Er erhob sich aus dem Bett, um die Tür aufzusperren.
„Komm halt rein“, sagte er. Tristan ließ sich nicht bitten und kam ohne Umschweife zur Sache.
„Ich hab das alles mal durchgerechnet und ich weiß nicht, wie ich das Geld für die ganzen Versicherungen aufbringen soll.“ Er hielt Sverre das hundertundfünfzig Seiten dicke Konvolut hin.
„Ich bin zwar kein Jurist, aber hast du nicht ein vierzehntägiges Rücktrittsrecht?“, sagte der beim Durchblättern.
„Ich hab vor drei Wochen unterschrieben und dann völlig drauf vergessen. Die Bronzefigur Fuß.Note nimmt gerade meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst heute ist es mir wieder zufällig eingefallen, als der Erlagschein in der Post war.“
Sverre griff unter das Bett und kramte die Flasche hervor. „Auf Harry Hole“, verkündete er, bevor er einen kräftigen Schluck nahm.
„Ich hol uns Gläser.“ Tristan, der um den Preis der Grappa wusste, verschwand in der Küche und brachte die beiden kleinsten Saftgläser, die er finden konnte. Sie tranken dadurch zwar langsamer, aber nicht weniger.
„Wann genau hast du unterschrieben?“, versuchte Sverre mit bereits unsicherer Zunge eine Rückkehr zur Rationalität.
„Steht doch da“, lallte Tristan zurück.
„Du sagtest vor drei Wochen. Wann soll das gewesen sein?“
„Morgen vor drei Wochen genau. Am einundzwanzigsten, dem Geburtstag meiner Mutter.“
„Hier steht aber der einunddreißigste.“
Tristan glotzte auf die letzte Zeile des Formulars, auf dem die Buchstaben und Zahlen vor seinen Augen wie betrunkene Matrosen hin und her torkelten. „Es gibt einen Gott“, flüsterte er und trank den letzten Schluck Grappa direkt aus der Flasche.
„Mein Name ist Hole“, brabbelte Sverre, „Harry Hole.“
Er konnte in diesem Zustand weder Schispringer fassen noch Mörder massieren, geschweige denn konnte er einen geraden Satz formulieren. Da aber durch den klaren Schnaps sein Bewusstsein getrübt war, war er sich dessen nicht bewusst. „Ich bin noch ganz nüchtern“, war er überzeugt, wie die meisten Betrunkenen.
Das Relevanzrisiko in verhaltenen Differenzialbeziehungen mit großen und kleinen Intervallen, kritzelte er in sein Manuskript, ist sehr, sehr kompliziert. Vor allem wegen der zweiseitigen Schwankung und der Maßnahmen. Gezeichnet, DDr. Mag. Sverre Solskjær.
Das war noch nicht einmal gelogen, denn gezeichnet war Sverre in der Tat.
Tristan war so freundlich, sein eigenes Gemach aufzusuchen, bevor er sich von Morpheus Armen gefangen nehmen ließ, denn er schnarchte und redete laut im Schlaf, wenn er betrunken war.
Sverre hingegen wurde in diesem Zustand erst richtig munter, und so begann er sich über den Versicherungsvertrag herzumachen. Er vergaß dabei völlig, dass nicht er selbst, sondern sein Freund der Versicherungsnehmer war. Dass nach neunzehn Uhr in der Agentur ohnehin niemand mehr auf einen Kundenanruf wartete, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Er würde das Problem jetzt aus der Welt schaffen. Also machte er es sich richtig gemütlich im Bett und wählte die Nummer, die oben rechts auf der ersten Seite des Vertrages angegeben war. Die Versicherungspolizzennummer.
„Hallo?“, meldete sich eine Frauenstimme. Das ist ja wie in amerikanischen Spielfilmen, dachte Sverre, da melden sie sich auch nie mit ihrem Namen.
„Rate, wer hier ist“, war die Antwort, die er für angemessen hielt.
Offensichtlich war im Versicherungsbüro gerade Flaute, denn die Frau spielte mit.
„Alexander? ... Boris? ... Christian?“ Aha, sie ging alphabetisch vor. Das würde dauern, aber es störte Sverre nicht weiter, denn sie hatte eine angenehme Stimme. Eine brünett-sportliche Stimme mit langen Beinen.
„Dave? ... Emilio? ... Fredrick?“
Oha, die kam wohl herum in der Welt und kannte eine Menge Männer. Jetzt wird’s gleich spannend, dachte er, als sie bei Quentin und Rufus angekommen war. „Sepp?“
Um Gottes Willen! Sah er etwa wie ein Sepp aus?
„Alles falsch. Hier spricht Sverre. Ich rufe wegen der Versicherung an. Da muss ein Irrtum vorliegen.“
„Hier Eva-Maria. Und ich bin auch ziemlich sicher, dass dort ein Irrtum vorliegt.“
„Legen Sie bitte trotzdem nicht auf, Eva-Maria. Sagen Sie, haben Sie finanziell für Ihre Zukunft vorgesorgt? Wenn ja, was waren Ihre Beweggründe dafür?“
„Wollen Sie mich heiraten oder mir eine Versicherung verkaufen?“
„Muss ich mich sofort entscheiden oder habe ich noch etwas Bedenkzeit?“
Sie lachte. „Ich hab zwar keine Ahnung, wer Sie sind, Sverre, aber immerhin sind Sie bislang das einzig Gute an diesem verfickten Montag.“
Eva-Maria hatte nicht nur eine anregende Stimme, sondern verfügte scheinbar auch über eine ziemlich direkte Ausdrucksweise, die er sonst nur von Männern kannte. Sverre musste wirklich dringend seine Dissertation zum Abschluss bringen. Aber es gab begehrenswertere Dinge auf der Welt als einen Doktortitel.
„Haben Sie morgen Abend schon etwas vor?“ Er entschied sich für eine irrationale Variante.
„Vielen Dank, ich brauche keine Versicherung. Da bin ich versorgt.“
„Vielleicht will ich Sie ja doch heiraten.“
Wieder lachte Eva-Maria. „Sie gehen aber ran, Sverre. Gar nicht schlecht für einen Norddeutschen.“
„Um Himmels Willen. Erst halten Sie mich für einen Sepp und jetzt auch noch für einen Norddeutschen. Ich bin Norweger. Wie...“, er strengte sein benommenes Gehirn an, um wenigstens ein bisschen intelligent rüber zu kommen, „... wie Edvard Munch, Henrik Ibsen und Thor Heyerdahl.“
„Aha.“
„Ja, A-Ha sind auch Norweger.“
„Sind Sie sicher, dass das keine Schweden sind?“
„Ganz sicher. Sie verwechseln das wahrscheinlich mit Abba.“
„Entschuldigung. Ich hoffe ich habe Sie nicht in Ihrem patriotischen Stolz gekränkt.“
„Kein Problem.“ Seine einzigen Probleme im Moment waren sein schwerer Kopf und die Frage, wie er dieses Gespräch am Laufen halten konnte. Dabei war diese Sorge völlig unbegründet, denn Eva-Maria machte keine Anstalten das Telefonat abzubrechen.
„Kennen Sie auch Lasse Kjus, Ole Einar Bjørndalen und Lars Bystøl?“
Wenn die wüsste, dass er Lars regelmäßig die Muskeln lockerte. Aber Sverre war kein Angeber, deshalb sagte er nur „Ja. Aus dem Fernsehen, klar.“
„Kennen Sie auch Harry Hole?“
„Ein Zeichen“, murmelte Sverre. Das war ein Zeichen.
„Sie meinen sicher Das fünfte Zeichen. Das lese ich grad.“
„Soll ich Ihnen verraten, wer der Täter ist?“
„Gerne. Wenn Sie mein nächstes Opfer sein wollen.“
„Wollen Sie mir etwa auch einen Finger abhacken, so wie der Mörder im Roman?“
Eva-Marias Lachen ging in ein Kichern über. „Passen Sie auf, dass ich Ihnen nichts anderes abhacke.“
„Sie scheinen ein gewisses Interesse an mir als Mann zu haben oder irre ich mich?“
„Tut mir leid, was müssen Sie von mir denken?“ Sie räusperte sich. „Ich hatte wohl ein Gläschen Sekt zuviel.“
„Sie sind mir aber eine. Ich trinke nie, wenn ich noch telefonieren muss“, log er dreist.
„Ich natürlich auch nicht, wenn ich selbst anrufe, aber ich wurde ja angerufen.“
„Stimmt. Vielleicht könnten wir das Geschäftliche rasch hinter uns bringen, ehe ich den Grund meines Anrufs vergesse.“
„Ach so, Sie wollen mir ja noch eine Versicherung andrehen.“ Sie seufzte.
„Nein, will ich nicht. Aber meinem Freund hat man eine angedreht und der kann sie sich nicht leisten.“
„Das tut mir aber sehr Leid für Ihren Freund.“
„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben? Die Polizzennummer lautet 26345607.“
Sie pfiff durch die Zähne. „So ein Zufall. Wie meine Telefonnummer.“
Zum Glück sah sie nicht, wie er errötete. Sverre wechselte schnell das Thema. „Also, haben Sie morgen Abend schon etwas vor? Ich würde Sie gern auf ein weiteres Glas Sekt einladen.“
„Ziemlich riskant, oder? Vielleicht bin ich eine achtzigjährige Witwe und nicht mehr ganz dicht?“
Sverres Instinkt sagte ihm, dass sie siebenundzwanzig und hübsch war. Sein Instinkt hatte ihn allerdings schon öfter hinterhältig belogen.
