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Freitag, 3. Oktober 2008

Mit Abstand besser

Die Welt um mich herum ist so laut. Oder sind es die Kinder, der Fernseher, das Klavier, die Musik, die Sekretärin, mein Herzklopfen, die wirren Gedanken? (Zutreffendes bitte ankreuzen)
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Die Antidepressionslampe ist wieder ausgepackt und hat ihren Winterbetrieb aufgenommen, denn die saisonal abhängige Depression, kurz Herbst-Winter-Depression genannt, ist pünktlich angekommen. Dafür ist die Kollegin weg. Ausgebrannt. Wie mein Konto. Ich werde es bestrahlen. Das Konto, nicht die Kollegin.

Vielleicht übernimmt ja die Regierung die Haftung für meine Kredite. Ich werde mal mit denen reden und sie darüber abstimmen lassen. Meine Schulden sind Erdnüsse im Vergleich zu den Meteoriten der internationalen Bankenkrise. Niemand kann mir sagen, ob meine Kredite sich ebenso in Luft auflösen wie die Aktiengewinne, wenn die Bank kracht.
Aber keine Sorge, ich schreibe nicht über meine Sorgen. Sonst kriechen die anonymen Leser mit ihren ausgestreckten anonymen Zeigefingern wieder aus ihren Löchern und sagen mir, dass ich selbst Schuld an meinen Schulden bin und sie gefälligst nicht damit belästigen soll.
Haben wir eigentlich grad eine Regierung? Kriegen wir eine? Brauchen wir eine?
Wir hatten eine Wahl. Warum hab ich trotzdem oft das Gefühl, keine Wahl zu haben?

Es geht mir gut. Meistens. Draußen ist es nass und kalt, aber im Ofen liegt trockenes Holz und der Kühlschrank ist voll mit billigen Nahrungsmitteln. Außerdem hab ich mir diese Woche ohnehin so richtig den Bauch mit hochwertigen, biologischen Speisen vollgeschlagen in dem schönen Hotel inmitten der oberösterreichischen Kalkalpen. Nein, ich muss Sie enttäuschen, anonymer Leser, ich hab mein überzogenes Konto nicht für einen überzogenen Urlaub noch weiter überzogen. Ich hab gearbeitet und angehende Teamleiterinnen ausgebildet. Gemeinsam mit einem Trainer, neben dem ich mir dumm und ahnungslos vorgekommen bin, weil er so klug und ahnungsvoll war. Das Gefühl hat nicht er mir gegeben, sondern ich hab es mir genommen. Freiwillig. Warum? Weil ich mich so gern in Selbstmitleid suhle. Ich weiß, das klingt pervers für eine Rampensau wie mich. Ist es auch.

Einiges auf der Welt läuft schief, vor allem in Österreich. Jugendliche wählen die FPÖ. Weil sie cool ist. Jugendliche leben zunehmend pragmatischer und angepasster, haben sie heute im Radio gesagt. Möglichst schnell wollen sie Karriere machen. Rebellion und Gesellschaftskritik sind ihnen fremd geworden.
Verdammt noch, müssen wir alles selber machen? Früher mal, als ihr euch noch blöd aufgeführt habt, liebe Kids und Teens, wie es sich gehört, früher, als sie die Köpfe geschüttelt haben über die "Jugend von heute", da hab ich euch verteidigt und gemeint: Die Aufgabe der Jugend ist die Rebellion. Und ihr habt verstanden: Die Aufgabe der Jugend ist es, brav zu sein, möglichst wenig nachzudenken und rechte Parteien zu wählen, wiel sie gratis Bier ausschenken und über Ausländer schimpfen.
Ja, ich weiß schon: Wenn du wissen willst, was du gesagt hast, frag die, die dich gehört haben. Das ist auch so ein schöner Satz, den ich von dem Seminar mit nach Hause genommen hab. Der schönste aber war: Bitte nicht helfen, das Leben ist auch so schon schwer genug.

Zurück zur Jugend ohne Rebellion. Ganz schön wütend macht mich das, obwohl die Aufgabe von Leuten in meinem Alter nicht die Wut, sondern die Gelassenheit ist.

Warum ich den ganzen Scheiß hier schreibe?
Weil mir nichts anderes einfällt. Weil das Leben mich oft zornig, ratlos, ohnmächtig und verwundert zurücklässt. Damit ich überhaupt etwas schreibe, weil meine Phantasie am Abend meistens lang vor mir einschläft und ungehalten wird, wenn ich versuche sie zu wecken. (Zutreffendes bitte ankreuzen) xxx

Mein Neuer heißt übrigens Lupo und ist natürlich nicht neu, sondern gebraucht. Das tut aber nichts zur Sache, denn auch ich bin nicht neu, sondern verbraucht. Wir passen gut zusammen, glaub ich.

