Dienstag, 1. Juni 2010

Für Jossele - Der Würger

(dürfen aber natürlich auch die noch mal lesen, die die Geschichte schon kennen)




„Jetzt ist er weggeflogen.”
Enttäuscht blickte Hubert dem Greifvogel hinterher und drückte die Kappe auf das Objektiv, während die Frau keuchend die kleine Plattform erreichte. Sie erkannte den Vorwurf in seinem Blick und sah ihn fragend an.
„Schwarzmilan.” Hubert war Werbetexter und sonst gar nicht wortkarg. Sonst war er auch nicht so leicht zu frustrieren.
„Isabell Würger. Tut mir leid, Herr Schwarz. Ich wusste ja nicht...”
„Ein Isabellwürger? Wo?“ Sofort steckte er die Kappe wieder in die Tasche und presste das Fernglas an seine Augen. „Im Juni 2002 hab ich einen gesehen, im Mühlviertel. Die sind sehr selten.“
Du bist auch ein seltener Vogel, dachte Isabell. Sie entschied sich für F69. Nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung.
„Was immer Sie da jetzt suchen. Ich heiße so. Würger. Sie dürfen mich gern Isabell nennen.“
„Hubert.“ Er schüttelte ihre Hand. „Hubert Weiss.“
So, so. Aus Milan Schwarz wird mal eben Hubert Weiss. Isabell lugte vorsichtig nach hinten. Den Fluchtweg sichern. „Angenehm“, log sie.
„Poltern sie immer so laut einen Aussichtsturm hoch?“ Hubert war es offensichtlich auch nicht angenehm.
„Ich trainiere.“
„Für die Staatsmeisterschaft im Vögel-Vertreiben?“
Isabell stöhnte und wünschte sich weit weg. Nach Dubai, am liebsten. Dort könnte sie sich wesentlich effizienter auf den Treppenlauf vorbereiten als im Waldviertel. Die Hochhäuser hier waren dünn gesät.
„Für Niesen.“
„Ich verstehe. Sie rennen hier leicht bekleidet herum, holen sich eine Erkältung und werden das Niesen souverän gewinnen. Nehmen Sie auch am Husten teil?“
„Der Niesen. Das ist ein Berg in der Schweiz. Da gibt’s die längste Treppe der Welt. Aber Sie haben recht, ich hole mir noch eine Lungenentzündung hier oben. J18.0 übrigens.“
Hubert lächelte verständnisvoll. „Darf ich Ihnen eine Decke anbieten?“
„Ja, gern.“ Der war offensichtlich doch harmlos. „Sie fotografieren Vögel?“
„Nein, ich beobachte sie nur. Früher war ich Hobbyornithologe. Heute nennen sie uns Birder. Das Tier, das sie mir verscheucht haben, war ein Schwarzmilan. Hier ausgesprochen selten. Noch seltener ist allerdings der Isabellwürger.“
Sie schaute erstaunt. „So einen Vogel gibt es wirklich?“
„Der Würger ist kein Mörder, erfreut das Herz vom Birder. Entschuldigen Sie“, er grinste verlegen. „Und Sie? Warum trainieren Sie ausgerechnet hier für Ihren Treppenlauf? War Ihnen New York zu langweilig?“
„Ich habe beim Pokern verloren.“
„Klar.“ Die Frau war nicht ganz dicht.
„Ich verreise immer gemeinsam mit meiner Freundin“, erklärte sie. „Ich wollte nach Dubai. Aber sie hat gewonnen. Sie gewinnt immer.“
„Vermutlich schummelt sie.“
Isabell lachte. „Ja, aber nicht immer zu ihrem Nutzen. Sie hat mal ein Rendezvous mit einem Mann gewonnen. Und deshalb ist sie jetzt geschieden und will nicht nach Dubai. Der Kerl war Araber.“

„Pssst.“ Er legte seinen Zeigefinger über die Lippen und beugte sich zu ihr. „Horchen Sie mal.“
Sie hörte nur ihr Herz klopfen.
„Halten Sie Ihr Goldkettchen fest“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Warum?“, hauchte sie zurück. „Kommt der Würger?“
„Nicht der Würger. Der Halsbandschnäpper.“
„Meine Güte, ich komm mir vor wie in einem Edgar Wallace-Film. Sind Sie etwa der Frosch mit der Maske?“
„Sehr witzig.“ Hubert verzog beleidigt das Gesicht.
„Beschäftigen Sie sich beruflich mit Vögeln?“, versuchte Isabell die Situation zu retten und trat ins nächsten Fettnäpfchen.
„Wäre ich ein plumper, etwas einfältiger Kerl würde ich jetzt mit, nein, das ist mein Hobby, antworten. Bin ich aber nicht. Deshalb übergehe ich diese Ihre Frage souverän.“
„Danke.“
„Bitte.“

Sie schwiegen.
Ich sollte ihm die Decke zurückgeben und zum Campingplatz laufen, dachte sie. Dort würde sie gegen ihre Freundin beim Pokern verlieren und zum vierten Mal in dieser Woche das Essen bezahlen.

