Abgestempelt
Spätestens, als sie mir gesagt hat, dass sie Bewusstseinsforscherin ist, hätte ich misstrauisch werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich aber noch, jeder und jede kann sein, was er will, Autorin, Bungeejumper, Seifenbläserin, Bankmanager, Urologin... warum also nicht Bewusstseinsforscherin? Und überhaupt. Bin ich etwas anderes als Bewusstseinsforscherin, wo ich seit Wochen Tag für Tag in mein Forscherinnentagebuch schreibe? Vielleicht sollte ich es Bewusstseinsforscherinnentagebuch nennen? Ich forsche in meinem Bewusstsein, noch nicht ganz aufgewacht, nicht mehr ganz im Tiefschlaf. Ich schürfe an der Oberfläche meines mittleren Unbewussten. So schaut’s nämlich aus.
Wie gesagt, ich war nicht sofort auf der Hut, nicht skeptisch, vielleicht, weil ich das prinzipiell nicht bin. Manche nennen das Naivität, ich nenne es Offenheit. Außerdem habe ich mich geschmeichelt gefühlt, als die Frau nach der Lesung zu mir kam und mit mir über einen Text sprechen wollte. Über den Brief an mein großes Kind. Als Autorin hab ich mich geschmeichelt gefühlt und auch als Mutter. Ein Mensch, der so viel Interesse an uns zeigt, kann kein schlechter Mensch sein, oder?
Nach der Diagnose hat sie mich gefragt. Und ich, die ich jahrein, jahraus mit Menschen mit Diagnosen arbeite, merke, dass sie mich zunehmend wütend machen. Die Diagnosen, nicht die Menschen. Sie beschreiben immer Defizite, immer das, was abweicht von der oder fehlt zur sogenannten Normalität. Es gibt nicht die Diagnose „liebenswerter, offener, junger Mann“. Und trotzdem tun wir so, als wären Diagnosen so etwas wie ein Code, der uns hilft, Menschen besser zu verstehen. In Wahrheit hindern sie uns daran, weil sie das Bild in uns festigen und unsere Vorurteile einzementieren. Diagnosen sind nur ein Stempel, den uns irgendwann jemand auf die Stirn gedrückt hat, damit er sich nicht die Mühe machen muss, in unsere Herzen zu schauen. Mit einer Farbe, die sich nicht wegwaschen lässt, ohne die Haut mitabzulösen. Wir können sie nicht wegschrubben, die Stempel, auch wenn sie längst nicht mehr zu uns passen.
Wir brauchen sie, die Diagnosen, weil sie uns helfen, Ordnung zu schaffen. Alles brav einsortieren in die vorhandenen Laden; die Zuckerkranken, die mit Krebs, die Depressiven, die Alkoholiker, die Autisten... Es gibt uns Sicherheit. Ganz unsicher macht es uns, wenn wir jemanden nicht einordnen können, weil er in keine Kategorie passt.
Auf meiner Stirn sind viele Stempel. Stark – den hat mein Vater gleich nach der Geburt ins Stempelkissen und anschließend auf meine Stirn gepresst. Schlampig und faul haben sie später dazugeprägt, Sie-könnte-ja-wenn-sie-nur-wollte, hat die Lehrerin einen freien Platz auf der Stirn gesucht und gefunden, aber auch begabt und witzig.
Nur, damit Sie nicht glauben, ich wäre etwas Besseres, auch ich bin Besitzerin einer ganzen Batterie von Stempeln in allen Formen und Stempelkissen in allen Farben, an denen ich mich fleißig bediene.
Zurück zur Bewusstseinsforscherin. Sie will Details über meinen Sohn wissen; welche Therapien er hinter sich hat und ob er eine Freundin hat und was er beruflich macht und wie er in die Familie eingebunden ist. Ich antworte brav und voll mütterlicher Liebe und Stolz – und dann kommt die Klatsche.
Dass es nur um mich gehe, meint die Bewusstseinsforscherin, und dass ich Probleme hätte damit, das spürt sie an meiner Aura. Sie habe schließlich jahrelang im Wald gelebt und bei den Schamanen, sie wisse mehr als eine Psychologin, sie fühle das an meiner Energie. Meine Freundlichkeit wird bemühter, ich würde sie gerne abschütteln, mich wieder den Leuten an meinem Tisch zuwenden, ich will mir meine Ohren zuhalten und nicht hören, was sie sagt, aber das spürt sie nicht. Sie hat mich fest in ihren Klauen. Und obwohl ich weiß, dass es Mist ist, was sie redet, dass es ausschließlich mit ihr zu tun hat, was sie sagt, und nicht mit mir und schon gar nicht mit meinem Kind, tut es weh. Ich will nicht unhöflich sein, ich eigne mich nicht für Publikumsbeschimpfungen.
„Du schilderst alles nur aus deiner Sicht“, sagt sie, „es geht dir nur um dich! Aber wie sieht denn dein Sohn die Welt?“ Ich maße mir nicht an, zu wissen, wie er sich selbst und die Welt wahrnimmt, aber er vermittelt mir und den anderen hier täglich den Eindruck, dass er im Reinen ist, mit sich und der Welt. Er strahlt von seinem Traktor, erzählt von der Weizenernte und schneidet die Hecken zurück.
Ich kann mich nicht anders von der Bewusstseinsforscherin lösen als mich physisch zu entfernen.
Als ich zurückkomme, ist sie weg. Nicht ohne vorher meine Freundin des Kindesmissbrauchs bezichtigt zu haben, weil auch sie ihren kleinen Sohn missbrauche und einen offenen Brief an ihn vorgelesen hat. Nicht ohne einen Sessel umzustoßen, zu fluchen und uns des Energieraubes zu beschuldigen.
