Sonntag, 17. März 2013

Die Stille 1/3

Der dicke Glatzkopf hörte auf an seinem Ohr zu kratzen und erhob sich, griff nach seinem schwarzen Köfferchen und verließ das Abteil. Nun waren wir noch zu dritt und die Rothaarige hatte ihre Seite für sich allein. Sie kramte in der Tasche und holte nacheinander ein Buch, einen Laptop, eine Zeitung, eine Mineralwasserflasche, einen Taschenspiegel, ein Glas Marmelade, ein Handy und einen Lippenstift heraus, verteilte alles wahllos auf den Sitzen zu ihrer Rechten, betrachtete es mit prüfendem Blick und dachte offensichtlich nach. Die junge Frau neben mir seufzte zum soundsovielten Male und drückte auf ihrem MP3-Player herum.
Draußen zog die Landschaft an mir vorüber. Obwohl - in Wahrheit zog ich an der Landschaft vorüber, sie blieb, wo sie immer schon gewesen war. Der Mensch nimmt sich so wichtig, dass er glaubt, alles bewegt sich rund um ihn, obwohl nur er selbst es ist, der keine Ruhe findet. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als die Rothaarige sich erst die Lippen bemalte und aufeinanderpresste, das überschüssige Rot in einem Taschentuch abtupfte, einen Schluck aus der Flasche nahm, die Lippen abermals nachzog, den Laptop aufklappte und zur Zeitung griff.
Ich stellte sie mir in dem Kloster vor, aus dem ich gerade kam. Sie hätte die Schweigeexerzitien vermutlich nicht länger als eine halbe Stunde durchgehalten. Schweigen im Kloster bedeutete nämlich nicht nur, nichts zu sprechen, sondern auch das Tun auf das Notwendige zu reduzieren. Ins Innen zu schauen anstatt in den Fernseher, nichts lesen, nichts schreiben.

Das Handy der Rothaarigen tat das, was es schon ein paar Mal getan hatte und offensichtlich immer wieder tun musste. Es läutete und spielte eine blecherne Melodie aus den Charts. Sie kramte in der Handtasche, obwohl das Handy immer noch auf dem Polster neben ihr lag, allerdings versteckt unter der Zeitung. Ich hätte ihr das natürlich sagen können, aber ich wollte nicht in ihre Welt eingreifen und das darin herrschende Chaos zerstören. Vor allem wollte ich nicht, dass sie schon wieder minutenlang telefonierte.
Meine Wünsche wurden erhört und Lady Gaga war mit dem Dudeln fertig, noch bevor die Rothaarige fündig geworden war.
Was hat dich bloß so zynisch werden lassen, Oliver?, fragte ich mich, obwohl ich die Antwort natürlich kannte. Mein Beruf war mir längst keine Berufung mehr, in meiner Ehe hatte Routine die Leidenschaft rechts überholt, ich ging auf die Fünfzig zu, und stellte mir die Frage nach dem Sinn. Im Kloster hatte ich zwar nicht die erhoffte Antwort, aber zumindest Ruhe gefunden.
Eine Woche lang hatten Stille, Leere und Gebete mein Leben bestimmt. Das und die bescheidene und gelassene Zufriedenheit der Mönche hatten mich in einen Kokon gehüllt.
Ich wollte diese Stille noch ein wenig genießen, bevor die Hektik des Alltags und die Erwartungen meiner Frau, meiner Kinder und meiner Kunden mich wieder in den Würgegriff nehmen würden. Ich mahnte mich zu mehr christlicher Toleranz und entschuldigte mich bei meinem hyperaktiven Gegenüber für meine gehässigen Gedanken mit einem freundlichen Lächeln.
Mein freundliches Lächeln wurde ebenso freundlich erwidert. Freundlich und ein bisschen überrascht, so als hätte sie mir ein freundliches Lächeln gar nicht zugetraut. Die einwöchige Askese hatte dazu geführt, dass meine Regungen und meine Mimik sich auf ein Minimum reduziert hatten. Bestimmt würde ich am nächsten Tag Muskelkater vom vorübergehenden Lächeln haben.

