
Weihnachtsgeschichte in 3 Akten 1. „Iss noch was,...
testsiegerin - 16. Dez, 20:31
ignorier das und scroll...
ignorier das und scroll weiter nach unten.
testsiegerin - 27. Okt, 16:22

Web Counter-Modul


Briefverkehr mit einem Beamten
Erlebtes
Femmes frontales
Forschertagebuch
Gedanken
Gedichte
Geschichten
Glosse
In dreißig Tagen um die Welt
Kurzprosa
Lesungen
Menschen
Sex and the Country
Toll3ste Weiber
Vita
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren

kostenloser Counter