Am Montag fahr ich wieder weg. Diesmal leite ich nicht, sondern lasse mich leiten.
„Mit Abstand besser“ heißt das Seminar, an dem ich teilnehme. Ich hoffe, was ich schreibe, wenn ich wieder da bin, wird mit Abstand besser.

Montag, 22. September 2008

Rolle vorwärts - Der Film

Vielleicht erinnert ihr euch ja noch an das Theaterstück für Jugendliche, das ich geschrieben hab und das diese im Rahmen eines Theaterworkshops im Sommer einstudiert und aufgeführt haben.

http://barbaralehner.twoday.net/stories/5054121/

Hier sind die wichtigsten Szenen auf Video.

teil 1: http://de.youtube.com/watch?v=7eKNYN75C7Y
teil 2: http://de.youtube.com/watch?v=A5qZxnJJtZQ
teil 3: http://de.youtube.com/watch?v=Hg7DsuDK0NU
teil 4: http://de.youtube.com/watch?v=W803m2GAVJg
teil 5: http://de.youtube.com/watch?v=iSjrcuKPNtg

Das Ende ist leider nicht dabei, weil da das Band aus war.
Ich hoff, ihr kriegt trotzdem ein bisschen einen Eindruck, wie super die Jugendlichen waren.

Sonntag, 21. September 2008

Danke Köln

"Diese braunen Biedermänner sind in Wahrheit Brandstifter, Rassisten im bürgerlichen Zwirn, subtile Angstmacher... Dieser verfaulten Clique des Eurofaschismus, diesen Haiders und Le Pens und wie sie alle heißen, rufe ich zu: Da ist der Ausgang, da geht's nach Hause!"

Diese Worte stammen nicht von irgendeinem sogenannten linkslinken Chaoten, sondern vom schwarzen Bürgermeister der Stadt Köln.
In Köln jagen sie die rechten Recken mit nassen Fetzen zur Stadt hinaus. Taxifahrer bringen sie nicht zum Veranstaltungsort, Hoteliers stornieren die Buchungen, als sie erfahren, um welche Gäste es sich bei den Besuchern handelt. Kölner Wirte sagen: Kein Kölsch für Nazis!

In Österreich versuchen die Schwarzen, die Rechten mit ihren Wahlplakaten rechts zu überholen. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass sie bei diesem Überholmanöver im Graben landen.
In Österreich kriegen die Haiders und Straches 25 Prozent der Stimmen.
In Österreich fordern die Blauen, die unter ihren Designeranzügen braun sind, diese Rassisten im Zwirn, die Aufhebung des Verbotsgesetzes und plädieren für das Recht auf freie Meinungsfreiheit, treten aber massiv gegen die Freiheit der Religionsausübung auf (es sei denn, es handelt sich um Katholizismus) und schüren Ängste und Vorurteile.

Toleranz gegen Intoleranz ist gefährlich und zum Scheitern verurteilt.

Wien darf nicht Chicago werden, stand vor ein paar Jahren auf einem Plakat der FPÖ.
Wien muss Köln werden, sage ich.
Ok, den Rhein und den Kölner Dom dürft ihr behalten, wir haben die Donau und den Stephansdom. Aber ein bisschen von eurer Zivilcourage hätten wir gern.

Danke Köln

Donnerstag, 18. September 2008

Endlich frei

... ist der Titel meiner nächsten Lesung (anlässlich des Scheidungsfestes der Frau, die uns engagiert hat).



Endlich frei, zwitscherte der kleine Vogel, als er aus dem Nest fiel.

Endlich frei, grummelte die greise Frau und warf dem grantelnden Gatten ein Schäuferl Erde ins Grab.

Endlich frei, zischte die Luft und entwich aus dem geplatzten Autoreifen.

Endlich frei, warf der Millionär die Geldscheine in die Menge und fühlte sich leicht und leer.

Endlich frei, strahlte die Sekretärin, nachdem sie ihrem Vorgesetzten ins Gesicht gespuckt hatte.

Endlch frei, freute sich die Mutter, als sie auf den Köpfen ihrer Brut keine Laus mehr entdeckte.

Endlich frei, brüllte der Nierenstein, der tagelang im Harnleiter eines jammernden Patienten eingeklemmt war.

Endlich frei, wieherte das Pferd, das den Marlboro-Mann abgeworfen hatte.