Ich sollte die Sache mit dem Schwarzmilan für heute vergessen, dachte er. Nach Wien zurückfahren, ein paar dämliche Werbetexte für Schokokekse schreiben und mir einen guten Film anschauen.
Während sie so dachten, standen sie unbeweglich auf der Plattform. Es dämmerte.
„Darf ich mal?“ Sie deutete auf das Fernglas.
Er reichte es ihr.
Zunächst sah sie gar nichts. Wenig später ein bisschen verschwommenen Himmel. Dann viele Bäume, die langsam schärfer wurden. Plötzlich hielt sie inne.
„Was sehen Sie?“, flüsterte er.
„Still!“, zischte sie und er gehorchte.
Die Frau, die sie im Objektiv hatte, trug Rot. Lehnte am Baum und lachte. Erstarrte im nächsten Moment. Hände, die ein Stück Seil umklammerten. Es gegen den Hals der Frau drückten. Isabell wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie schwenkte das Fernglas nach links. Eine schwarze Lederjacke. Blaue Augen, die jetzt direkt zu ihr schauten.
Das Fernglas rutschte ihr aus den schweißnassen Händen und landete im hohen Gras. „Schnell.“ Sie zerrte an seiner Jacke. „Ducken Sie sich. Er hat uns entdeckt!“

„Spinnen Sie?“, herrschte er sie an, so leise, wie er konnte. „Wissen Sie, was das gekostet hat?“
„Ich hab ihn gesehen“, stammelte sie.
„Wen haben Sie gesehen?“
„Den Würger.“
„Oh Gott! Beschreiben Sie ihn!“ Er hatte keine Zeit, sich über ihre Ornithologiekenntnisse zu wundern.
„Er ...“, stotterte sie „..blaue Augen. Eine Glatze.“
Er hatte auch keine Zeit, sich über ihre psychische Verfassung zu wundern. „Das kann nicht sein. Der Kahlkopfwürger lebt nur auf Borneo.“ Fassungslos schüttelte er den Kopf.
„Kein Vogel, Sie Idiot!“, presste sie hervor. „Ein Mörder! Ein richtiger Mörder.“
Isabell klammerte sich an ihn.

Sie ist verrückt, dachte Hubert und löste sich von ihr. Sie ist übergeschnappt. Ich hätte es ahnen können. Wer läuft schon freiwillig Treppen hoch? Noch dazu im Waldviertel.
„So schauen Sie doch selbst!“, flehte sie ihn an.
„Das geht nicht. Sie haben soeben mein Glas über Bord geschmissen.“ Er schlich nach unten, kämpfte sich auf allen Vieren leise durchs hohe Gras, fand sein Fernglas wieder und kletterte wieder auf die Ausichtsplattform.

„Da ist eine Lichtung." Sehen Sie die? Und ein paar Birken.“
Er sah die Lichtung. Er sah die Birken. Aber er sah keine Leiche. Nur ein Eichkätzchen sah er. Er wandte seinen Blick zu Isabell. Ihre Augen waren starr. Hubert war kein ängstlicher Mensch, aber jetzt war auch ihm etwas mulmig zumute.
Sie riss ihm das Fernglas aus der Hand. Fand die Stelle. Kein Rot. Kein Glatzkopf. Keine Tote. Kein Seil.
„Aber ... Aber ich hab’s doch genau gesehen. Vielleicht hat er sie verscharrt.“
„In sieben Minuten? Meinen Sie, er trainiert für die Europameisterschaft im Leichenvergraben?“ Er holte den Flachmann aus seiner Brusttasche und reichte ihn ihr. „Hier. Beruhigen Sie sich erstmal. Und dann gehen Sie dorthin, wo Sie hergekommen sind. Die Decke können Sie behalten.“ Und gleich morgen gehen Sie zum Psychiater, hätte er gerne noch hinzugefügt.

Sie trank. Vielleicht bin ich verrückt, dachte sie. Erkrankung aus dem Schizophrenen Formenkreis, vielleicht hab ich das. Die zugehörige Zahl fiel ihr nicht ein. Isabell tippte bei der Krankenkasse Diagnosen in den Computer, da gingen viele Krankengeschichten durch ihre Hände. Unter anderem solche von Menschen, die tote Kinder im Keller sahen, oder der Nachbarn auf dem Dachboden. Sie halluzinierte. Sah Leichen, wo gar keine waren. Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie eine Karte aus der Psychiatrie schrieb? Ob es dort ausreichend Treppen gab? Mit wem und worum würde ihre Freundin ohne sie pokern?
„Ich kann nicht gehen.“ Trotz Decke bibberte sie. „Er hat mich gesehen. Er wird mich auch töten.“
Er tätschelte ihren Kopf, wie eine Mutter den Kopf ihres Kindes tätschelte, das sie trösten wollte, aber nicht ernst nahm. „Ist schon gut. Ich bringe Sie dann zurück. Aber ein bisschen mag ich gerne noch schauen.“
Sie nickte, kuschelte sich fester in die Decke und trank die Flasche leer. Hin und wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt, was Hubert hilflos machte. Irgendwann schlief sie ein.

„Oh Gott!“ rief er und schüttelte sie."Schauen Sie mal!"
„Was ist da?“ fragte sie benommen, bevor die Erinnerung zurückkehrte. Er drückte ihr das Fernglas in die Hand. "Dort drüben, bei den Eichen. Sehen Sie den roten Fleck?"
Plötzlich war sie hellwach. "Die tote Frau?"
„Ach was, Sie schon wieder mit Ihren Leichen. Viel aufregender. Ein Rotmilan.“

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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