Messie-Hirn

„Puh“, was für eine Messie-Wohnung“, sagt die Sozialarbeiterin der Bezirksverwaltungsbehörde und hält sich die Nase zu, als sie mein Gehirn betreten hat.

Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Tag- und Nachtträume liegen hier herum. „Völlig ungeordnet“, wie die Sozialarbeiterin sagt, was aber so nicht stimmt. Natürlich ist da eine Ordnung drin, diese Dulcinea kann sie nur nicht erkennen. In ihrem Hirn überwiegen wahrscheinlich Checklisten und Formulare. Sie setzt einen professionell empathischen, aber unehrlichen Blick auf. „Sie müssen verstehen, dass wir das nicht mehr mitansehen können“, sagt sie, verrät mir aber nicht, wer „wir“ ist. „Hier besteht akute Seuchengefahr. Aufgrund des sanitären Übelstandes muss ich leider den Amtsarzt und die Baubehörde verständigen. Es kann Ihren Mitmenschen nicht länger zugemutet werden, von diesem Gehirnmüll umgeben zu sein. Sie brauchen Hilfe, Frau Lehner.“

Zu meinen Gefühlen und Ambivalenzen gesellt sich die Angst, dass man mir wegnehmen will, was ich seit Jahrzehnten sammle und aufbewahre. Was mir wichtig und wertvoll ist. Was mein Leben ausmacht. „Ich kann das selbst“, beeile ich mich zu sagen, „ich bin heute nur noch nicht zum Aufräumen gekommen.“
„Sie sind seit Jahrzehnten nicht zum Aufräumen gekommen.“ Was für eine elende Besserwisserin! „Ich schlage vor“, schlägt sie vor, „wir mieten ein nettes Zimmer in einem leeren Kopfmotel und sie nehmen die wichtigsten Gedanken und ein paar Erinnerungsstücke mit, während wir uns darum kümmern, dass hier saubergemacht wird. In ein paar Wochen können Sie dann wieder zurückkommen und betreten ein schönes und aufgeräumtes Gehirn.“ Sie strahlt vor fremdem Glück und ich will mir ihr steriles Hirn voller Aktenschränken, in denen die abgestaubten Gedanken und Gefühle - auf denen sich trotzdem der Amtsschimmel abgelagert hat - als Akten kategorisiert und abgelegt sind, säuberlich beschriftet und nach Jahren und Alphabet sortiert, gar nicht vorstellen.
„Ich geh hier erst weg“, sage ich, „wenn ich nicht mehr gehen kann, sondern man mich mit einer Bahre hinaustragen muss.“ Ich lasse mich doch nicht aus meinem eigenen Leben schmeißen.

Sie organisiert gegen meinen Willen und angeblich zu meinem Wohl einen Putztrupp, der in meinem Hirn sauber machen soll. Gemeinsam mit zwei Kerlen von der Adventmission haben sie meinen Kopf aufgebrochen, weil ich - so behaupten sie - trotz Klopfens und Läutens nicht freiwillig aufgesperrt hätte. Dabei habe ich das Klingeln einfach nicht gehört, wegen der Stimmen. Das hab ich nicht gesagt, aus Angst, dass sie mich sonst in die Psychiatrie einweisen und mit Neuroleptika vollpumpen.

„Nicht die dreckigen Gedanken wegnehmen“, schreie ich, als sich der Mitarbeiter der Adventmission an meiner Pornosammlung zu schaffen macht, und klopfe ihm auf den Finger. Er blättert ein Heft durch, schüttelt verständnislos den Kopf und murmelt: „Und das in diesem Alter.“
„Die halten mich ja lebendig und jung!“ Ich reiße ihm meine Fantasien aus der Hand und setze mich schützend auf sie.

„Sie werden sehen“, sagt die mitfühlende Sozialarbeiterin mit Latexhandschuhen und sanfter Stimme, „wenn hier erst einmal gründlich ausgemistet ist, werden sie sich in ihrem Hirn wieder viel wohler fühlen.“
„Danke“, sage ich zynisch, „dass sie mir sagen, wann ich mich wohl fühle. Sie haben das bestimmt gelernt, als diplomierte Sozialarbeiterin.“

Sie hat Angst, sich trotz der Handschuhe schmutzig zu machen, greift mit den Fingerspitzen nach den Alben mit meinen Erinnerungen und schüttelt den Staub von ihnen. Ein paar davon fallen heraus. Ich bin nie dazugekommen, sie zu sortieren und einzukleben. „Das mach ich, wenn ich erst mal in Pension bin“, rechtfertige ich mich, als ich ihren vorwurfsvollen Blick sehe.

