Sonntag, 1. Juli 2012

19 dot 84

Viele Geschichten enden damit, dass alles nur ein Alptraum war.
Der Protagonist erwacht und stellt fest, dass das Leben in Wahrheit total nett ist. Diese Geschichte endet nicht mit einem Alptraum, sie beginnt damit.

Ich habe geträumt, dass Release 19.84 des neuen Klienteninformations- und -dokumentationssystems endlich online und ab sofort auch das Sexualverhalten unserer Klienten einzutragen ist. Diese Neuerung dient der Arbeitserleichterung, schreibt die Geschäftsführung. Einzutragen sind die wöchentliche Anzahl und Dauer des Geschlechtsaktes und die bevorzugte Stellung (zur Auswahl stehen: Oral, anal, Missionarsstellung, Sonstiges).
Sonstiges? Was bitte denn sonst noch, überlege ich verzweifelt, ist so eine Missionarsstellung nicht pervers genug? Ich rufe in der Zentrale an und werde mit einem Mitarbeiter, der sonst nichts zu tun hat, verbunden. „Komm einfach rüber, Barbara“, säuselt er schleimig, „dann besprechen wir das persönlich.“
Ich lege schnell auf und recherchiere lieber im Internet.
In meiner Aufregung trage ich versehentlich bei der 89jährigen Elaria Pozlacek eine der gegoogelten, versauten Praktiken ein. Delete. Ein neues Fenster öffnet sich. Sie sind nicht berechtigt, den Datensatz zu löschen, heißt es. Wenig später erhalte ich einen Anruf aus dem Pflegeheim. Meine Klientin bestünde darauf, den Anweisungen ihrer Sachwalterin Folge zu leisten.

So kann es nicht weitergehen. Es ist ein Alarmsignal, wenn mein Arbeitsalltag nicht mehr ausschließlich meinen Arbeitsalltag, sondern auch meine Träume dominiert.

Ich schüttle den Traum ab, quäle mich aus dem Bett und logge mich in den Tag ein. Es dauert zwei Tassen Kaffee lang, bis er endlich aus dem Ruhezustand hochfährt. Passwort entspricht nicht den Sicherheitsanforderungen, sagt der Tag, als ich Orson Wells eingebe. 0.Orson_We11s funktioniert zum Glück.
Ich rufe im Büro an und melde mich krank.

„Mach langsam“, sagt die Sekretärin, „ich muss das jetzt in den Computer eingeben. Nur krank genügt nicht mehr.“ Ich höre sie tippen. „Also... Grippaler Infekt, Magen-Darm-Grippe, Menstruationsbeschwerden, Übergenuss von Alkohol, Migrä…“
„Sonstiges“, unterbreche ich sie ungeduldig. „Burnout. Ich gehe heute in Burnout. Morgen bin ich wieder da. Vielleicht.“

Raus, ich muss dringend hier raus. Ich ziehe mich an und verlasse das Haus.
Die Verkäuferin beim Bäcker bitte ich um drei Salzstangerl und ihr Geburtsdatum. Seit kurzem bin ich ständig auf der Suche nach neuen Daten und Fakten.
„15. Juli, Krebs, Aszendent Wassermann“ sagt sie und lacht. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich nicht vergessen möchte, ihr zu gratulieren. „Haben Sie ansteckende Krank...“ Ich schlucke den Rest des Satzes hinunter. Eigentlich möchte ich das von der Frau, die mir Lebensmittel verkauft, nicht wirklich wissen. Aber es gibt mir so ein leeres, schlechtes Gefühl, wenn einzelne Felder nicht ausgefüllt sind.
Die Angestellte an der Wursttheke ist noch halbwegs freundlich, als ich sie nach ihrem Religionsbekenntnis frage und danach, ob sie ledig ist. Als ich „seit wann genau ledig?“ wissen will, wird sie ungehalten und gibt mir die Wurst mit den ausgetrockneten Rändern. Beim Anblick der Leberwurst in der Vitrine überlege ich kurz, ob ich nach der Beschaffenheit ihres Stuhls fragen soll. Lieber nicht.

Jahrelang hatte ich Angst, verrückt zu werden. Man liest ja gelegentlich, dass man in jedem Job irgendwann die Eigenschaften seiner Klientel übernimmt. Ich bin weder verrückt noch kognitiv beeinträchtigt. Oder doch? Ich fühle mich wie in den unsichtbaren Krallen von Dr. Mabuse.

