Montag, 18. März 2013

Die Stille 2/3

Sondern schaute mich mit offenem Blick an und fragte: „Was macht Sie so traurig?“

Aha, traurig. Ich war also nicht nur humorlos, sondern auch noch ein unübersehbarer Trauerkloß. Ein öffentliches Ärgernis. Eine Spaßbremse vor dem Herrn. Natürlich hatte ich allen Grund traurig zu sein. Meine Arbeit war anstrengend, unerfreulich und unterbezahlt. Meine Ehe so langweilig, wie man dies nach über zwanzig Ehejahren erwarten konnte. Meine Kinder waren verwöhnt und versnobt. Unser Hund nicht minder. Und mein Fußballverein steckte wie immer unten drin und kämpfte erfolglos gegen den dritten Abstieg in Folge. Das waren Gründe genug, um in Depressionen zu versinken und dem Friseur oder dem Arzt mit meinem Gejammer auf die Nerven zu gehen. Trotz allem war ich nicht traurig.
„Die Erderwärmung. Die Bevölkerungsexplosion. Und das Vorabendprogramm“, bot ich ihr trotzdem zur Auswahl an.
Sie lachte. Aus ihren Augen blitzte Fröhlichkeit und eine Leichtigkeit, um die ich sie beneidete, aus ihrem Mund blitzten zwei Goldplomben. „Gegen die Erderwärmung und die Bevölkerungsexplosion kann ich nichts tun“, sagte sie, „obwohl...“ Sie fing wieder an in ihrer Handtasche herumzukramen und ich wunderte mich, dass da immer noch etwas zum Vorschein kam, obwohl ich das Gefühl hatte, dass der gesamte Inhalt bereits ausgebreitet auf ihrem Nachbarsitz lag. „Hier“, sie drückte mir ein Päckchen in die Hand, „gegen die Bevölkerungsexplosion.“ Ich starrte auf die Kondome. Und weil ich beinahe eine Woche nicht in Übung war, was geistreiche Konversation betraf, fehlten mir die Worte. Zum Glück fiel das nicht weiter auf, da die Stimme des Zugführers aus den Lautsprechern verkündete, dass wir in Kürze den nächsten Bahnhof erreichten und das Mädchen im Abteil aufsprang, ihren Rucksack schnappte und grußlos hinausstürmte.
Die Rothaarige und ich waren jetzt allein im Abteil, und wir hatten – Glück? Pech? Wie auch immer, es stieg niemand zu.
„Wo waren wir stehengeblieben?“ fragte sie. „Ah ja, beim Vorabendprogramm. Vielleicht kann ich ja etwas gegen Ihre Traurigkeit tun?“ Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, schob den Rock ein wenig höher und ließ die Knie auseinanderfallen. „Mögen Sie Rosen?“