Die Erinnerung an Brian, einen englischen Freund – jetzt nenne ich ihn lieber Bekannten - ist unter denen, die aus dem Album gefallen sind. Ich war mit meiner Tochter und ihrer Freundin bei ihm und seiner Frau Denise zu Gast. Er hat mit den Mädels im Garten gespielt , mit mir lange Spaziergänge gemacht und mir von seinen Eheproblemen erzählt, mit uns gegrillt, war witzig und liebenswert. „Alles wird gut“, hat er gesagt, als er sich von uns verabschiedet hat, im Bademantel.
Nichts ist gut geworden. Drei Tage später hat er seine Frau erwürgt, weil sie sich scheiden lassen wollte. Er hat ihre Leiche in den Kofferraum ihres Cabrios gepackt und ist mit ihr nach Frankreich gefahren. „Denise war gern in Frankreich“, erzähle ich der Sozialarbeiterin, die das Bild in einen braunen Sack wirft.

„Da sehen Sie, wohin dieser Saustall führt“, sagt sie, „Sie beginnen schon Traum und Wirklichkeit zu verwechseln.“ Als sie kurz in der Küche ist, bei den Gerüchen und Gerüchten, wühle ich im Müllsack und hole diese Erinnerung wieder heraus. Bei Gelegenheit erzähle ich euch die Geschichte. Aber jetzt muss ich aufpassen, dass sie mir nicht alles wegnehmen.

„Ich schlage vor“, schlägt sie schon wieder etwas vor und ich zucke zusammen, weil ich mich von ihren Vorschlägen erschlagen fühle, „ich schlage vor, Sie stapeln den Kram in Ihrem Gehirn auf drei Häufchen... nun ja, Haufen. Auf dem einen das Zeug, das auf den Müll kann, auf den zweiten das Zeug, bei dem Sie noch nicht wissen, wohin damit, und auf den dritten den Kram, den Sie unbedingt behalten wollen.“
Die Arme, denke ich. Die hat zu viele schlechte Reality-TV-Sendungen gesehen, die mit Realität ungefähr so viel zu tun haben wie Lionel Messi mit einem Messie. Soll sie doch die Scheiße in ihrem eigenen Gehirn auf Häufchen stapeln. Trotzig verschränke ich die Arme vor dem Körper und setze mich in eine Ecke.

Der zweite Mann aus dem Putztrupp findet in verschlungenen Hirnwindungen unnützes Wissen und einen Stapel Wörter und Sätze, die er nicht lesen kann. Russisch, Chinesisch, Griechisch, Niederländisch. „Das brauchen Sie bestimmt nicht mehr.“
„Jetzt nicht, aber ich könnte es brauchen. Für den Fall, dass die Chinesen einmarschieren. Oder die Russen. Oder die Holländer.“
„Verdacht auf Paranoide Persönlichkeitsstörung“, kritzelt die Sozialarbeiterin in ihren Kalender und glaubt, ich sehe das nicht.

Ich bin erschöpft. Der Eingriff in meine Intimsphäre macht mich nicht nur wütend und ohnmächtig, sondern auch müde. Irgendwann schlafe ich über meinen Emotionen und Affekten, meinen Aufregungen und meiner Angst ein.

Ich werde wach, als die Sozialarbeiterin sich bei den Männern der Adventmission verabschiedet und sie hinausbegleitet.
Ich ergreife die Chance und mein Stanley-Messer und schlitze einen nach dem anderen Sack auf. Alles, was sie hineingestopft haben, alle Ideen, Gedanken, Visionen, Fantasien, purzeln heraus. Ich leere die Säcke aus. Ich werde wochenlang damit beschäftigt sein, alles wieder an seinen Platz zu stellen.

„Wir meinen es ja nur gut mit Ihnen“, sagt die Sozialarbeiterin, die sich zu mir auf den Boden gesetzt hat und zu ihrem Handy greift. „Sie brauchen Hilfe, Frau Lehner. Professionelle Hilfe. Ich rufe jetzt die Rettung an, ja?“

Ich schaue auf die aufblitzende Klinge des Stanley-Messers in meiner Hand.
steppenhund - 16. Mär, 10:17

Oh ja! Das ist eine gute Geschichte. Die hat alles inklusive Selbstironie.
Absolut nachvollziehbar.
-
Kommt mir gerade zurecht, weil ich mich mit dem Problem des Aufräumens nicht der Gedanken einer Person sondern von sehr vielen Personen beschäftige. Wie lässt sich das bewerkstelligen, ohne dass die Menschen merken, dass sie manipuliert werden?
Es gibt da schon viele Ansätze, gescheite Bücher und gute Romane. Letztlich ist immer irgendwo ein Haken dabei. Der Haken stört mich nicht, allerdings muss ich eine Methode finden, die noch nicht wo anders vorkommt. Es wird nicht eine Sozialarbeiterin sein, aber jetzt habe ich wieder ganz neue Ideen.