Ich krame in meiner Tasche nach den Stempeln. Zwei finde ich. Der erste ist für mich und meine Freundin. Rabenmutter, steht drauf. Den zweiten kriegt die Bewusstseinsforscherin: Psychisch krank.
Und da war noch Frau H. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine schöne Geschichte.
Wie gesagt, ich war nicht sofort auf der Hut, nicht skeptisch, vielleicht, weil ich das prinzipiell nicht bin. Manche nennen das Naivität, ich nenne es Offenheit. Außerdem habe ich mich geschmeichelt gefühlt, als die Frau nach der Lesung zu mir kam und mit mir über einen Text sprechen wollte. Über den Brief an mein großes Kind. Als Autorin hab ich mich geschmeichelt gefühlt und auch als Mutter. Ein Mensch, der so viel Interesse an uns zeigt, kann kein schlechter Mensch sein, oder?
Nach der Diagnose hat sie mich gefragt. Und ich, die ich jahrein, jahraus mit Menschen mit Diagnosen arbeite, merke, dass sie mich zunehmend wütend machen. Die Diagnosen, nicht die Menschen. Sie beschreiben immer Defizite, immer das, was abweicht von der oder fehlt zur sogenannten Normalität. Es gibt nicht die Diagnose „liebenswerter, offener, junger Mann“. Und trotzdem tun wir so, als wären Diagnosen so etwas wie ein Code, der uns hilft, Menschen besser zu verstehen. In Wahrheit hindern sie uns daran, weil sie das Bild in uns festigen und unsere Vorurteile einzementieren. Diagnosen sind nur ein Stempel, den uns irgendwann jemand auf die Stirn gedrückt hat, damit er sich nicht die Mühe machen muss, in unsere Herzen zu schauen. Mit einer Farbe, die sich nicht wegwaschen lässt, ohne die Haut mitabzulösen. Wir können sie nicht wegschrubben, die Stempel, auch wenn sie längst nicht mehr zu uns passen.
Wir brauchen sie, die Diagnosen, weil sie uns helfen, Ordnung zu schaffen. Alles brav einsortieren in die vorhandenen Laden; die Zuckerkranken, die mit Krebs, die Depressiven, die Alkoholiker, die Autisten... Es gibt uns Sicherheit. Ganz unsicher macht es uns, wenn wir jemanden nicht einordnen können, weil er in keine Kategorie passt.
Auf meiner Stirn sind viele Stempel. Stark – den hat mein Vater gleich nach der Geburt ins Stempelkissen und anschließend auf meine Stirn gepresst. Schlampig und faul haben sie später dazugeprägt, Sie-könnte-ja-wenn-sie-nur-wollte, hat die Lehrerin einen freien Platz auf der Stirn gesucht und gefunden, aber auch begabt und witzig.
Nur, damit Sie nicht glauben, ich wäre etwas Besseres, auch ich bin Besitzerin einer ganzen Batterie von Stempeln in allen Formen und Stempelkissen in allen Farben, an denen ich mich fleißig bediene.
Zurück zur Bewusstseinsforscherin. Sie will Details über meinen Sohn wissen; welche Therapien er hinter sich hat und ob er eine Freundin hat und was er beruflich macht und wie er in die Familie eingebunden ist. Ich antworte brav und voll mütterlicher Liebe und Stolz – und dann kommt die Klatsche.
Dass es nur um mich gehe, meint die Bewusstseinsforscherin, und dass ich Probleme hätte damit, das spürt sie an meiner Aura. Sie habe schließlich jahrelang im Wald gelebt und bei den Schamanen, sie wisse mehr als eine Psychologin, sie fühle das an meiner Energie. Meine Freundlichkeit wird bemühter, ich würde sie gerne abschütteln, mich wieder den Leuten an meinem Tisch zuwenden, ich will mir meine Ohren zuhalten und nicht hören, was sie sagt, aber das spürt sie nicht. Sie hat mich fest in ihren Klauen. Und obwohl ich weiß, dass es Mist ist, was sie redet, dass es ausschließlich mit ihr zu tun hat, was sie sagt, und nicht mit mir und schon gar nicht mit meinem Kind, tut es weh. Ich will nicht unhöflich sein, ich eigne mich nicht für Publikumsbeschimpfungen.
„Du schilderst alles nur aus deiner Sicht“, sagt sie, „es geht dir nur um dich! Aber wie sieht denn dein Sohn die Welt?“ Ich maße mir nicht an, zu wissen, wie er sich selbst und die Welt wahrnimmt, aber er vermittelt mir und den anderen hier täglich den Eindruck, dass er im Reinen ist, mit sich und der Welt. Er strahlt von seinem Traktor, erzählt von der Weizenernte und schneidet die Hecken zurück.
Ich kann mich nicht anders von der Bewusstseinsforscherin lösen als mich physisch zu entfernen.
Als ich zurückkomme, ist sie weg. Nicht ohne vorher meine Freundin des Kindesmissbrauchs bezichtigt zu haben, weil auch sie ihren kleinen Sohn missbrauche und einen offenen Brief an ihn vorgelesen hat. Nicht ohne einen Sessel umzustoßen, zu fluchen und uns des Energieraubes zu beschuldigen.
Ich krame in meiner Tasche nach den Stempeln. Zwei finde ich. Der erste ist für mich und meine Freundin. Rabenmutter, steht drauf. Den zweiten kriegt die Bewusstseinsforscherin: Psychisch krank.
Und da war noch Frau H. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine schöne Geschichte.
testsiegerin - 20. Jul, 12:46