„Mut zum Risiko birgt nicht nur Gefahren, sondern eröffnet auch Chancen. Außerdem kann ich selbst mit undichten alten Damen über Harry Hole diskutieren.“
„Also gut. Aber warum erst morgen? Warum nicht schon heute?“
Puh. Sverre kam jetzt ins Schwitzen. Es gab genügend Gründe, warum es heute nicht ging, aber keiner dieser Gründe war gut genug, um ihn dieser sportlich-brünetten Eva-Maria auf die Nase zu binden. Erstens war Sverre so besoffen, dass er die Wohnung nicht verlassen konnte, also schied ein Treffen bei ihr oder auf neutralem Boden aus. Zweitens war er nicht weniger besoffen, wenn sie zu ihm käme. Dann wäre er kaum in der Lage, ihr die Tür zu öffnen, ohne auf die Klappe zu fallen. Drittens war er so besoffen, dass - sofern sie seine Erwartungen erfüllte - er ziemlich unsittlich über sie herfallen und ihre Erwartungen in ihn vermutlich maßlos enttäuschen würde. Viertens hatte in dieser Woche Tristan Küchendienst, so dass Eva-Maria durch den Zustand der Küche abgeschreckt worden wäre. Hätte Sverre Küchendienst gehabt, dann wäre Tristan allerdings für das Badezimmer zuständig gewesen, was den Abschreckungseffekt noch vergrößert hätte. Fünftens…
„Sind Sie noch da Sverre?“
„Ähm, ja.“
„Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Natürlich nicht. Es ist wegen Tristan.“
„Tristan?“
„Ja, er ist krank.“
„Der Arme. Sie haben Kinder?“ War da eine leise Enttäuschung in Eva-Marias Stimme?
„Nein, nein, keine Kinder. Tristan ist mein Untermieter.“
„Kann sich nicht Isolde um ihn kümmern?“ Die Enttäuschung wurde durch Spott abgelöst.
Woher wusste sie von Isolde? Kannte sie ihn etwa? War sie die pickelige Rothaarige, die in der Statistikvorlesung in der ersten Reihe saß, sich ständig nach ihm umdrehte und ihn anhimmelte? Die war ihm neulich nicht von der Seite gewichen, als er mit Tristan telefoniert und ihn an den Termin beim Tierarzt erinnert hatte. Wer wusste sonst noch von der Katze?
„Also, die beiden haben grad ziemlichen Stress. Sie hat ihm die letzten Fischstäbchen aufgefressen. Entschuldigen Sie bitte die Frage“, stammelte er, „welche Haarfarbe haben Sie?“
„Ich bin naturblond. Warum? Haben Sie Vorurteile?“
Sverre fiel ein Stein vom Herzen. „Keineswegs. Ich hab nur gefragt ... weil ... weil ... Ihre Stimme klingt brünett.“
Eva-Maria lachte. „Keine Angst, ich fresse Ihnen schon nicht die letzten Fischstäbchen auf. In welchem Bezirk wohnen Sie eigentlich?“
„Mitten im Achten.“
„Ah, praktisch. Ich bin aus dem Siebenten. Wissen Sie was? Wenn Sie Tristan nicht allein lassen können, schnapp ich jetzt eine Flasche Wein und schau bei Ihnen vorbei.“
Ihm war schwindelig. Er fasste sich an Brust. Die Zahl der Menschen unter Dreißig, die einen Herzinfarkt erlitten, war in den letzten Jahren dramatisch angestiegen, hatte er gelesen.
„Eva-Maria? Tut mir leid, aber ich lieg’ schon im Bett.“ Das Wörtchen noch durch schon zu ersetzen ging wohl als lässliche Sünde durch.
„Dann stehen Sie doch einfach wieder auf. Oder sind Sie etwa gefesselt?“
„Sie haben aber eine Fantasie.“
„Gefällt Ihnen die Vorstellung, Sverre?“
„Ja“, entfuhr es ihm. „Also nein. Es geht heute wirklich nicht. Tristan. Sie wissen schon. Der arme Kerl. Er braucht mich. Aber morgen, da ist er sicher wieder gesund und besucht seine Oma.“
„Wie rührend. Nur kann ich morgen leider nicht. Da hab ich einen ganz wichtigen Termin in Stockerau. Ich bin nämlich...“
Mit einem Piepton verabschiedeten sich die Akkus in Sverres Mobilteil und brachten Eva-Maria zum Schweigen. Verärgert warf er den Hörer auf die andere Betthälfte, wo noch immer die Kronen Zeitung lag.
Erich Marek startet Tour in Stockerau, stand da. Von dem hatte Sverre noch nie etwas gehört. Vielleicht wollte Eva-Maria auch dort hin. Er las den Artikel und wurde schlagartig nüchtern.
Der beliebte Travestiekünstler beginnt eine Reihe von insgesamt vierundzwanzig Auftritten, die ihn durch ganz Österreich, in die Schweiz und nach Deutschland führen. Marek, der nicht nur äußerlich, sondern auch stimmlich verblüffend echt zur Frau mutiert, wurde berühmt durch seine Rolle als blonde Eva-Maria.
Morgen: Dienstag ;-)
testsiegerin - 28. Aug, 17:53
Sverre setzte sich im Bett senkrecht auf und lehnte sich an das edle Rotbuchenholz in seinem Rücken. Den Laptop stellte er akkurat auf seine Beine und klappte den Bildschirm in Neunzig-Grad-Position, so als wäre Rechtwinkligkeit eine notwendige Voraussetzung, um eine Abhandlung über Rationalität zu verfassen.
„...eines angestrebten Mindestvermögens abzubilden vermögen.“
Jetzt musste er sich wieder auf die Kennzahlen konzentrieren. In nächtelangen Grübeleien hatte er eine Funktion entwickelt, mit denen sich diese Kennzahlen berechnen ließen. Voraussetzung dazu war die Ermittlung eines systemimmanenten Korrelationskoeffizienten, der wiederum aus den bisher im System getroffenen Entscheidungen ermittelt wurde.
Es klopfte. „Komm ruhig rein, Tristan!“
Da war wieder so eine irrationale Entscheidung. Vernünftiger wäre es jetzt gewesen, „Hau ab!“ zu rufen. Noch vernünftiger wäre es gewesen, bereits am frühen Morgen, auf der anderen Seite der Tür ein Schild „Bitte nicht stören“ anzubringen und abzuschließen. Sverres persönlicher Korrelationskoeffizient begann merklich zu bröckeln.
Dass er Andreas Tristan mit dessen Nachnamen anredete, war nicht etwa ein Ausdruck von Unhöflichkeit. Schließlich hatte der sich ihm damals in der U-Bahn auch so vorgestellt. Tristan war für ihn zum Universalnamen geworden, zum Vor- und Nachnamen gleichermaßen, so wie bei einem brasilianischen Fußballspieler.
„Stimmt was nicht?“
„Mhhm.“
Der sonst zur Geschwätzigkeit neigende Tristan gab sich ungewohnt schweigsam.
Sverre schaute seinen Mitbewohner aufmunternd an.
„Es ist...“, stammelte der, „...es ist nämlich so... also...“
„Ja?“
„Du versuchst ja seit Wochen mich davon zu überzeugen, dass ich mich etwas mehr um meine Zukunft kümmern und nicht so in den Tag hinein leben soll, weil es mehr als unsicher ist, dass meine Kunst es mir möglich machen wird, auf eigenen Füßen zu stehen.“
„Stimmt doch, oder?“ Sverre hörte nur halb hin. Er versuchte die Zahlenreihen auf seinem Bildschirm in Worte zu fassen.
Auch Tristan versuchte in Worte zu fassen, was ihm auf dem Herzen lag. Weil ihm das anscheinend im Stehen schwer fiel, setzte er sich auf Sverres Bett. Sverre seufzte unhörbar, Isolde fauchte hörbar.
„Also ... also ich hab mich gekümmert.“
„Worum hast du dich gekümmert?“ Was hatte sein Doktorvater an dieser Stelle noch mal angemerkt? Sverre griff nach dem ausgedruckten Manuskript. Ah ja, hier: Beachten Sie auch die Intervallskala: Bei intervallskalierten Variablen können Differenzen zwischen den Ausprägungen sinnvoll interpretiert werden, nicht aber Verhältnisse.
„Ich hab mich um meine Zukunft gekümmert.“
„Schön, Tristan. Ich kümmere mich auch gerade um meine Zukunft, wie du vielleicht siehst. Sonst noch was?“
„Schon gut.“ Tristan hatte kapiert, dass er störte und schlich von dannen. Isolde folgte ihm lautlos durch den Türspalt. Mit ihrem siebten Sinn hatte sie gespürt, dass es etwas zu fressen geben könnte.
Sverre atmete erleichtert auf. Was war das jetzt mit den Differenzen und Verhältnissen? In den meisten Verhältnissen gab es früher oder später Differenzen. Und was für eine Intervallskala überhaupt? In der ganzen Arbeit gab es keine Intervallskala. Der gute Professor Sedlacek war auch schon ganz schön durcheinander.
Sverre gähnte, stellte den Laptop beiseite und streckte sich im Bett aus. Nur einen Moment die Augen schließen und entspannen. Nur einen Moment die Mischung aus Rotbuche, Leinöl und Lavendel inhalieren. Nur einen Moment.
Eine halbe Stunde später riss ihn ein lautes Geräusch aus dem Tiefschlaf.
Ein Klirren. Ein Brüllen. Ein Miauen. Als er den Kopf drehen wollte, knackste es in seinem Genick. Im Traum war er durch ein Labyrinth von wolkenkratzerhohen Intervallskalen geirrt, verfolgt von Professor Sedlacek. Und jetzt war er wach – bevor er noch einen Ausgang gefunden hatte.
„Alles in Ordnung da draußen?“, rief er.
Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen. „Gar nichts ist in Ordnung. Während ich telefoniert habe, hat dieses blöde Vieh erst meine Fischstäbchen aufgefressen und danach den Teller zerbrochen.“
„Aha. Differenzen zwischen Tristan und der schönen Königstochter Isolde. Es ist eine äußerst irrationale Entscheidung, Katze und Fisch unbeaufsichtigt im selben Raum zu lassen.“
„Du immer mit deiner Scheiß-Vernunft! Dabei hab ich grad andere Sorgen.“
„Es gibt Schlimmeres als einen zerbrochenen Teller. Die Schaufel liegt übrigens in der Abstellkammer, ganz links.“
„Ich weiß, dass es Schlimmeres gibt. Der Teller ist ja auch gar nicht mein größtes Problem.“
„Sondern? Wieder eine Tonskulptur vermurkst? Oder bei der kleinen Cellistin abgeblitzt?“
„Nein, verdammt.“ Tristan ging in die Küche und pfefferte die Scherben in den Mülleimer. „Ich hab was unterschrieben“, rief er durch die Tür.