Endlich frei, dachten viele Menschen am 15. Mai 1955 vor dem Rundfunkempfänger.

Endlich frei, seuftze der kleine Junge mit zusammengepressten Beinen und Bauchweh, als die Klotür aufging.

Endlich frei, sagte König Ödipus und löste die Strumpfhose vom Hals seiner Mutter.

Endlich frei, rief Lukas Podolski, nachdem er die Bayern verlassen hatte.

Endlich frei, meckerten die sechs Geißlein, als dem Wolf der Bauch aufgeschlitzt wurde.

Endlich frei, blubberte der Fisch, als sein Wasserglas zersprang.



Endlich frei, sagte Susi, als sie die Scheidungspapiere unterschrieb.


...to be continued by you.

Dienstag, 2. September 2008

Donnerstag II

Herr Ahorn tröstete Frau Ahorn, die natürlich nicht seine Frau, sondern eine zufällige Bettgenossin war, mit einem zärtlichen Kuss. Mensch, sind die peinlich, dachte Jasmin. Sollte Ole versuchen sie zu küssen, würde sie ihm eine knallen. Aber der hatte ohnehin keine Zärtlichkeiten im Kopf, sondern nur den Sieg. Er wärmte sich gerade für die nächste Frage auf.
„Bett heißt auf Französisch lit, auf Spanisch cama, im Schwedischen säng und auf Italienisch litto. Und in Finnland vuode.“
„Sehr interessant, aber hör dir erst mal die Frage an.“
„Welche dieser drei Persönlichkeiten starb nicht im Bett? Idi Amin, Benito Mussolini oder Franco?“
„Ha!“, rief Ole aus. „Doc Hollywood starb im Bett. Das stand sogar auf seinem Grabstein, weil es so außergewöhnlich war, dass ein Revolverheld auf diese dramatische Weise ums Leben kam.“
„Du bist mir auch ein Held“, flüsterte Jasmin. Sie hielt zwar Idi Amin für einen schwarzen Rapper und Franco hieß der Friseur gegenüber, und der lebte noch, aber wenigstens hin und wieder hatte sie im Geschichtsunterricht aufgepasst. „Mussolini wurde standrechtlich erschossen“, sagte und schrieb sie und hielt so den Anschluss zu den Nussbäumen.

„In wessen Armen liegt man redensartlich, wenn man schläft?“
Jasmin umklammerte die Tafel und notierte Orpheus. Der Klugscheißer neben ihr sollte bloß nicht denken, dass sie von griechischer Mythologie keine Ahnung hatte.
„Bist du sicher?“ Ole sah sie überheblich an.
„Ganz sicher.“
„Orpheus ist der Sohn von Apollon, dem Gott der Musik, und der Muse Kalliope. Wenn er auf seiner Lyra spielte, dann sollen die Felsen geweint haben.“
„Mein Opa weint auch, wenn ich Klavier spiele. Schad’ ums Geld, sagt er dann immer. Er bezahlt meine Übungsstunden.“
Unmittelbar bevor der Gong ertönte, setzte Ole ein M vor Jasmins Antwort, und aus Orpheus wurde Morpheus.
„Morpheus ist der Gott des Traumes und Sohn des Hypnos, dem Gott des Schlafes.“
„Morpheus und Orpheus verwechsele ich immer. So wie Hanni und Nanni.“
„Wer sind Hanni und Nanni?“
Auch wenn sie sich soeben noch für den Orpheus geschämt hatte, hätte sie Ole jetzt am liebsten angebrüllt, weil sie das Gefühl hatte, dass er sie veralberte. Jedes Kind kennt Hanni und Nanni, aber dieser Typ schien bereits erwachsen auf die Welt gekommen zu sein.

„Wer geht ohne Krimi nie ins Bett?“
Das war natürlich die Mimi, aber die lief bei Ole Leander auch unter der Rubrik Hanni und Nanni, also musste Jasmin diesen Punkt sichern.
„Und jetzt streng dich an, Kleine“, raunte Ole ihr zu, „es geht um die Bettwurst. Es steht nämlich zehn zu neun für die anderen.“
„Ich streng mich schon die ganze Zeit an“, zischte Jasmin böse zurück. „Ohne mich würdest du nämlich noch immer über die spanischen Königshäuser schwafeln.“
Ole hielt ihr die Hand hin. „Frieden?“
„Jepp.“

Um Frieden ging es auch in der nächsten Frage: „Welches berühmte Paar warb mit sogenannten Bed-Ins für den Weltfrieden?“
„Zeus und Hera bestimmt nicht. Vielleicht ja Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir?“, schlug Ole vor, aber Jasmin schüttelte energisch den Kopf. Sie schrieb schon, während sie sagte: „Einmal darfst du noch raten.“ Er sollte ruhig auch einmal so blöd dastehen wie sie.
„Tristan und Isolde?“
„Du bist echt ahnungslos. Vielleicht solltest du dich nicht nur hinter deinen Büchern verkriechen, sondern mal ins richtige Leben begeben?“
Ole zog es vor zu schweigen. Es war nicht das erste Mal, dass jemand ihm diesen Rat erteilte.