„Warum wollen sie wissen, wo mein Zweitschlüssel deponiert ist?“, fragt mich der Mechaniker in der Werkstatt.
„Nur so“, sage ich und erröte. „Wegen der Arbeitserleichterung.“
„Wie bitte?“
„Nichts, nichts. Alles in Ordnung.“

Ruhe, ich brauche Ruhe. Ich gehe nach Hause, lege mich in die Hängematte und denke nach. Aber es drängen sich immer wieder Masken in meine Gedanken. Hässliche Fratzen, die von mir gefüttert werden wollen.
Ich werde meine Freundin anrufen und mich bei ihr ausheulen.
Keine Verbindung. Sie haben den Kontakt nicht ins Umfeld eingetragen. „Doch, das hab ich!", brülle ich mein Handy an. Sie haben vergessen, auf Übernehmen und Speichern zu klicken, antwortet es wie ein Burgschauspieler auf Drogen.

Ich weine. Ich habe keine Facebook-Freunde, weil ich kein Facebook habe. Jetzt hab ich nicht einmal mehr echte Freunde, weil ich vergessen habe, sie ins Soziale Umfeld einzutragen. Vielleicht ist wenigstens mein Psychiater in der Liste. Standardisierter Kontakt. Postleitzahl beginnt mit der Zwei. Klick.
Er ist nicht zu Hause.
Ich hyperventiliere. Atme. Ich muss wieder runterkommen von dem Trip. Ooooooommmm.
Der Fortschritt in der Gesellschaft und in meinem Job ist nicht aufzuhalten. Wir schreiten fort vom Wesentlichen in unserer Arbeit, den Menschen.
Ich muss es mir eingestehen, ich brauche professionelle Hilfe. Weil es keine Schande ist, um Hilfe zu bitten, wenn man Hilfe braucht (das erzähle ich zumindest meinen Klienten immer), wende ich mich an den Helpdesk First Level.
Warum geht in meinem Leben alles schief?, tippe ich und hänge einen Screenshot meines schiefen Lebens an.
„Es liegt nicht am Leben“, sagt die Dame vom Helpdesk liebenswert. „Es liegt an dir. Wenn du alles falsch machst, hilft das beste System nicht. “
Ein paar Stunden später versuche ich es noch einmal. Diesmal mit der Frage nach einem Leben nach dem Tod.
„Da gibt es noch Entwicklungsbedarf“, sagt der Helpdesksecondlevelmitarbeiter, „wenn du mit dem Sterben bitte noch auf Release 20.45 warten würdest?“
„Passt sage ich, „um 20:45 muss ich sowieso Fußball schauen.“

Irgendwann werden Außerirdische den Elektroschrott finden und sich wundern, warum jemand festgehalten hat, dass Elaria Pozlacek am 23. Februar ihre Medikamente nicht genommen, seltsame sexuelle Wünsche an den Tag gelegt und einen Weltempfänger bestellt hat. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, welche Informationen sie einmal über mich finden werden. Unser Jahrhundert wird als Zeitalter der unsinnigen Dokumentation in die Geschichte eingehen.

Ich hake den Tag ab. Schlafe. Koche. Sortiere im Kopf die Lebensmittel in die verschiedenen Listen und trage die Kalorien ein. Zur Arbeitserleichterung. Ich schüttle den Kopf, fassungslos darüber, dass ich dieses Argument schon selber glaube.
Irgendwann schlafe ich vor Erschöpfung und dem Gefühl, überhaupt nichts Sinnvolles gemacht zu haben, ein.
Die Nacht verläuft ruhig und traumlos.

Als ich ins Büro komme, sitzen bereits alle Kollegen an ihren Thin Clients und geben Daten ein. Nichts mit Frühstück. Sie würden sonst mit den Eingaben nicht fertig, sagen sie. Noch immer habe ich die Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum ist. „Aufwachen!“ schreie ich hysterisch, und mein Appell gilt mir und ihnen. „Wir müssen endlich aufwachen!“
Sie reagieren nicht, sondern arbeiten weiter, wie ferngesteuert.

Nein, ich bin nicht verrückt, denke ich. Ich öffne die elektronische Akte von Elaria Pozlacek. Ich bin nicht verrückt. Ich drucke sie aus, lege den dicken Stapel aufs Fensterbrett und öffne das Fenster. Ich bin nicht verrückt, murmle ich. Ich starre in die Weite und warte. Lange warte ich. Sehr lange.

Ich kann es hören, noch bevor ich es erkennen kann. Ein silbrigglänzendes Raumschiff landet auf dem Feld.

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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