„Na wunderbar. Haben sie dir endlich das Stipendium bewilligt? Das wurde ja auch Zeit.“
„Haben sie nicht. Ich hab eine Versicherung abgeschlossen.“
„Auch gut. Das habe ich dir schon lange geraten. Was hast du abgeschlossen?“
„Eine kombinierte Unfall-, Lebens-, Renten- und Berufsunfähigkeitsversicherung.“
Sverre horchte ungläubig auf. „Sonst nichts?“
„Ähm, doch. Inklusive Berufs-, Verkehrs- und Privatrechtsschutz. Einbruch und Diebstahl. Reiserücktritt und Auslandskrankenschutz. Hausrat und Haftpflicht. Blitzschlag und...“
Sverre stieß die Tür zu und drehte den Schlüssel herum.
„Det var som pokker, rævhøl!“, fluchte er durch die geschlossene Tür und war im nächsten Moment froh, dass Tristan kein Norwegisch verstand, denn was er eben gesagt hatte, war alles andere als höflich gewesen. Weil ihm aber nicht nach Höflichkeitsfloskeln war, setzte er noch nach: „Wenn du mich weiter verarschst, empfehle ich auch eine Bestattungskostenversicherung. Inklusive Grabpflege!“
Mit seiner Konzentration war es nun endgültig vorbei und mit seiner Vernunft auch. Sverre klappte den Laptop zu. Zum Glück fand sich zwischen all den mathematischen Fachbüchern und toten, deutschen Romantikern auch ein Zeitgenosse aus seiner Heimat. Sverre schlug den Krimi von Jo Nesbø auf. Er würde Harry Hole helfen, den Serienmörder zu fassen, der seinen Opfern als Fahrradbote auflauerte. Später könnte er sich dann wieder mit neuem Elan seiner Doktorarbeit widmen.
Harry Hole handelte keineswegs immer rational. Das wäre ja auch ziemlich langweilig gewesen in so einem Krimi. Außerdem führte irrationales Handeln oft viel schneller zum Ziel, nicht nur im Roman – besonders, wenn es um Frauen ging. Sverre seufzte. Wenn er mit dieser elenden Arbeit endlich fertig war, dann musste er sich mal wieder um die angenehmeren Seiten des Lebens kümmern. Doch wenn er irgendwann mal damit fertig werden wollte, dann durfte er sich jetzt nicht mit Frauen einlassen. Das war ohnehin ziemlich unwahrscheinlich, dass jetzt eine wildfremde schöne Frau an seine Zimmertür klopfen würde. Aber irgendwer klopfte da.
„Nein! Nicht jetzt“, rief er dem Klopfer zu. „Nicht stören, bitte.“
Sverre blätterte ein paar Seiten zurück. Hatte er das überhaupt schon gelesen? Und was war jetzt mit dieser Rakel? Er legte das Buch resignierend zur Seite. Eine Tasse Kaffee wäre jetzt wunderbar, aber dazu hätte er das Zimmer verlassen müssen und wäre direkt in Tristans Arme gelaufen. Er suchte nach etwas Trinkbarem in seinem Zimmer. Aber außer einer Flasche Grappa gab es da nichts. Die hatte Tristan ihm von seinem Kurzurlaub aus Italien mitgebracht, wahrscheinlich um Sverres Wut ein bisschen zu dämpfen, weil er zuvor die Wohnung in einem Zustand verlassen hatte, in der man eine Wohnung besser nicht verlässt, wenn sie einem nicht gehört.
Sverre trank nie am helllichten Tag, und am Abend auch nur selten. Seine Doktorarbeit würde er für heute vergessen können. Obwohl – Harry Hole konnte die Kriminalfälle überhaupt nur dann lösen, wenn er trank. Er setzte die Flasche an. Es klopfte wieder. Er setzte die Flasche wieder ab, stellte sie unter das Bett. Er wollte nicht so elend und erbärmlich enden wie Harry Hole, selbst, wenn dieser ein Held war. Ein Held, der Mörder fasste und Men-schenleben rettete. Und was war er, Sverre? Ein Arschloch, dem sein Titel wichtiger war als sein Mitbewohner.
Fortsetzung folgt
testsiegerin - 27. Aug, 22:21
Sverre Solskjær hustete. Dabei war Sverre Solskjær kerngesund. Sverre Solskjær hatte sich soeben am Kaffee verschluckt und das war kein Wunder. Er saß mit der Kronen Zeitung im Bett und frühstückte. Aus ernährungsphysiologischer Sicht war es völlig falsch, im Bett zu frühstücken. Aus politisch-moralischen Gründen war es noch falscher die Kronen Zeitung zu lesen. Wer die Kronen Zeitung während des Frühstücks im Bett las, der durfte sich nicht wundern, wenn er sich am Kaffee verschluckte. Sverre Solskjær war intelligent genug, um sich nicht zu wundern.
Großartig! Sie hatten es auf die Titelseite geschafft. Ein Foto von der norwegischen Botschaft. Unter den Fenstern des Botschafters ein riesiges Transparent: Rettet die Wale. Sauber hatten die Beiden das gemacht, anständig gespannt, so dass man den Text gut lesen konnte.
Das war es aber nicht, was ihn husten ließ, sondern der Text zum Bild:
Noch in der Nacht auf Montag wurden militante Aktivisten der Tierschutzorganisation Vier Pfoten verhaftet. Ihre Büros wurden durchsucht, Beweisstücke sichergestellt und Unterlagen beschlagnahmt. Zuletzt hatten Mitarbeiter der Vier Pfoten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen, als sie nackt auf dem Opernball erschienen, um gegen Pelztierfarmen zu protestieren.
So ein Quatsch. Vier Pfoten. Seit wann hatten Wale Pfoten?
Wie dem Artikel zu entnehmen war, hatte sich erwartungsgemäß auch der Innenminister zu Wort gemeldet und eine Verbesserung der Fahndungs- und Überwachungsmöglichkeiten gefordert. Der norwegische Tourismusminister drohte sogar mit einer Schließung der heimatlichen Seehäfen für österreichische Ausflugsschiffe. Spätestens jetzt wusste Sverre Solskjær, dass er mit der nächsten Tasse Kaffee noch etwas warten musste.
Immerhin, so stellte er erleichtert fest, waren die zuständigen Behörden und – was ebenso wichtig war – auch die neugierigen Journalisten auf der falschen Fährte. Außerdem hatte Gregor ein Alibi, wie man auf der ersten Seite des Sportteils lesen konnte.
Der Schispringer Gregor Silberhügl muss für mindestens zwei Monate pausieren. Wie Siegfried Schmölzer mitteilte, der in Abwesenheit des Cheftrainers derzeit die Mannschaft betreut, zog sich die große nationale Goldhoffnung am Sonntag beim Training eine Sprunggelenksverletzung zu. Gregor Silberhügl wurde am Abend in einer Wiener Spezialklinik behandelt, musste aber nicht operiert werden.
Sverre grinste. Der Sigi. Auf den war schon immer Verlass, wenn es brenzlig wurde.
Er legte die Krone zur Seite, machte ein paar Sit-ups und strich über seinen Waschbrettbauch. Alles für die Katz, dachte er und warf einen Blick auf die andere Hälfte des Doppelbetts. Sie war zwar nicht leer, aber sowohl der getigerten Katze als auch den deutschen Romantikern war sein durchtrainierter Körper egal. Er schob Eichendorff und Novalis zur Seite und griff sich einen Tausendseitenwälzer über Versicherungsmathematik.
Sverre klappte seinen Laptop auf. Er hatte sich vorgenommen, die kommende Woche dazu zu nützen, endlich seine Dissertation fertig zu schreiben.
Irrationales Entscheidungsverhalten in rational arbeitenden Versicherungssystemen am Beispiel der privaten Altersvorsorge in Wien und Niederösterreich, so hatte er seine Doktorarbeit getauft. Eigentlich war es ein ziemlicher Blödsinn in einer Stadt zu promovieren, in der ohnehin jeder Würstelverkäufer mit Herr Doktor angesprochen wurde, aber daheim in Kristiansand machte das schon etwas her.
Sverre Solskjær studierte Germanistik und Technische Mathematik. Das erste studierte er aus Liebe zur deutschen Literatur, das zweite aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Seine Arbeit als Masseur bescherte ihm zwar ein ausreichendes Einkommen, er hatte jedoch das Gefühl, dass sie ihn auf Dauer intellektuell unterforderte.
Manchmal gerieten die unterschiedlichen Schwerpunkte in seinem Leben ein bisschen durcheinander. Der Doktorvater fand den Stil seiner Dissertation „prosaisch und schwülstig – dem Thema völlig unangemessen“, wie er sagte. Vielleicht war das aber auch nur eine gekränkte Reaktion darauf, dass Sverre ihm Übungen zur besseren Haltung vorgeschlagen hatte. Auch die Schispringer teilten seine Leidenschaft für deutsche Lyrik nicht, ließen ihn aber einfach rezitieren, während sie sich auf der Liege seinen Händen auslieferten. Außerdem waren sie es gewohnt, dass ihre Haltung beurteilt wurde.
In Ermangelung einer Frau massierte Sverre die Rückenmuskulatur von Isolde, seiner Katze, die sich augenblicklich entspannte und zufrieden schnurrte. Sie verdankte ihren Namen Sverres Mitbewohner, dem Kunststudenten Andreas. Zwar interessierte sich Andreas nicht besonders für klassische Musik und schon gar nicht für Richard Wagner, aber er hieß mit Nachnamen Tristan. Isolde interessierte sich weder für Wagner noch für Germanistik oder Schispringen.
Isolde war Sverre im vergangenen Sommer auf einem Bauernhof vor die Füße gelaufen, als er Versicherte und Versicherer zur Datenerhebung aufgesucht und interviewt hatte. Andreas Tristan war ihm in derselben Woche in der U-Bahn-Station vor die Füße gelaufen, ähnlich zerzaust wie die Katze und ebenso auf der Suche nach einer neuen Unterkunft, nachdem seine Ex-Freundin ihn hinausgeschmissen hatte.
Sverre hatte nicht nur ein Herz für herrenlose Tiere, sondern auch für frauenlose Menschen und nahm Tristan als Untermieter auf.