„Oh je“, seufzte Herr Huber und Jasmin zuckte zusammen. War ihre Antwort etwa falsch?
„Ich muss das Paar Nussbaum enttäuschen. Siegfried und Roy waren es leider nicht. Der Punkt geht an die Birnen. John Lennon und Yoko Ono warben im Bett für den Weltfrieden.
„Nochmal jepp.“
Die Ahörner lagen noch immer bei drei Punkten, aber das schien ihnen egal zu sein, denn sie warben unter der Daunendecke für ihren ganz persönlichen Frieden.
„Wer liegt auf Spitzwegs berühmtem Bild im ärmlichen Bett mit einem Regenschirm darüber?“
Bei Kunst und Kultur überließ Jasmin gern Ole die Schiefertafel und ersparte sich in diesem Fall eine erneute Blamage, wäre ihre Antwort doch statt Der arme Poet fälschlich Der arme Prolet gewesen. Orpheus und Morpheus. Hanni und Nanni. Daran musste sie in Zukunft unbedingt arbeiten, wenn sie nicht ständig rote Ohren bekommen wollte.
„Elf zu elf!“ Edwin Hubers Stimme überschlug sich vor Aufregung. „Die nächste Frage könnte die Entscheidung bringen. Oh... das ist wirklich eine echte Championfrage. Wer schrieb 1848 Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett?“
Das Paar Ahorn kannte sich ohnehin besser im als unter dem Bett aus, aber auch das Paar Nussbaum war diesmal völlig ahnungslos. Erwartungsvoll blickte Jasmin ihren Bettgenossen an.
„Mist. Ausgerechnet jetzt habe ich einen Blackout“, zerstörte Ole all ihre Hoffnungen, schrieb dann aber Fjodor Michailowitsch Dostojewski auf die Tafel. „Jetzt wäre mir doch fast der zweite Vorname nicht eingefallen.“
Auch auf der Tafel der Nussbaums stand ein russischer Schriftsteller, und ihnen waren ebenfalls beide Vornamen eingefallen. Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Fragend schaute Jasmin zu Ole, der plötzlich ganz unsicher wirkte. Auch die Menschen draußen hatten keine einheitliche Meinung, sondern diskutierten angeregt miteinander oder zuckten ratlos die Achseln. Einige plädierten für Puschkin oder Gorki, aber das konnte man drinnen ohnehin nicht verstehen.
„Bevor wir die Lösung bekannt geben, möchten wir Ihnen gerne eine Neuheit in unserem Möbelhaus präsentieren. Die Orthopädische Antistress Waterlattex Biotherm Matratze, die Königin unter den Biomatratzen ...“
Jasmin hasste Werbeunterbrechungen und hätte Herrn Huber am liebsten den Stecker herausgezogen.
„Unsere Kandidaten sind zugleich die ersten Testpersonen dieser Neuheit auf dem Matratzenmarkt“, verkündete er stolz und wollte ausgerechnet vom Paar Ahorn wissen, wie es sich darauf anfühlte. Die Beiden steckten kurz den Kopf unter der Decke hervor, gurrten „Hmmmm... guuuuuut“ und zogen sich wieder zurück.

Dann kam die Auflösung. „Es handelt sich um einen russischen Schriftsteller.“ Jasmin und Ole atmeten schwer. „Er wurde in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geboren“, fuhr Huber fort.
„Und? Ist das unserer?“ Sie zupfte Ole am Ärmel seines Pyjamas.
„Das sind sie beide.“
„Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend“, flehte Jasmin.

Fortsetzung folgt...

Donnerstag - Die Aufgabe

Jasmin Käfer hatte nicht viel von ihrem Großvater geerbt, nicht einmal den Nachnamen. Und jetzt lag sie mit einem wildfremden Kerl in einem wildfremden Bett. Der wildfremde Kerl hieß Ole Leander, Student der Altsemitischen Philologie und der Raumfahrttechnik. Das wildfremde Bett gehörte Edwin Huber, Seniorchef der Firma Schlafmöbel Huber. Heute auf den Tag genau vor hundert Jahren hatte sein Urgroßvater Adolf Huber die Firma gegründet. Aus Adolf Huber war nach dem Krieg A. Huber und nach dessen Tod einfach Huber geworden. Schlafmöbel Huber.