„Shit, ey, shit!“ Das Mädchen neben mir war unsanft aus ihren MP3-Träumen erwacht und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ein schriller Pfeifton war zu hören. „Boah, ey,
nee.“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf dem pinkfarbenen Kästchen herum und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Ich schwieg. Die Rothaarige natürlich nicht.
„Aber, aber, aber...“ murmelte sie, während sie ihren Kopf in der Handtasche vergrub und ein Kabel hervorzauberte. „Hier, das müsste eigentlich passen. Und hier“, sie klappte die Armlehne hoch, „ist eine Steckdose. Hab ich auch erst vor kurzem entdeckt.“ Sie trug anscheinend ihren halben Hausrat in der Tasche und ihr ganzes Herz auf der Zunge. Ungefragt, und wohl auch unerhört - denn die junge Dame hatte ihre Ohren wieder zugestöpselt - erklärte sie, dass sie immer wieder mal Handys und Ladekabel in Hotels vergesse und deshalb sicherheitshalber stets Reservehandys und -kabel bei sich hatte.

Ich war genervt. Ich war aber auch fasziniert. Ich hatte das Gefühl, in den letzten beiden Stunden mehr über diese Fremde erfahren zu haben als in den letzten dreißig Jahren über meine Frau. Doch dieses Wissen war nur oberflächlich, so oberflächlich wie ihr Geplapper. Was verbarg sich wohl hinter der Oberfläche? Welche Leere versuchte sie mit Lärm und Geschäftigkeit zu übertönen? Als sie in meine Richtung schaute, legte ich den Zeigefinger an meine Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Sie hielt mitten im Wort inne.

Ich senkte beschämt meinen Blick, der zufällig auf ihre Beine fiel, die in sehr ausgefallenen Strumpfhosen steckten. Die Frau schwieg zwar jetzt, aber ihre Strumpfhose erzählte mehr als genug. Von altrosafarbenen Blüten und Blütenträumen. Große Blüten und vermutlich auch große Träume. Auf die Darstellung der Dornen hatte der Strumpfhosenhersteller sicher bewusst verzichtet. Das Auge fühlt ja bekanntlich mit.
Offensichtlich aß die Rothaarige gern, wirkte aber auch ganz gut trainiert, denn sie hatte kräftige Beine, die die Strumpfhose prall ausfüllten. Kleine bräunliche Krümel und winzige Einrisse am rechten Knöchel ließen mich spekulieren, dass sie vor der Zugfahrt noch einen Waldspaziergang gemacht hatte. Danach hatte sie irgendwo einen Kaffee getrunken und ein Stück Erdbeertorte gegessen. Jedenfalls sprachen die Spuren am linken Oberschenkel dafür.
Die Erdbeeren passten nicht so recht zu dem Lippenstift, den sie sich jetzt auf das stumme „O“ malte. Dann grinste sie mich an und Sekunden später wusste ich warum. Während ich sie beobachtete, hatte ich in einem Anflug von unterbewusster Empathie meine eigenen Lippen ebenfalls zu einen „O“ geformt. Spiegelneuronen, fiel mir ein.
Sie hielt mir lachend den Lippenstift hin. „Möchten Sie auch?“
Hätte mir irgendjemand gesagt, dass meine ersten Worte nach den Schweigeexerzitien ausgerechnet „Danke, aber ich steh mehr auf Pastelltöne“ sein würden, ich hätte fassungslos den Kopf geschüttelt oder hemmungslos losgelacht. Das hemmungslose Lachen übernahm die Rothaarige für mich. „Dabei schauen Sie gar nicht so witzig aus“, stellte sie fest, als sie sich wieder beruhigt und einen bösen Blick der jungen Dame geerntet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Aussage als Kompliment werten sollte. Vielleicht hätte ich besser geschwiegen, denn sie veränderte ihre Körperhaltung und wandte sich mir zu. Die Beine hielt sie nun nicht mehr übereinandergeschlagen, sondern öffnete sie leicht. Oh je, dachte ich. Ah ja, dachte ich aber auch und war ein wenig irritiert. Offenbar interpretierte sie mein Danke-aber-ich-steh-mehr-auf-Pastelltöne als Einladung auf ein Gespräch. Ich wappnete mich innerlich, denn ich rechnete mit eine Fragenattacke nach Alter, Beruf, Urlaubsdestination und Lieblingsspeisen und überlegte, wie ich diese Fragen bestimmt, aber höflich – und witzig, denn ich muss zugeben, dass mich ihre Einschätzung, dass ich gar nicht so witzig aussähe, ein wenig kränkte - parieren könnte. Sie wollte nichts von alldem wissen. Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Fortsetzung folgt

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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