Am liebsten hätte er sich jetzt die Seidendecke über seinen Kopf gezogen und noch eine Runde geschlafen. Er schlief nämlich nicht nur sehr gern in seinem Bett, sondern auch sehr gut. Seine letzte Freundin hatte entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er ihr den Preis des Bettes verraten hatte. Keine furnierten Spanplatten, sondern edles, volles Rotbuchenholz, keine Metall- oder Kunststoffteile, sondern gezinkte Eckverbindungen, und kein billiger Lack, sondern eine naturbelassene, mit duftendem Leinöl behandelte Oberfläche. Was er ihr verschwiegen hatte, war die Tatsache, dass er noch einmal so viel für die Bio-Matratze aus Naturlatex und Kokoskautschuk mit eingestreutem Lavendel ausgegeben hatte. Aber an seinem Bett war ihre Beziehung ohnehin nicht gescheitert, sondern daran, dass er zu oft in fremden Betten schlief. In billigen Hotelbetten, wohlgemerkt, wenn er mit der Schisprungnationalmannschaft unterwegs war.
Jetzt aber wurde nicht geschlafen, jetzt wurde gearbeitet.
Lustlos übersetzte Sverre seine poetischen Formulierungen in trockenes Wirtschaftsdeutsch. Derartige Kennzahlen sind für den Vermögensaufbau im Rahmen der privaten Altersvorsorge von besonderer Relevanz, da sie im Gegensatz zu zweiseitigen Schwankungsmaßnahmen das Verständnis von Risiko als Gefahr der Unterschreitung eines angestrebten Mindestvermögens abzubilden vermögen. Schön klang das nicht, aber der Professor wollte es nicht anders.
Die Waldviertler Nebenerwerbsbauern hatten ihn ausgelacht, als er sie zu ihrem Entscheidungsverhalten bezüglich einer privaten Altersvorsorge interviewen wollte. „Ein bissl eine Pension werden wir schon noch kriegen“, haben sie gesagt, „und ein Bausparvertrag lauft auch demnächst ab. Dann halt noch die Pachteinnahmen vom Obstgarten, und wohnen werden wir in der Ausnahm’.“ Wenigstens hatten sie ihm netterweise erklärt, dass man darunter das Altenteil verstand.
Wären all seine Interviewpartner in ihren Entscheidungen so vernünftig gewesen wie die Waldviertler Bauern, dann wäre seine Doktorarbeit ein dünnes Heftchen und kein 250-Seiten-Werk geworden. Aber er hatte dann doch noch Glück gehabt und Menschen gefunden, die in ihren Entscheidungen weniger rational waren.
Sverre selbst ließ sich weniger von seinen Gefühlen als von seiner Vernunft leiten – meistens, denn auch er hatte in seinem Leben schon viele irrationale Entscheidungen getroffen. Durch seine Dissertation war ihm aber klar geworden, dass solche Entscheidungen oft notwendig waren.
Noch häufiger als falsche wurden nämlich gar keine Entscheidungen gefällt, was sich im Nachhinein oft als das Schlechteste herausstellte. Und so hatte er die These entwickelt, dass es durchaus rational war, wenn man sich zwischen mehreren irrationalen Möglichkeiten entschied, anstatt nach einer rationalen Lösung zu suchen, die es vielleicht gar nicht gab.
War es wirklich vernünftig gewesen, seinen Job als Masseur in Kristiansand und Mamas hervorragenden Hammel in Kohl sausen zu lassen, um in Wien zu studieren und sich von fettigen Schnitzelsemmeln zu ernähren? Und war es jetzt vernünftig über all diese Dinge zu philosophieren, anstatt endlich weiter zu schreiben?
Fortsetzung folgt...
testsiegerin - 27. Aug, 13:33
Bevor ich morgen, am Mittwoch, zum Montag komme, erzähle ich heute, am Dienstag noch vom Dienstag.
Früh aufgestanden, weil ich dem Kind versprochen hab, heute nicht so spät nach Hause zu kommen.
Gearbeitet. Dreimal in der IT-Abteilung angerufen, weil der neue Thin Client (nein, das ist kein neuer, magersüchtiger Klient, sondern ein Computer) nicht wollte, was ich wollte.
Nach der Arbeit meinen Sohn überrascht und von der Praktikumsstelle abgeholt. Gedacht, ihn auf dem Nachhauseweg noch auf ein Eis einzuladen, Vanilleeis mit heißen Himbeeren, das mag er so gern. Gedacht, danach einzukaufen und was Gutes zu kochen, irgendwas, was das andere Kind liebt. Vielleicht Milchreis. Oder Grießpudding.
Das Auto gesehen.
„Scheiße“ gedacht. Voll auf die Bremse gestiegen. Der Gehaltsvorschuss fürs Auto ist noch nicht zurückgezahlt, gedacht. Scheiße und noch mal scheiße gedacht. Zum Glück fährt er auf meiner Seite rein und nicht dort, wo mein Sohn sitzt, gedacht. Das Krachen gehört. Das Knirschen von Blech. Den Aufprall gespürt. Ich bin nicht schuld, gedacht, ich war auf einer Vorrangstraße und nicht zu schnell. Es ist unglaublich, was man im Bruchteil einer Sekunde alles denken kann, gedacht. Das Kind gefragt, ob es ihm gut geht. Den Schmerz gefühlt. Scheiße, scheiße, scheiße gedacht.
Geheult.
Feuerwehr. Notarzt. Polizei. Volles Programm.
Ins Röhrchen geblasen. Nicht genug Luft gehabt. Mit weniger Kraft, dafür länger blasen. Und nichts Schmutziges gedacht, dabei.
Krankenhaus. Röntgen. Nur geprellt.
Um einen entspannten Abend mit den Kindern. Und um mein Auto, das jetzt gar nicht mehr hübsch ausschaut. Seine Haube ist verrutscht und die Augengläser zerbrochen und er wirkt irgendwie ganz gedrückt auf der Seite.
Neben dem Auto gesessen und auf den Abschleppwagen gewartet. Geheult. Gelacht. Weil man Scheiß-Autos ersetzen kann. Weil nicht mehr passiert ist. Weil es den Kindern gut geht. In die Wolken geschaut. Zwei Stunden lang. Mich geärgert, dass der Typ nicht mal „Es tut mir leid“ gesagt hat. Das ist doch nicht so schwer, oder? Es sind nur vier Worte. Er hätte „Es tut mir leid“, murmeln und ich „schon o.k., kann jedem passieren“ antworten.
Ich muss mich noch bei der Frau bedanken, die sich um mich gekümmert hat und meinetwegen zu spät nach Hause gekommen ist.. Die die Polizei angerufen hat und mich getröstet hat. Ja, das muss ich noch. Danke sagen. Das ist nur ein Wort. Und ich wette, die Frau freut sich.
testsiegerin - 26. Aug, 21:01
„Zapletal.“
„Ja. Hier auch. Grüß dich, Papa.“
„Franzi. Alles in Ordnung?“
Sie hatte nur ein halbes Dutzend belangloser Worte gesprochen, und schon wusste er, dass nicht alles in Ordnung war.
„Weißt du, wo die Norwegische Botschaft in Wien ist?“
„Ja. Das weiß ich. Die Gegend kenn ich.“
„Natürlich kennst du die.“ Josef Zapletal kannte jeden Bezirk in Wien. Er hatte nämlich vierzig Jahre lang dort die Straßen vermessen.
„Kennst du auch den Gregor Silberhügl?“
„Ja doch. Kommen noch blödere Fragen?“
„Wer ist denn dran, Seppl? Wieder so eine Umfrage?“, hörte Franziska eine wohlbekannte Stimme im Hintergrund.
„Die Franzi ist es.“
„Die Franzi. Dann richte ihr aus, dass sich ihre Muter mal wieder über einen Besuch freuen würde.“
„Sag ihr, ich komm eh nächstes Wochenende. Aber jetzt hab ich eine Bitte.“
„Schieß schon los!“
„Gut, Papa, hör mir einfach zu, ja? Und erzähl Mama bitte nichts davon, sie würde sich nur Sorgen machen.“
„Mama ist eh schon wieder in der Küche.“ Trotzdem flüsterte er: „Sag, wollt ihr heiraten, die Birgit und du? Aber was hat das mit Silberhügl und der Norwegischen Botschaft zu tun?“
„Papa! Erstens ist das in Österreich noch immer nicht erlaubt und zweitens weißt du, was ich von der Ehe halte. Es geht um Folgendes: Gregor hängt an der Dachrinne der Botschaft fest. Du hast doch noch dein Kletterzeug, oder? Also das Seil und die Karabiner und so. Fahr bitte damit zur Botschaft, kraxle auf der Rückseite hoch und hol ihn da runter. Unversehrt, wenn möglich.“
„Das sagt sich so einfach, Franzi. Wie stellst du dir das vor? Da geht ja bestimmt eine Alarmanlage los, wenn ich über den Zaun klettere.“
„Warte, Papa. Ich check das. Rühr dich nicht vom Fleck.“
„Ja. Check du mal. Komische Ausdrücke hast du.“
„Hier ist Franzi. Gibt’s da eine Alarmanlage?“
„Hat Sverre angerufen?“
„Nein. Auf den können wir nicht warten. Der angelt vermutlich grad Dorsche in so einem finsteren Fjord. Ich hab schon Hilfe organisiert.“
„Aber bitte nicht die Feuerwehr.“
„Nein. Nicht die Feuerwehr. Mein Papa kommt.“
„Wie alt ist denn der?“
„Er feiert in ein paar Wochen seinen Siebzigsten.“
„Glaubst du wirklich, dass er der Richtige für den Job ist?“
Jetzt hatte er sie tatsächlich geduzt.
„Wir haben keine große Auswahl, Gregor.“
Er musste ihr zustimmen. Dann erklärte er, wie man die Alarmanlage austrickste und sie musste versprechen, das sofort wieder zu vergessen, nachdem sie es ihrem Vater erklärt hatte.