Es war nicht die Liebe, die Ole Leander und Jasmin gemeinsam ins Bett getrieben hatte, sondern die nackte Gier. Fünftausend Euro waren schließlich nicht zu verachten, wenn man jung war und das Geld brauchte. Soviel bekam nämlich der Gewinner des Wettbewerbes Ein Tag im Bett, den die Firma Huber zu ihrem hundertjährigen Jubiläum veranstaltete. Zwei andere Paare lagen in zwei weiteren Betten im Schaufenster des traditionsreichen Möbelhauses. Sie waren zuvor als Teilnehmer aus- und als Paare zusammengelost worden.
„Jasmin und Oleander, das klingt hübsch“, hatte Jasmin gescherzt, als sie einander vorgestellt wurden.
„Ole Leander“, hatte Ole Leander sie etwas beleidigt verbessert. Sie war offensichtlich nicht die erste, die mit seinem Vornamen Schabernack trieb.
Er war ohnehin etwas gereizt, denn so früh stand er sonst nicht auf. Eigentlich nie vor zwölf. Aber was tut man nicht alles für Geld? Sie hatten noch den fünfseitigen Vertrag unterschreiben und sich damit einverstanden erklären müssen, dass das Möbelhaus ihre Fotos für Werbezwecke benutzen durfte, für eventuell auftretende Verletzungen jedoch nicht haftete. Jasmin hatte zusätzlich die Unterschrift ihrer Eltern benötigt, da sie noch minderjährig war. Dann wurden ihnen feierlich geschmacklos karierte Flanellpyjamas ausgehändigt, die die Erotik jener Zeit ausstrahlten, als das Möbelhaus noch Adolf Huber hieß. Mit den Worten „Ich schlafe aber nackt“, hatte Leander Entsetzen in Jasmins Gesicht gemeißelt. Zu ihrer Erleichterung gehörte das Tragen der Schlafanzüge zu den vertraglich geregelten Vereinbarungen.
Nun lagen die Beiden in einem Doppelbett aus gewachster Birne und warteten. Pünktlich um neun gingen die Rollläden hoch und die ersten Zuschauer drückten sich am Schaufenster die neugierigen Nasen platt.
„Muss man Betten aus gewachster Birne erst schälen, bevor man hineinbeißt?“, versuchte Jasmin erneut das Eis zu brechen.
„Birnbaumholz ist ein besonders formstabiles Holz. Grund dafür sind die so genannten Steinzellen, die im Holz filzartig verflochten sind. Deshalb lässt es sich auch hervorragend schnitzen. Wegen seiner geringen Dauerhaftigkeit kann es aber nur für den Innenbereich genutzt werden.“
Immerhin hatte er geantwortet, wenn auch nicht auf der gleichen Wellenlänge. Der Typ war ja ein wandelndes Lexikon, da hatten sie gute Chancen, das Quiz zu gewinnen.

„Ich erkläre Ihnen jetzt die Spielregeln.“ Edwin Huber überreichte jedem Paar ein Stück Kreide und eine Schiefertafel. Das Computerzeitalter war ohne Zweifel an der Schlafmöbelindustrie vorbeigegangen.
„Sie haben für jede Frage eine Minute Bedenkzeit, dann ertönt ein Gong und Sie halten bitte die Tafel mit der hoffentlich richtigen Antwort in Richtung der Zuschauer vor dem Schaufenster. Das Paar, das zuerst zwölf richtige Antworten hat, ist Sieger. Aber bevor es losgeht, servieren wir Ihnen noch ein köstliches Frühstück im Bett!“