Einen Beitrag im Kampf gegen die Erderwärmung leistete sie damit jedenfalls nicht. Mir wurde warm.
„Rosen. Ja. Selbstverständlich. Welcher Mann freut sich nicht über Rosen?“
Sie streichelte eine Rose auf ihrem Knie. „Die sind hübsch, nicht wahr? So rosig. Und so weich.“
Ich nickte. „Und gar nicht stachelig.“
„Eh nicht stachelig. Ich hab sie heute Morgen erst rasiert. Die Beine, nicht die Rosen.“
„Gut so. Rosen sollte man erst im Spätherbst rasieren.“
„Ich bin noch gar nicht im Herbst. Ich bin im Spätsommer, in der Zeit, wenn die Früchte reif sind.“ Sie kramte wieder in ihrer Handtasche. „Wollen Sie eine Zwetschge?“
Ich hielt ihr das Kondom hin. „Gern, tauschen wir. Bevor ich zur Zweigniederlassung Ihrer Handtasche werde.“
„Oh, das ist meine letzte. Dann teilen wir.“ Sie drückte die dunkelblaue Frucht am oberen Ende zusammen, bis sie ein wenig aufplatzte, zog die beiden Hälften auseinander und reichte mir mein Stück. Ihre Finger klebten ein bisschen an meinen, als sie mich berührte.
Dieses Vorabendprogramm fing an mir zu gefallen. War es die kulinarische und körperliche Enthaltsamkeit im Kloster, die jetzt dazu führte, dass eine simple Zwetschge
besser schmeckte als ein Menü im Haubenlokal und die kurze Berührung unserer Finger mir durch Mark und Knochen fuhr? Auch zu Hause hatte sich ein beinahe klösterlicher Umgang zwischen meiner Frau und mir eingeschlichen. Als ich der Rothaarigen in die Augen sah, traf mich ihr Blick, empfangend und warm. All die Oberflächlichkeit, die ich ihr vorhin zugeschrieben hatte, war aus diesem Blick verschwunden und ich erkannte etwas Tiefes, Verletzliches darin. Vielleicht sollte ich meine Vorurteile bei Gelegenheit überdenken. Jetzt hatte ich keine Gelegenheit zum Denken, denn sie leckte mit der Zunge ihre Oberlippe sauber, auf eine liebenswerte, natürliche Art, nicht so, als wollte sie mich provozieren.
Auch an meinen Händen hatte der Saft der Zwetschge seine Spur hinterlassen, genau genommen an meinem Mittelfinger. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn abzuschlecken, was ihr offensichtlich gefiel.
„Schön machen Sie das. Ich könnte Ihnen noch lange beim Schlecken zuschauen“, sagte sie zur Bestätigung, als ich fertig war.
„Wollen Sie auch mal?“ In einem Anflug von Übermut hielt ich ihr meinen sauber gelutschten Finger hin.
„Wo kämen wir denn hin, wenn Männer und Frauen in einem Zugabteil einfach machten, was sie wollten?“
Aber irgendwie machte sie trotzdem, was sie wollte, nur dass sie nicht meinen, sondern ihren eigenen Mittelfinger in den Mund steckte. Ganz langsam ließ sie ihn zwischen ihren frisch bemalten Lippen verschwinden, die wieder ein verführerisches „O“ geformt hatten, bewegte ihn ein bisschen hin und her und zog ihn dann ebenso langsam wieder heraus. Sie betrachtete den verschmierten Lippenstift darauf und glitt mit ihrer Zunge von unten nach oben daran entlang. Dann betrachtete sie ihren ausgestreckten Mittelfinger versonnen.
„So was, jetzt ist er ganz steif geworden“, raunte sie mir mit Augenaufschlag zu.
Sie hatte Recht, das war er. Ich spürte mein Erröten. Wie beiläufig nahm ich ein Buch (Die Entdeckung des Schweigens: Vom Glück der Stille in einer Welt, die den Mund nicht mehr hält) aus meiner Tasche, gab kurz vor, darin zu lesen und legte es so unauffällig wie möglich auf meinen Schoß.
„Entschuldigung“, sagte sie.
„Wofür?“
„Dass ich Ihre Stille und damit Ihr Glück gestört habe.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mein Glück wird durch ganz andere Dinge gestört.“
Am Morgen hatte ich mit dem festen Entschluss das Kloster verlassen, in meinem Leben Ordnung zu machen und mich zu finden. Jetzt wollte ich mich nicht finden, sondern verlieren. In den Armen dieser Rothaarigen, und nicht nur in ihren Armen. Ich wollte ihr Haar riechen, ihren Hals schmecken, ihre weichen Brüste fühlen. Für den Anfang. Später dann wollte ich ihr sanft die Beine auseinanderdrücken und die Innenseiten ihrer Oberschenkel streicheln. Meine Hand auf ihrer Scham ruhen lassen, ohne sie zu bewegen. Nur leicht dagegen drücken und genießen, wie sie langsam feucht wurde und zu beben begann. Irgendwann dann wollte ein Finger mutiger werden und in sie eindringen, nass und glitschig. Dabei wollte ich ihr in die Augen schauen und ihrem Blick standhalten. Vielleicht war es Feigheit, vielleicht Vernunft, auf jeden Fall ließ ich es beim letzten bewenden. Ich schaute ihr in die Augen.
„Glück wird sowieso überbewertet“, unterbrach sie mein Wollen, „zumindest das individuelle.“
Das kollektive Glück und philosophische Diskurse darüber waren mir im Moment ziemlich egal. Ich wollte diese Frau gerne glücklich machen. Und mich.

Fortsetzung folgt

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

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