„Pass auf dich auf, Papa.“
Franziska legte das Telefon aufs Nachtkästchen. Sie fiel in die Kissen und die Augen fielen zu. Auf ihren Vater konnte sie sich verlassen, der hatte immer zu ihr gehalten und nie die Polizei gerufen, wenn jemand Mist gebaut hatte. Auch damals nicht, als sie mit ihren Freunden Kaugummiautomaten geknackt und ihn gebeten hatte, die Beute zu verstecken. „Die anderen haben sich nicht getraut, das mit nach Hause zu bringen, wegen der Eltern“, hatte sie mit hochrotem Kopf gesagt. Papa hatte die zwölf Kilo Kaugummis kurzerhand in den Tresor gesperrt. Ein Lächeln spazierte über Franziskas müdes Gesicht, als sie daran dachte, wie er sich am nächsten Tag an einem Teil der Beute einen Zahn ausgebissen und geflucht hatte, es sei ohnehin ein verdammtes Verbrechen, für dieses amerikanische Sauzeug von den Kindern auch nur einen einzigen Groschen zu verlangen. Und jetzt war er auf dem Weg in die Botschaft und befreite Gregor Silberhügl von einer norwegischen Dachrinne. Ihr wunderbarer Papa.
Diesmal brauchte Franziska keine Beschwörungsformeln, um einzuschlafen. Sie brauchte auch keine Beschwörungsformel, um nur wenig später wieder aufzuwachen. Das Telefon beendete ihren kurzen Traum.
„Sverre Solskjær. Sie haben mich angerufen?“
„Oh, ja. Sie sind schon zurück vom Dorschfang?“
„Wie bitte?“
„Egal, nicht so wichtig. Wie spät ist es eigentlich?“
Franziska war ziemlich verwirrt. Erstens, weil er sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Zweitens, weil er ein völlig akzentfreies Deutsch sprach. Und drittens, weil sie die Datei Sverre in ihrem Gehirn bereits in den Ordner Gelöschte Objekte verschoben hatte.
„Viertel nach zwei. Am Nachmittag.“
„Sie meinen sicher viertel drei. So sagt man das bei uns hier.“ Der brauchte gar nicht so anzugeben mit seinem blöden Hochdeutsch. Der redete ja wie ein evangelischer Pfarrer aus Hannover.
„War es das, was Sie von mir wissen wollten? Die Uhrzeit?“
Sie merkte, dass er im Begriff war, das Gespräch zu beenden. Sie hatte sich mal wieder zu zickig benommen. Der arme Sverre konnte ja nicht ahnen, was sie alles hinter sich hatte. Womöglich hatte er selbst auch einen üblen Tag verlebt. Die Fische hatten nicht gebissen und das kalte Fjordwasser war ihm in die Gummistiefel gelaufen. Und für den Fall, dass der inzwischen eingetretene Plan B scheitern sollte, musste sie auf die Variante Sverre zurückgreifen können, deshalb durfte sie ihn nicht vergraulen.
„Entschuldigen Sie“, bemühte sie sich. Sollte der Herr Solskjær ein Mitarbeiter der Botschaft sein, dann stand er sicher auf jegliche Form von Höflichkeiten. „Es geht um Gregor. Um Gregor Silberhügl. Er hängt an Ihrer Botschaft. Mit dem Fuß an der Dachrinne. Aber machen Sie sich keine Sorgen.“
„Warum sollte ich mir da Sorgen machen? Das klingt ja wirklich beruhigend."
War da Spott in seiner Stimme oder war ihm das Schicksal von Gregor tatsächlich egal? Franziska kannte sich nicht aus. Sehr beunruhigt klang Sverre nicht, eher ein bisschen gereizt.
„Gregor geht es den Umständen entsprechend gut.“ Das sagte sie zu den Angehörigen auch oft, das konnte alles und nichts bedeuten. „Sind Sie ein Verwandter von ihm?“ Bei Diplomaten war bestimmt Smalltalk angesagt.
„Nein.“
„Arbeiten Sie für die Botschaft?“
„Nein.“
Franziska war nach Schlafen und nicht nach Streiten zumute. Deshalb erzählte sie einfach, was geschehen war. Angefangen vom mysteriösen Anruf bis zu ihren Bemühungen, Gregor zu helfen.
„Nun gut, ich will ehrlich sein.“ Sverre klang jetzt wesentlich freundlicher. „Ich bin ein Freund von Gregor und Masseur der norwegischen Schisprungnationalmannschaft. Sie haben doch sicher davon gehört, dass bei uns zuhause Wale noch immer bestialisch abgeschlachtet werden. Mein Schwager arbeitet in der Botschaft, der hat uns gezeigt, wie man die Alarmanlage überlistet. Und Gregor ist ja schwindelfrei, dem hat das nicht ausgemacht, da aufs Dach zu kraxeln.“
„Oh, Masseur der Nationalmannschaft“, wiederholte sie. Das fand sie viel spannender, als über Tierschutz zu diskutieren. „Ich lasse mich auch einmal die Woche massieren, wegen meiner Kreuzschmerzen. Das Durchkneten tut so richtig gut, aber die Schmerzen sind noch immer da. Übrigens, darf ich bitte ein Autogramm von Ihnen haben? Und von den Springern der norwegischen Mannschaft auch? Je drei, bitte.“
Verflixt, sie hatte vergessen, ihren Papa an die Autogramme von Gregor zu erinnern. Aber wenn sie ihn jetzt anrief, stürzten die beiden womöglich ab.
Angesichts der Männer in der Nordwand der Botschaft beendete Franziska das Gespräch, um die Leitung freizuhalten. Außerdem fand sie, dass ein bisschen Schlaf auch nicht falsch wäre. Ihr Körper fand das auch. Als das Telefon wieder klingelte, war es draußen schon finster. Sie hatte tatsächlich ein paar Stunden geschlafen.
„Papa, alles in Ordnung mit dir?“
„Aber ja doch. Hat leider etwas länger gedauert. Ich musste von der Rückseite hinaufsteigen, damit mich keiner sieht. Dann mussten wir Gregors Fuß aus der Dachrinne befreien. Der war ganz schön angeschwollen und wollte nicht mehr aus dem Schuh heraus. Ich hab ihn dann abgeseilt und zum Schluss noch das Plakat ausgerollt.“
„Ich bin so stolz auf dich, Papa. Du hast eine ganze Nation gerettet.“
„Ja. Und die Wale noch dazu. Einen herzlichen Dank soll ich dir sagen vom Gregor. Er hat uns für nächsten Sonntag zum Essen eingeladen.“
Ein Abendessen mit Gregor Silberhügl, das war wie ein Fünfer mit Zusatzzahl. Franziskas Herzschlag beschleunigte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an Backkehndlsalat, Graukäsenocken und Tiroler Speckknödel dachte. Doch im nächsten Augenblick holte die Realität sie ein und das Wasser im Mund lief wieder auseinander. Wahrscheinlich gäbe es gar nichts Richtiges zu essen, sondern sie würden sich vom Rohkostbuffet bedienen, an Müsliriegeln knabbern und einen Eiweißshake schlürfen, angereichert mit Kreatin für den Muskelaufbau. Arme Franzi. Armer wunderbarer Papa.
Der Gedanke ans Essen trieb Franziska in die Küche. Dort wurde sie von Birgit schon sehnsüchtig erwartet.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich heute alles erlebt habe, während du selig geschlummert hast. Im Zoo war es wunderschön, sie haben jetzt zwei kleine Elefanten. Gott, waren die süß. Danach waren wir noch im Kino. Ein rührender Trickfilm über Wale. Aber das Verrückteste kam erst auf dem Heimweg. Du wirst nicht erraten, wen ich da getroffen habe?“ Sie legte strahlend sechs Autogrammkarten von Gregor Silberhügl auf den Tisch. „Da staunst du, gell?“
„Ja, da staune ich. Drei hätten ja gereicht.“
„Das hab ich ihm auch gesagt.“ Er hat gar nicht gut ausgeschaut, der Gregor Silberhügl. Gar nicht wie ein erfolgreicher Sportler. Gehumpelt ist er. Außerdem hat er mir auch nur drei Autogrammkarten gegeben.“
„Und woher kommen die anderen drei?“
„Die sind von deinem Papa. Du solltest ihn mal wieder anrufen, er wirkte ganz schön wunderlich. Weißt du, er marschierte in einer Bergsteigerausrüstung durch Wien. Und dann hat er mir die drei anderen Karten in die Hand gedrückt.“
Franziska betrachtete die Bilder mit der immer gleichen Unterschrift. Mit den fünf gleichen Unterschriften. Und nahm sich die Karte heraus, auf der stand:
Danke und bis nächsten Sonntag
Dein Gregor
Morgen gehts weiter mit Montag. Obwohl da schon Mittwoch ist.
testsiegerin - 26. Aug, 07:59
Sie rollte sich auf die andere Seite des Bettes und griff sich den Wecker. Dreiviertel zehn. Sie hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen. Das Telefon läutete beharrlich weiter. Hoffentlich war nichts passiert. Blödsinn, Birgit fuhr immer so langsam mit dem Auto, dass sie zu jedem Zusammenstoß zu spät kommen würde. Und das Löwengehege im Zoo war durch Gitter so gesichert, dass nicht einmal die Cherokee hineinklettern konnten. Vielleicht war etwas mit Papa? Der hatte schon mal einen Schlaganfall gehabt. Und der würde eher seine Tochter als die Rettung anrufen. Mit einem Satz war Franziska auf den Beinen.
„Franziska Zapletal.“ Sie musste immer aufpassen, dass sie sich am Telefon daheim nicht mit „Schwes-ter Franzi, Station dreizehn“ meldete.
„Ja. Grüß Gott. Bitte legen Sie nicht auf.“
„Eh nicht. Ich hab ja grad erst abgehoben.“
„Danke. Vielen Dank. Es ist nämlich etwas kompliziert.“
Der Mann am anderen Ende war in Not, sagte ihr siebter Sinn. „Beruhigen Sie sich erst mal. Ich bin ja da. Ich leg auch nicht auf.“
Jetzt hörte sie ein erleichtertes Seufzen. Dann Atmen und Schnaufen.
„Hallo? Sind Sie eingeschlafen?“ Dafür hätte sie nämlich Verständnis gehabt.