Das köstliche Frühstück entpuppte sich als eine Mischung aus trockenen Semmeln, Butter, Marillenmarmelade und dünnflüssigem, durchsichtigen Kaffee.
„Ich hab schon gefrühstückt“, log Jasmin, „außerdem kann ich Brösel im Bett nicht leiden. Vergiss nicht, dass wir hier den ganzen Tag verbringen.“
„Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken.“
„Ich muss eh nicht alles wissen.“
„Wenn du die 5.000 Euro gewinnen willst, dann schon. Komm, lächle, wir werden fotografiert“, Ole biss in die Semmel und auf einmal strahlte er wie ein Hutschpferd, „die Frau da draußen, neben dem Typen von der Presse, das ist meine Oma.“ Er winkte und Oma Leander winkte begeistert zurück. Jasmin biss sich nur auf die Lippen und strahlte nicht. Fotograf. Presse. Hoffentlich kamen nicht zufällig Klassenkameraden vorbei, oder ihr Klassenvorstand. Aufgrund eines Todesfalles in der Familie kann Jasmin am Donnerstag nicht am Unterricht teilnehmen, hatte ihre Mutter ins Mitteilungsheft geschrieben.
Ganz gelogen war das nicht, denn schließlich war gestern der Dackel ihres Großvaters gestorben.
Während sich Ole das zweitklassige Frühstück in den Mund stopfte, beäugte Jasmin neidisch die Paare in den Nachbarbetten. Scheinbar hatten die beiden anderen Frauen mehr Losglück gehabt, denn sie unterhielten sich mit ihren Spielpartnern großartig. Endlich wurde das Geschirr abgeräumt und der Gong zur ersten Runde ertönte.

„Zum Auftakt eine ganz leichte Frage, damit Sie ein bisschen warm werden. Wo stand das Bett, das Jürgen Drews 1976 besang?“
„Jürgen wer?“ Ole litt offensichtlich unter Schwerhörigkeit.
„Jürgen Drews“, wiederholte Jasmin.
„Das habe ich verstanden. Wer soll das sein?“
„Sag mal, bist du blöd? Das ist der König von Mallorca.“
„Soweit ich weiß, gehört Mallorca zu Spanien. Und der König von Spanien ist Juan Carlos Alfonso Victor Maria de Borbón y Borbón.“
„Bonbon?“
„Borbón.“
Gong!
„Die richtige Antwort lautet Kornfeld. Das bedeutet je einen Punkt für die Paare Nussbaum und Ahorn. Das Paar Birne hat leider nichts auf die Tafel geschrieben.“
„Jetzt hast du es, du Depp“, zischte Jasmin. „Mann, ist das peinlich.“
„Warum hast du es denn nicht aufgeschrieben?“, ging er zum Angriff über.
„Weil du mit einer Hand die Tafel umklammerst und mit der anderen die Kreide, du Birne!“
Er reichte ihr beides. „Bitte sehr. Wer ist nun dieser König?“
„Jürgen Drews. So ein Schlagerfuzzi. Meine Tante hört so was gern“, erklärte sie.
Ole winkte noch einmal seiner Oma. „Nicht traurig sein, Oma. Wir holen schon noch auf“, brüllte er und die anderen Kandidaten lachten.

„Womit war laut Homer das Bett des Odysseus bespannt?“
„Na, Fräulein Besserwisser?“
Jasmin wurde blass. „Sag schon. Ich kenne nur Homer Simpson.“
Ole rezitierte er aus der Ilias, während die Sekunden verrannen.
Schnitzt' ihn zum Fuße des Bettes, und bohrt' ihn rings mit dem Bohrer,
Fügete Bohlen daran, und baute das zierliche Bette,
Welches mit Gold und Silber und Elfenbeine geschmückt war;
Und durchzog es mit Riemen von purpurfarbener Stierhaut ...


Jasmin kritzelte hastig die Lösung auf die Tafel und hielt diese mit dem Gongschlag in die Höhe. Die Menschenmenge vor dem Schaufenster applaudierte.
„Stierhaut! Der Punkt geht an das Paar Birne.“
„Danke“, flüsterte Jasmin.

„Wer spielt die weibliche Hauptrolle in dem amerikanischen Spielfilm Der Feind in meinem Bett?“
Diesmal verkniffen sich die Beiden eine Diskussion. Siegessicher schrieb Jasmin Julia Roberts auf die Tafel. „Ich habe all ihre Filme gesehen.“
Das hatte Frau Nussbaum allerdings auch getan und sicherte ihrem Team ebenfalls einen Punkt. Herr und Frau Ahorn gingen diesmal leer aus, lächelten sich aber inzwischen vieldeutig an, wie Jasmin mit Kennerblick feststellte. Das war natürlich unprofessionell und eine schlechte Vorraussetzung für den Gesamtsieg. Folgerichtig gerieten die Ahorns schnell in Rückstand, weil sie weder wussten, von welcher Sängerin die Dokumentation In Bed With Madonna handelt, noch welches winzig kleine Gemüse eine echte Prinzessin im Andersenschen Märchen durch zwanzig Matratzen hindurch gespürt haben soll.
Wie erwartet hatte Ole keine Ahnung, wer Madonna ist, wusste aber, dass zwischen der Erbse und der Prinzessin außer den Matratzen noch zwanzig Eiderdaunendecken lagen.