Danke!

Und auch ohne meine egoistische Bezugnahme möchte ich feststellen, dass ich es sehr schätze, wie dieses Problem dargestellt wird.

testsiegerin - 16. Mär, 12:09

Warum willst du die Gedanken von anderen Menschen aufräumen? Zu ihrem Wohl? ;-)

Danke auf jeden Fall für das Lob. Ich bin immer ganz glücklich, wenn Geschichten so flutschen und aus mir sprudeln.
steppenhund - 16. Mär, 12:12

Ich habe ja schon Jossele geantwortet: er wird meine Lösung nicht mögen:)
la-mamma - 16. Mär, 11:00

ich würd sagen, das chaos im eigenen hirn gehört eher unter den überbegriff weltkulturerbe und nicht in die psychiatrie-schiene oder?;-)

testsiegerin - 16. Mär, 12:11

Sie glauben tatsächlich, dass meine oder Ihre oder andere Gedanken aufgrund ihrer Einzigartigkeit, Authentizität und Integrität weltbedeutend sind?
steppenhund - 16. Mär, 15:59

Kosmosbedeutend!
Nix is einzigartig, dazu gibt es zu viele Menschen auf der Welt, dass nicht irgendetwas schon gedacht wurde.
Authentizität tät ich dir schon zuschreiben. Und nachdem die nicht gar so inflationär vorhanden ist, kann man sie als wertvoll erachten.
Über die Integrität kann ich mich nicht äußern.
-
Man muss bei solchen Dingen den Standpunkt betrachtet. Für jemanden anderen, der nicht in der Lage ist, so eine Geschichte zu schreiben, kann es ein Weltwunder sein, dass jemand "genau das" ausdrückt. Und richtiger Mainstream ist es ja nicht. Der würde das Augenzwinkern nicht zulassen.

Und in die Psychiatrie gehören nur die mit dem Aufräum-Tick! :)
testsiegerin - 16. Mär, 16:31

das war eigentlich nicht ernst gemeint, meine frage. ich habe nur die kriterien für ein weltkulturerbe abgeschrieben ;-)

aber danke.
Jossele - 16. Mär, 11:29

Eine wunderbare Geschichte mit einem süffisanten Ende.
Gratulation im Namen der Messisektion Wien West.

testsiegerin - 16. Mär, 12:12

Danke. Grüße aus dem Nordosten zurück.
HARFIM - 16. Mär, 16:06

Schöne Geschichte,

Brian hat ein gutes Herz, wenn er seine Denise dorthin brachte, wo sie sich immer wohl fühlte:-)

Na ja, so ein aufgeräumtes Gehirn gähnt ja langweilig leer und ist irgendwie gruslig...

testsiegerin - 17. Mär, 12:26

Der Brian war ja sowieso ein ganz ein lieber. Umso erschreckender. Wie gesagt, bei Gelegenheit erzähl ich die Geschichte mal. Bis jetzt konnte ich nicht, weil er nötige Abstand gefehlt hat. Aber jetzt ist es einige Jährchen her.
rosmarin - 17. Mär, 12:31

im knast ist es sicher besser als in der psychiatrie und keiner will ihre hirnzelle aufräumen :-)

(schöner text, ich hab sooooo schmunzeln müssen)

testsiegerin - 18. Mär, 09:09

Danke. Sie meinen, es gibt nur die Wahl zwischen Psychiatrie und Knast?
Das mit der Hirnzelle ist schön, danke!
rosmarin - 22. Mär, 12:19

ja ja.... das ein oder andere stanley-messer hat schon den ein oder anderen in den knast gebracht :-)
..... und ich meinte natürlich das hirn, also ihr weltkulturerbe in der knastzelle :-)
katiza - 18. Mär, 16:58

So in etwa, bezaubernde B?

testsiegerin - 22. Mär, 20:25

au ja, genau so!
Lo - 19. Mär, 00:27

Eine wundervolle Idee. Ein toller Text, liebe Barbara.
In meinem Hirn sieht es auch so unaufgeräumt aus.
Ein schönes Gefühl, nicht allein mit so etwas zu sein.
Wir könnten ja eine Betroffenengruppe gründen. ☆

testsiegerin - 19. Mär, 08:56

Hallo, ich bin die Barbara und ich habe ein Messie-Hirn ;-)
Lo - 19. Mär, 14:21

Ich bin der Lo und hab meins irgendwie verlegt. Gestern hatte ich es aber noch. Glaube ich.
finzorro - 20. Mär, 23:03

chaos ruleeeezzzzzzz! vor allem im hirn!

testsiegerin - 22. Mär, 20:26

ich merk ja, dass das chaos im hirn manchmal durchaus übergreift auf das chaos im leben. und umgekehrt.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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