„Nein. Ich kann so gar nicht schlafen. Mit dem Kopf nach unten. Ich hänge mit dem Fuß an der Dachrinne fest.“
Der Mann am anderen Ende war sogar in großer Not.
„Bleiben sie ganz ruhig. Sagen Sie mir einfach die Adresse. Ich schicke die Feuerwehr. Und versuchen Sie auf keinen Fall, den Schuh auszuziehen.“
„Mir ist nicht nach Witzen zumute.“ Es knackte. Allerdings nicht in der Leitung, sondern in der Stimme des Mannes. Ein Tiroler, schloss Franziska geistesgegenwärtig.
„Ja. Das verstehe ich. Entschuldigung. Nun, wo hän-gen Sie? Am Goldenen Dachl in Innsbruck?“
„Fast richtig. Sie müssen mir versprechen, weder die Feuerwehr noch die Polizei zu rufen, sonst kann ich ihnen nicht verraten, wo ich bin.“
„Alles klar.“ Das sagte Franziska mehr zu sich selbst. Zum Glück hatte sie auch Erfahrung mit Psychiatriepatienten.
Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich bin nicht verrückt“, presste er hervor. „Versprechen Sie es?“
„Ja doch, ja.“ Es war leicht etwas zu versprechen, wenn man im schlimmsten Fall einfach auflegen konnte. „Gut, was soll ich tun? Gemeinsam mit Ihnen beten?“
„Sehr witzig. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Kennen Sie das?“
„Nun seien Sie mal nicht so zickig. Sie brauchen meine Hilfe, nicht umgekehrt.“
Wieder Atmen und Schnaufen. Franziska ging zurück ins Bett und kroch unter die Decke. Mit der Wärme kehrte auch die Sanftmütigkeit in sie zurück.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Sie brauchen nur eine Telefonnummer zu wählen und mit Sverre zu sprechen.“
„Warum rufen Sie dann mich an und nicht diesen Sverre?“
„Weil ich das nicht kann. Bei dem Sturz wurde mein Handy beschädigt. ich kann nur einen Teil der Ziffern wählen. Da hab ich auf gut Glück getippt.“
Tatsächlich hatte er schon etliche Male auf gut Glück getippt. Neunundzwanzig mal hatte er auf gut Glück getippt. Die meisten dieser Glücksnummern waren aber gar nicht mit einem Anschluss besetzt. Drei von diesen entsetzlichen Mailboxen hatte er erwischt. Dann einen Menschen, der vermutlich so etwas wie Albanisch sprach. Eine Pensionistin, die sich beim Hausputz gestört fühlte. Ein kurzes Gespräch mit einem pubertierenden Schüler hatte ihm Gewissheit darüber verschafft, dass seine Lage einfach nur endgeil war. Mit Franziska hatte er geradezu das große Los gezogen, das durfte er nicht leichtfertig verspielen.
„Wehe, das ist so ein Quatsch, wo sie die Leute anrufen und einen Schmarrn erzählen und nächste Woche läuft das im Radio und ich hab mich hier zum Affen gemacht. Wer sind Sie überhaupt?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Rufen Sie jetzt bitte Sverre an und sagen Sie ihm, er soll sofort kommen.“
„Wohin soll er kommen?“
„Er weiß das schon. 0699 1532078.“
Franziska notierte die Nummer, doch dann hielt sie inne. „Ich muss wissen, worum es geht. Vielleicht sind Sie ja ein Schwerverbrecher und ich mache mich zur Komplizin, wenn ich diesen Sverre anrufe.“
„Ich bin kein Krimineller, verdammt noch mal. Ganz im Gegenteil. Ich versuche ein Verbrechen zu verhindern.“
„Warum dann keine Polizei?“
„Puh. Zum Glück hab ich so eine gute Kondition.“ Er stöhnte genervt. „Also gut, ich bin in der Königlich Norwegischen Botschaft. An der Königlich Norwegischen Botschaft.“
„Darf ich fragen, was Sie dort machen außer an der Dachrinne festzuhängen? Sind wir mit Norwegen im Krieg? Habe ich wieder was verpasst?“
„Ich rette Wale.“
Franziska rollte die Augen. „Klar, das liest man in letzter Zeit überall, dass die österreichischen Wale vom Aussterben bedroht sind.“
„Und Sie? Leisten Sie einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft?“ Jetzt wurde der Kerl auch noch frech.
„Ich rette Menschen. Üblicherweise im Krankenhaus. Jetzt aber grad irgendeinen Idioten, der auf fremden Botschaften herumturnt.“
„Großartig. Ich habe wirklich Glück heute. Ein Gutmensch also. Wären Sie jetzt bitte so freundlich?“
„Ich bin schon freundlich genug, finde ich. Hören Sie, ich hatte Nachtdienst und habe in den letzten zwanzig Stunden so gut wie nicht geschlafen. Ich war so freundlich aus dem Bett aufzustehen. Ich war so freundlich mit Ihnen zu sprechen. Und ich war bisher so freundlich nicht aufzulegen.“
„Ja. Danke.“
„Bitte.“
Es folgte eine Minute des Schweigens. Manchmal ist Schweigen viel kommunikativer als Reden.
„Wie heißen Sie eigentlich?“
„Das tut nichts zur Sache. Sverre weiß schon, um wen es geht, wenn Sie ihn zur Botschaft schicken.“
„Oh nein. So nicht, mein Lieber. Entweder Sie sagen mir jetzt wie Sie heißen, oder Sie bleiben hängen, wo Sie sind. Ich habe keine Lust mich verarschen zu lassen."
„Puh, sind Sie hartnäckig. Also gut, mein Name ist Silberhügl.“
„Gregor Silberhügl? Der berühmte Schispringer? Echt?“
Er stöhnte abermals. „Echt.“
„Boahh, ich werd narrisch! Gregor Silberhügl. Können Sie mir ein Autogramm schicken? Nein, drei lieber, für die Buben auch, bitte. Die werden ausflippen, wenn ich ihnen das erzähle. Wissen Sie, die üben immer Schispringen, vom Couchtisch, und unsere Schiflugweltmeisterschaft findet vom Küchentisch statt, der ist höher. Ich hab ja meine aktive Karriere beendet, seit ich mir den Knöchel verknackst habe dabei, ich bin jetzt Wertungsrichterin. Eine strenge Wertungsrichterin, so wie der Finne. Beim Telemark hapert es nämlich noch arg bei den Buben. Der finnische Wertungsrichter, der war übrigens total ungerecht letztens in Zakopane. Ihre Landung war viel schöner als die von dem Polen, und trotzdem haben Sie nur eine Achtzehn-fünf gekriegt. Aber in Oberstdorf, bist du deppert, der Sprung war grenzgenial, ich hab schon geglaubt, Sie wollen oben bleiben. Und dann der Aufsprung, da hat der Pole die Ohren angelegt. Schade, dass Sie das selbst nicht sehen konnten. Ich muss gestehen, bei der Siegerehrung hab ich geweint. Weinen Sie eigentlich nie, wenn Sie die Bundeshymne hören?“
„Ja. Doch. Sicher. Hören Sie.“
„Ja?“
„Sverre. Würden Sie den jetzt bitte anrufen?“
„Ach ja. Sverre. Der wird sich freuen, wenn ich ihn vom Gregor Silberhügl grüße.“
„Sie sollen ihn nicht grüßen. Sie sollen ihm was ausrichten.“
„Selbstverständlich. Ausrichten. Wird gemacht.“
„Tausend Dank. Und anschließend hier wieder anrufen, geht das?“
„Klar geht das. Geht alles.“
Die Tatsache, dass am anderen Ende der Leitung der beste Schispringer des Landes hing – im wahrsten Sinne des Wortes – beflügelte Franziskas Tatendrang. Es ging um Gregor Silberhügl, die große Goldmedaillenhoffnung für die nächsten Olympischen Spiele. Es ging um Österreich. Land der Berge, Land am Strome, summte sie mit feuchten Augen, als sie die Ziffern in die Tastatur tippte.
„Tuuuut – tuuuut – tuuuut – God dag, Sverre Solskjær.“ Dann folgte ein endloser Monolog in norwegischer Sprache. „Piep.“
„Ja. Grüß Gott. Hier ist Franziska Zapletal. Sie kennen mich nicht und ich kenne Sie auch nicht. Sie werden nicht erraten, mit wem ich gerade telefoniert habe. Mit dem Gregor Silberhügl, dem berühmten Schispringer. Er will mir Autogramme schicken. Aber nicht sofort. Er hängt nämlich an der Botschaft. An der Norwegischen. Wir müssen ihn retten. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie Fragen haben. Wollen Sie auch ein Autogramm?“
Sie nannte noch ihre Telefonnummer. „Beeilen Sie sich. Es ist dringend.“
Franziska wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ganz schön anstrengend und aufregend, das Leben eines Schispringers zu retten. Zum Glück war Silberhügl durchtrainiert und hatte so eine gute Kondition. Und Gott sei Dank war der Gute ein bisschen magersüchtig, ein Sumoringer hätte es da oben bestimmt nicht so einfach gehabt. Sie hatte große Lust, Birgit anzurufen und ihr von dem Abenteuer zu erzählen. Aber das ging nicht. Erstens, weil die Leitung frei bleiben musste für Sverre, zweitens, weil Birgit nicht die Klappe halten konnte. Obwohl – Franziska schloss die Augen. Krankenschwester rettet Sprungstar, sah sie schon die Schlagzeile der Kronen Zeitung, dabei las sie sonst nie die Krone. Und daneben ein großes Foto, von ihr und Gregor Silberhügl.
Als Dankeschön lud er sie natürlich zu den Olympischen Spielen ein. Sie träumte davon, in einem schönen Hotel in Vancouver zu schlafen. Die Betten brauchte sie nicht selber zu machen. Auf der Ehrentribüne saß sie neben dem kanadischen König und nippte am Champagner. Und an Gregors freiem Tag zwischen den Bewerben gingen sie gemeinsam zum Wildlachs-Fischen.
„Ja?“
„Ich bin’s. Die Franziska.“ Unglaublich. Jetzt waren sie schon fast per Du.