„Wie heißt der amerikanische Spielfilm mit Doris Day und Rock Hudson aus dem Jahr 1959?“ Ole starrte Jasmin an und Jasmin starrte aus dem Fenster. Da draußen stand ein Mann im Trenchcoat mit schulterlangen, dunklen Haaren und tiefbraunen Augen. Ein Mann mit den schönsten Fingern der Welt. Das wusste sie, obwohl er die Hände in den Manteltaschen vergraben hatte. Da draußen stand Paul, ihr Klavierlehrer.
Ole hielt ein Kurzreferat über die Machtübernahme durch Fidel Castro am 1. Jänner des Jahres 1959. Jasmin vergrub sich unter der Decke und schämte sich. Nicht, weil sie die ganze Woche nicht zum Klavierüben gekommen war, sondern weil da draußen Paul stand, der Mann, mit dem sie alle Jungs verglich. Der Mann, dem sie Liebesbriefe schrieb, die sie nie abschickte. Dieser Mann stand jetzt vor den Schaufenstern des Möbelgeschäftes und betrachtete Schlafzimmer.
Das Klavier ist Wiege und Bahre, Wanne und Sarg, ist Bett - und als Bett nichts weniger als Alles, hatte er gesagt, als sie in der letzten Stunde wütend auf den Flügel eingehämmert hatte.
Warum zum Teufel betrachtete Paul Schlafzimmer, wenn er doch ein Klavier hatte? Ein richtiges Bett hatte er vermutlich auch, warum also brauchte er noch eines? Ein größeres womöglich. Wahrscheinlich ruhten seine Augen in diesem Moment auf dem Doppelbett mit dem schmiedeeisernen Metallrahmen rechts hinten. Und ein paar Zentimeter hinter seinen Augen spielten sich soeben Liebesszenen mit einer vollbusigen Musikstudentin ab, wobei sowohl die Matratze wie auch Rahmen erheblich strapaziert wurden.
Mit einem Auge schielte Jasmin unter der Bettdecke hervor und sah, wie sich Paul vor Lachen bog.
„Die richtige Lösung lautet Bettgeflüster - und damit geht der einzige Punkt an das Paar Nussbaum, das jetzt mit sieben Punkten führt, vor dem Paar Birne mit sechs Punkten.“
Während Paul, der sich noch immer lachend schüttelte, zu Jasmins Erleichterung das Weite suchte, riss sie ihrem Spielpartner die Tafel aus der Hand. Die Bettwurst, stand da.
„Ein anderer Film ist mir nicht eingefallen“, entschuldigte sich Ole.
Immerhin hatte Paul sie nicht als Bettwurst im Birnenbett gesehen, tröstete sich Jasmin.

Fortsetzung folgt...

Montag, 1. September 2008

Mittwoch III

„Dem Wimmer sein Bauch tut ihm weh. Er sagt, er hat’s an der Bauchspeicheldrüse.“
„Was ist das denn für ein Deutsch, Frau Schnitzler? Und sagen Sie ihm, er soll halt das fette Zeug nicht fressen, das er verkauft.“
„Ja, Herr Doktor. Ich hoffe, Sie sind bald wieder gesund“, log sie. Dann nahm sie dem Patienten Blut ab, fälschte die Unterschrift ihres Chefs und schrieb dem Fleischermeister eine Überweisung zum Ultraschall.
„Träume sind Schäume“, beruhigte Kolletschka sich, „das hat alles überhaupt nichts zu bedeuten, da kann dieser Freud erzählen, was er will.“ Aber während er wieder im Katalog blätterte, fraß sich ein furchtbarer Gedanke in seinem Gehirn fest. „Vielleicht leide ich ja nicht an einer unheilbaren körperlichen, sondern an einer psychischen Krankheit?“ Er wäre nicht das erste Genie, das die Grenze zum Wahnsinn überschritt, tröstete er sich in seiner grenzenlosen Selbstüberschätzung. Auch Robert Schumann, Vincent van Gogh und Friedrich Nietzsche litten angeblich an Schizophrenie.
Ja. Sogar dieser elende Semmelweis, der seinem Urururgroßvater zum Quadrat und damit auch ihm den Ruhm abspenstig gemacht hatte, war verrückt geworden. Zwei Wochen nach seiner Einweisung in die Irrenanstalt war er schließlich gestorben. Das geschah ihm ganz recht, diesem Mütterversteher.