„Ja und? Was sagt er?“
„Ich weiß nicht. Es war alles Norwegisch.“
„Norwegisch?“
„Auf dem Anrufbeantworter. Er hat nicht abgehoben.“
„Mist.“
„Ja. Und nun? Soll ich nicht doch die Rettung rufen?“
„Nein. Ich hab keine Lust morgen früh mein Gesicht auf der ersten Seite der Kronen Zeitung zu sehen. Und als Schlagzeile: Schispringer bricht in Norwegische Botschaft ein.“
„Verstehe.“ Er hatte Recht. Keine Sau würde sich für die unbekannte Retterin interessieren. „Ich hab aufs Band gesprochen, dass er mich anrufen soll. Mehr konnte ich nicht tun.“
„Noch mal danke, Franziska. Sie sind netter, als ich erst dachte. Tut mir leid, dass ich vorhin so grantig war. Aber ich häng nicht so oft an Regenrinnen von fremden Ländern.“
„Schon gut, Gregor. Ich muss jetzt auflegen, sonst kann Sverre nicht zurückrufen.“
„Ja. Bitte rufen Sie in einer Viertelstunde wieder an, falls er sich nicht meldet. Ich denk solange weiter nach.“
Sie starrte auf das Mobilteil in ihrer Hand. Los, du blöder Wikinger, ruf endlich an und hilf mir, die österreichische Ehre zu retten. Aber das Telefon in ihrer Hand machte keine Anstalten zu läuten. Deshalb versuchte Franziska es noch einmal. Wieder erzählte die Stimme auf dem Anrufbeantworter ihr eine norwegische Geschichte.
Verdammt. Was sollte sie jetzt tun? Schlafmangel machte nicht gerade erfinderisch. Sie wählte die Telefonnummer, die ihr seit Jahren die vertrauteste war.
Fortsetzung folgt...
testsiegerin - 25. Aug, 18:36
Ein Bett, ein Bett! Gebt mir endlich ein Bett! Das war seit ein paar Stunden der wichtigste Gedanke in Franziskas Gehirn. Dabei war sie die ganze Nacht von Betten geradezu umzingelt gewesen. Fremde Betten, in denen fremde Menschen lagen und fremde Träume träumten. Kranke Menschen, die ihre Hilfe brauchten. Und an jedem dieser Betten befand sich ein magischer roter Knopf, der den Kranken Erleichterung und Franziska noch mehr Arbeit verschaffte.
Um kurz vor sechs waren endlich die Kolleginnen vom Tagdienst eingetrudelt, denen sie mit trockener Zunge von der Nacht berichtet hatte. Angesichts ihrer geistigen Verfassung und des technischen Zustandes ihres Polos war es ein Wunder, dass sie nach den Nachtdiensten stets unfallfrei ihre Wohnung erreichte. Ein Wunder, das die Medaille des heiligen Christopherus am Armaturenbrett seit vielen Jahren vollbrachte.
Sie öffnete die Haustür mit der immer noch gleichen Sehnsucht nach Erlösung: Ein Bett!
Franziska ließ achtlos Mantel und Tasche fallen und fluchte, weil offenbar jemand ebenso achtlos ein Mondfahrzeug hatte fallen lassen, über das sie stolperte. Die Übeltäter hießen Florian und Johannes, waren drei und vier Jahre alt und die Söhne ihrer Lebensgefährtin. Franziska wünschte sich nicht nur in ihr Bett, sie wünschte sich auch so einen magischen roten Knopf wie an den Betten der Patienten, mit dem sie die Kinder mitsamt dem verdammten Weltraumauto auf der Stelle zum Mond schießen konnte. Zu ihrem Glück schliefen sie noch. Und das wollte sie jetzt auch tun.
„Wie war dein Dienst, Franzi?“ Birgit küsste sie auf den Mund, schnitt einen Apfel in Spalten und strich Jausenbrote.
„Scheiße“, kam die erwartete Antwort.
„Ich geh heute mit den Kindern in den Zoo, ja? Dann kannst du ausschlafen und dich ein bisschen erholen.“
„Danke. Aber erst noch duschen. Ich geh so ungern mit dem Krankenhausgeruch am Körper ins Bett. Ich muss schrecklich stinken.“
„Gar nicht stinkst du.“ Birgit strich ihr durch die zerzausten roten Haare.
Franziska genoss das Prasseln des warmen Wassers auf der Haut und wusste irgendwann gar nicht mehr, wie lange sie da unter der Dusche stand. Vermutlich hatte sie zwischenzeitlich schon im Stehen geschlafen. Ihr Kopf hatte sich von der Welt verabschiedet, vermutlich ebenso wie es bei den Patienten der Fall war, denen sie nach der Operation die Infusion mit den Schmerzmitteln anhängte. Ein Bett, kam es ihr wieder in den Sinn. Deshalb stand sie ja unter der Dusche, damit sie sich nicht in fremden und eigenen Ausdünstungen und in Gesellschaft widerwärtiger Krankenhausbakterien in ihren Laken wälzen muss-te. Sie trocknete sich notdürftig ab und ließ das Ba-dehandtuch auf den Boden gleiten. Zum Überstreifen des Schlafshirts fehlte ihr die Kraft, also kroch sie nackt und dampfend unter ihre Decke.
Schwer sank ihr Kopf ins Kissen und die Augen fie-len augenblicklich zu. Ihre Füße brannten und hin-derten sie daran, den letzten Schritt ins Reich der Träume zu tun. Ich hab die Patientendokumentation von der Diabetikerin mit dem amputierten Fuß nicht fertig geschrieben, meldete sich ihr Schwesterngehirn zurück. Mitten im Satz hatte das Telefon geklingelt, irgendwelche Angehörigen, die eine Auskunft wollten. Mit Sicherheit hatte sie auch noch andere Dinge vergessen. Solche Gedanken waren ihr zwar mittlerweile vertraut, hinderten sie aber nach wie vor am Einschlafen. Erneut sehnte sie sich nach einem magischen roten Knopf, der auf Druck alle quälenden Gedanken aus ihrem Kopf absaugte und ihn leer machte.
„Ich bin müde“, redete Franziska auf sich ein. „Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Mein linker Arm wird ganz schwer.“ Ihre Fähigkeiten zur Autosuggestion waren seit jeher begrenzt. Schon in jungen Jahren war es ihr nicht gelungen, die Stimmen der Verstorbenen zu hören, wenn sie mit ihren Freundinnen am großen runden Tisch saß und deren Geister anrief. Und doch hatte ausgerechnet sie sich jahrelang eingeredet, dass sie in einen Mann verliebt war. Um ein Haar hätte sie ihn geheiratet. Bei Birgit waren sogar vier Jahre Ehe und die Geburt zweier Kinder vergangen, bevor ihr endgültig klar wurde, dass sie lesbisch war.
War jetzt ihr linker Arm schon schwer oder der rechte? Gab es wirklich Leute, die sich mit diesem Blödsinn entspannen und dabei sogar in Tiefschlaf fallen konnten?
„Heeeeyyyy!“ Tapptapptapptapptapp. Aha. Auch Johannes hatte seine Träume offensichtlich ausge-träumt.
„Meine Ohren sind stocktaub und meine Großhirn-rinde wurde vollständig narkotisiert“, versuchte sie es ein verzweifeltes letztes Mal, als die Schlafzim-mertür aus den Angeln gesprengt wurde.
„Spider-Määään!“ Spinnenmann Florian landete wie ein besonders fettes kurzbeiniges Exemplar dieser Gattung auf ihrem Bett. Die Kinder sahen eindeutig zu viel und zu spät Fernsehen.
Was nützte es, dass Franziska sich vor Jahren ganz bewusst für ein selbstbestimmtes Leben und gegen eigene Kinder entschieden hatte? Wenn sie jetzt tat, wonach ihr zumute war, nämlich einen hysterischen Schreianfall kriegen und wütend und hilflos um sich schlagen, dann bedeutete das stundenlange Diskussionen mit Birgit über die Erziehung. Also durchatmen, „macht nichts, ich hab ohnehin noch nicht geschlafen“ murmeln, durch Kinderköpfe strubbeln und mit ernster Miene sagen: „Ab sofort seid ihr Indianer vom Stamm der Cherokee, schleicht auf Fuchspfoten durchs Haus und achtet darauf, dass kein Laut in mein Tipi dringt. Und steckt die Hände nicht wieder in den Bärenkäfig, sonst sind sie ab.“
„Was sind Cherokee-Indianer? Erzähl uns was von denen!“
Franziska versuchte ein Lächeln und schluckte ihre Ohnmacht hinunter. Vielleicht sollte sie der Ohn-macht eine Schlaftablette hinterher werfen.
Ein Gähnen aus tiefster Seele gab ihr die Gewissheit, dass die Müdigkeit noch immer da war und ein Schlafmittel pure Verschwendung gewesen wäre. Sie legte sich auf den Bauch und genoss ihre nun immer tiefer werdenden Atemzüge.
„Die schnarcht ja“, stellte der Cherokee Florian mit dem Ohr an der Tür fest, aber das hörte Franziska schon nicht mehr.
Sie schlief jetzt tief und fest, nur ab und zu stram-pelte sie mit den Beinen, weil sie den Patienten mit den frischen Hüftoperationen im Traum eine Bettpfanne bringen musste. Wenig später bretterte sie mit einem roten Cabrio über die kurvenreiche Landstraße. „Abseits“, schrie ihr Ex-Mann vom Straßenrand. „Abseits ist, wenn...“, begann sie zu dozieren, „... wenn das Telefon klingelt.“
Franziska wachte auf und schaute sich verwundert im Zimmer um. Wie spät war es nur? Und wer war so verrückt, mitten am helllichten Tag anzurufen? ...
Fortsetzung folgt
testsiegerin - 24. Aug, 22:03
... oder Wie das A. in meinen Namen kam
Es war einmal ein Mann, der war mein Urgroßvater. Er war ein armer russisch-jüdischer Fischer, der nie auch nur einen Fisch gefangen hat im Bajkalsee. Nur einmal, es war in einer kühlen Novembernacht und am Himmel stand der abnehmende Mond, da hatte er ein A im Netz, an dem hing ein Punkt dran. Ein einzelnes, einsames A Punkt. Er schenkte es seiner Frau zum Geburtstag, einer ebenso verarmten, aber übergewichtigen Malerin, die bei zunehmendem Mond Tag und Nacht aß, hauptsächlich Borschtsch. Bei abnehmendem Mond aß sie auch, aber nur tagsüber, nachts malte sie den abnehmenden Mond. In ihrem ganzen Leben hat sie kein einziges anderes Motiv gemalt und in ihrem ganzen Leben hat sie kein einziges Bild verkauft, weshalb das russisch-jüdische Paar arm blieb.
Sofia Schoschanah Serajofowitschova knallte ihrem Mann das A. wütend an den Kopf. "Was ich mache mit so a A., du Paßkudnjak, du Schurke?", kreischte sie, "hättest du wenigstens a S. gefangen, oder noch besser zwei A und ein L, weil Aal hätten wir können essen! Und überhaupt, hat meine Name eh viele Buchstaben, bin ich gestraft genug damit, brauch ich net noch a A. Warum du mir nicht schenken schönes Ring aus Gold? Was ich mache mit so ein lächerliche A.?"
Traurig steckte Ibrahim Serajofowitsch das A. in ein schmuckes Schmuckkästchen und bewahrte es dort viele Jahre auf. Nach seinem Tod erbte es seine jüngste Tochter Chenia, aber auch die wollte das A. nicht. Sie fand abgekürzte Buchstaben im Namen einfach dämlich, so dämlich wie romantische Geschichten über verarmte Fischer und Malerinnen bei und von abnehmendem Mond.
Nach dem Tod meiner Großeltern überreichte der Notar mir mit einem anzüglichen Lächeln das Schmuckkästchen. Schmuck war keiner drin, den hatten meine habgierigen Verwandten sich schon unter den Nagel gerissen. Nur ein einsames, trauriges, ein wenig verstaubtes A. lag auf dem samtigen Boden der Schatulle.
Aus Mitgefühl und zu Ehren meiner verarmten russisch-jüdischen Vorfahren nahm ich den Buchstaben heraus, pustete den Staub von ihm und steckte ihn zwischen meine beiden Namen.
"Das A. steht für Ambivalenz", sage ich, "oder für Anzüglichkeit, Attraktivität, Abenteuer, Angst, je nachdem."
Manchmal steht es aber einfach auch für Anna. Und vielleicht war die Geschichte vom A Punkt eine ganz andere. Aber das ist eine andere Geschichte.
testsiegerin - 21. Aug, 10:22
Ich hatte viel vor in meinem Urlaub. Das Schlafzimmer neu ausmalen, in einem mediterranen Orangeton, die Türen streichen, in einem polaren Weißton, schreiben, in wortgewaltigem Sprachton, Manuskripte an Verlage schicken, Werbung für Femmes frontales machen und Wellnesshotels anrufen (nicht um dort Urlaub zu machen, sondern um dort aufzutreten), Knöpfe wollte ich annhähen und meine Texte ordnen, ein paar neue Hefte für die Lesungen binden, Sport betreieben, den Keller aufräumen und lauter so unheimlich sinnvolle Sachen wollte ich tun.
Geschrieben hab ich wenig. Was soll man auch schreiben, wenn das aufregendste, das man tagsüber erlebt, ein Gespräch mit dem Bäcker ist? Was soll man erzählen, wenn man keinen Stress hat, sondern mit den Kindern am Lagerfeuer sitzt und Kukuruz brät? Was soll man schreiben, wenn einem nicht mal speckessende, fleischallergische Vegetarier oder solche, die mein Schnitzel als „verwesendes Leichenteil“ verunglimpfen, das Leben schwer machen?
Ein Wellness-Hotel hab ich angerufen. Als die gesagt haben, sie haben kein Interesse, setzte ich mich mit einem Glas Prosecco traurig in den Garten und beschloss, mir so eine Schmach kein zweites Mal anzutun. Deshalb hab ich auch keine Manuskripte an Verlage geschickt. Ich bin für Niederlagen einfach nicht geboren. Keine Ahnung, warum sie trotzdem immer wieder ungebeten eintreten.
Keine einzige Wand hab ich gestrichen, denn erstens hab ich die Farbe nicht gefunden und außerdem war ich nach dem Aufräumen des Schlafzimmers völlig erschöpft. Mein Sohn hat mir dabei keine Pausen gegönnt.
Sport hab ich nicht getrieben. Entweder war das Wetter schlecht oder der Boden matschig oder Besuch da. Zwar keine Niederlagen, aber mein innerer Schweinehund lümmelte auf der Couch rum und wollte, dass ich ihm Gesellschaft leiste. Leider war er grad auf Urlaub, als ich im Hochseilgarten war. Da hat er seinen Kusin, den Ehrgeiz vorbeigeschickt.
Ich musste mich über fast nichts ärgern, außer über den Mann und das Wetter, aber beides kann ich nicht ändern, weshalb das Ärgern irgendwie nur kostet und nichts bringt und ich beschlossen habe, lieber in Gummistiefel und Gelassenheit zu schlüpfen.
Keine Termine, keine drohenden Schularbeiten, sogar mein Auto sprang an, wenn ich es gebraucht hab.
Der Keller ist noch immer nicht aufgeräumt. Aber seien wir mal ehrlich, welcher Besuch geht schon in den Keller und sieht dort nach, ob aufgeräumt ist? Nicht mal meine Mutter hätte das gemacht.
Was ich getan hab in den letzten Wochen? Lang geschlafen, in die Wolken geschaut (da gab es viel zu schauen), Schmuck geschmiedet, Katzen gestreichelt, Eis gegessen, das Lektorat für die Masterthese einer Freundin gemacht, damit sie nicht nur ein Mag. vor dem Namen, sondern auch ein Master of Science nach dem Namen hat, Schwammerl gesucht und gefunden, eingekauft und an der Kassa Kindern, alten Damen und jungen Männern den Vortritt gelassen, gekocht, Kräuter gepflanzt, Tomaten gepflanzt, Unkraut gezupft, Hecken stümperhaft zurückgeschnitten, Kräuter geerntet (das Kräutergießen wurde mir von oben abgenommen), Tomaten gegessen, gekocht, gepuzzelt, gespielt, im Internet gesurft, gebacken, gelesen, Diskuswerfen, Tischtennis und Synchronschwimmen geschaut.
Ja, mich hat die Muße geküsst, nicht die Muse. Ein orthographischer Irrtum mit Folgen.
Ich war nicht tüchtig in meinem Urlaub. Ich habe nichts geschafft. Vielleicht war das gut so.
"Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen"
(Oscar Wilde, Der Sozialismus und die Seele des Menschen)
testsiegerin - 20. Aug, 19:24
Lieber Otto,
seit gestern bist du also Asche. Ich mag dir trotzdem noch ein paar Worte sagen, auch wenn du sie nicht mehr hörst, aber solche Abschiede sind ja immer mehr was für die, die bleiben als für jene, die für immer gehen.
Du sitzt vielleicht eh grad mit einem Glas Wein am Lagerfeuer, zum ersten Mal seit langem ohne Schmerzen, ohne dieses blöde Geschwür in deinem Bauch, und freust dich daran, die Ebenen gewechselt zu haben. Ich werd jetzt ein Glas auf dich trinken. Prost, Otto.
So richtig gut kannte ich dich ja gar nicht, aber muss man Menschen so richtig gut kennen, um sie gern zu haben? Gestern an deinem Sarg hätte ich gern laut „Pfiat di, Otto, danke, dass du da warst“ gesagt, aber natürlich versagte meine Stimme und ich hab nur geschwiegen und mir ein paar Tränen aus den Augen gewischt.
Man sagt ja, dass in Österreich die Steigerung von Feind „Parteifreund“ lautet, aber für dich galt das nicht. Dir ist es nie darum gegangen, in der ersten Reihe zu stehen, du hast dich nicht wichtig gemacht, obwohl du wichtig warst, nicht nur als Bezirskgeschäftsführer, sondern vor allem als Mensch.
Ich werde dich vermissen bei unseren Sitzungen, Otto. Meistens waren wir ja der gleichen Meinung, aber während mich manche Einstellungen unserer Genossen wütend und zornig gemacht haben, bist du gelassen geblieben. Das hab ich bewundert an dir, wie du zu deiner Meinung gestanden bist, aber immer auch das Andere gelten lassen hast. Weil du nicht die Menschen ändern wolltest, sondern ihre Lebensbedingungen.
Verdammt, warum musstest du schon abhauen, du warst doch noch nicht mal fünfzig. Only the good die young, sagt man, aber das ist natürlich auch ein Schwachsinn, weil erstens die Bösen oft genauso früh sterben, weil man mit 49 auch nicht mehr sooo jung ist und weil drittens eh niemand genau sagen kann, wo die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft.
Die Welt ist voller Leiden, stand auf deinem Partezettel, aber auch voller Möglichkeiten Leiden zu überwinden. Deine eigenen hast du jetzt überwunden, indem du dich aus dem und zu Staub gemacht hast, für die Leiden der anderen Menschen hast du dich immer mit deiner ganzen Kraft und Liebe eingesetzt. Für dich waren sozialdemokratische Werte nicht nur sozialdemokratische Worte, sie waren dir ein Herzensanliegen, vor allem die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Vielleicht, weil du selbst immer jung geblieben bist und es in deinen Augen immer so frech geblitzt hat.
Ein paar deiner Genossen waren gestern im roten SPÖ-Shirt beim Begräbnis. Manche der anderen Gäste haben den Kopf geschüttelt, aber dir hätte das getaugt, Otto, hab ich Recht? Dir war nämlich das Innere immer wichtiger als das Äußere.
Zurzeit bin ich – wie viele ÖsterreicherInnen – ziemlich sauer auf die Partei. Den Hut aber, den hau ich nicht drauf. Den ziehe ich vor Menchen wie dir, vor Menschen, welche die sozialdemorkatische Idee jeden Tag mit Leben füllen, die zeigen, dass sich Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung noch lange nicht überlebt haben und wichtiger sind denn je. Menschen wie du geben mir die Kraft weiterzumachen. Und die Zuversicht, dass es sich lohnt.
Pfiat di, Otto. Danke, dass du da warst.
Freundschaft.
Barbara
testsiegerin - 15. Aug, 15:58