„Zieh dir mal den Bademantel über, Josef. Du hast Besuch. Deine Enkelin ist da.“
Du lieber Himmel, erscheinen mir jetzt etwa all die Leute aus meinen Alpträumen? Da steht mir ja noch einiges bevor, dachte Kolletschka. Über Jasmins Besuch freute er sich allerdings, denn sie war eine der wenigen, die ihn nicht so schnell auf die Palme brachten und mit seinen Launen umgehen konnten. Gleichzeitig wickelte sie ihn oft genug um den Finger, wenn sie Geld oder eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
„Soll ich dir etwa bei der Lateinaufgabe helfen?“, fragte er fast ein wenig ängstlich.
„Latein? Hab ich doch gar nicht, Opa Sepp. Oma hat gesagt, dass du krank bist, da hab ich mal nach dir schauen wollen.“
„Ach, alles halb so schlimm“, mimte er den Helden und wunderte sich, dass es doch tatsächlich Menschen gab, die sich um seine Gesundheit sorgten. Er schlüpfte in den Bademantel und verschwand im Badezimmer. „Ich mach mich nur schnell ein bisschen frisch.“

„Na, Maxl?“, Jasmin streichelte den Dackel, „geht’s dir wenigstens gut?“
Der schwerhörige Hund wedelte zur Antwort mit dem Schwanz.
Jasmin nahm die Dose, die hinter dem Hundekorb stand und schüttete die letzten Reste Trockenfutter in den Fressnapf mit der Aufschrift Waldi. Das Gefäß stammte noch vom vorigen Hund, aber Kolletschka war der Meinung, dass so ein Tier ohnehin nicht lesen könne und deshalb hatte er seiner Frau untersagt, einen neuen Napf zu kaufen.
„Was macht die Schule, Jasmin?“
„Die steht so vor sich hin.“
„Und was macht mein Sohn, dieser Nichtsnutz?“ Kolletschka grämte sich noch immer, dass sein einziges Kind nicht Medizin studiert hatte, sondern als Sozialarbeiter drogensüchtige Jugendliche betreute. Seine Hoffnungen ruhten in seiner Enkelin.
„Der hat schon Urlaub. Nächste Woche fahren wir nach Bulgarien.“ Jasmin verzog das Gesicht. Ihr Großvater auch.
„Bulgarien? Zu den Kommunisten, die ihre Kinder verhungern lassen? Wovon wollt ihr euch da ernähren, von Beeren und Insekten?“
„Vier-Sterne-Hotel.“ Jasmins Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. „Ich wäre lieber mit meinen Freunden zum Zelten gefahren, nach Griechenland.“
„Mit siebzehn? Und dann noch als Mädchen! Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen.“
„Schau, wie es dem Maxl schmeckt.“ Jasmin wechselte rasch das Thema, um sich die Chance auf ein saftiges Urlaubstaschengeld nicht zu verderben. Der Dackel schleckte den Napf gründlich aus, damit ihm keins der leckeren Kügelchen entging.
„Hast du dir eigentlich schon was für das Geld gekauft, das ich dir zum Geburtstag gegeben habe?“
Jasmin zögerte. Sie hätte sich irgendetwas einfallen lassen können. Am besten etwas Nützliches. In dieser Hinsicht war Opa Sepp wie alle anderen Großväter, die es gern sahen, wenn die Enkelkinder das geschenkte Geld in etwas Vernünftiges investierten, in Klavierstunden oder gutes Schuhwerk. Sie hätte ihm erzählen können, dass sie einen seltenen Zinnteller erstanden hatte, das wäre zwar keineswegs etwas Nützliches oder Sinnvolles, doch damit hätte sie ihn auf ihrer Seite gehabt.
Jasmin aber zählte du den wenigen Menschen, die Josef Kolletschka nicht anlogen. Deshalb drehte sie sich um, schob ihr T-Shirt ein bisschen über die Schulter und zeigte ihm ihr Tattoo. „Ein keltisches Glückssymbol. Es steht für Liebe, inneren Frieden und Reichtum.“
Josef Kolletschka schluckte. Ein Schlampenstempel. Seine Enkeltochter. Wahrscheinlich von einem drogensüchtigen Tätowierer in einem schmuddeligen Studio, mit infizierten Nadeln und ohne Handschuhe gestochen. Kolletschka hätte Jasmin gern ausge-schimpft, aber ihm fehlten die Worte. Er griff sich mit der rechten Hand theatralisch ans Herz.

Margarethe Kolletschka bereitete in der Küche einen Kaiserschmarrn mit Birnenmus und Holunderkoch zu, als sie den gellenden Schrei ihrer Enkelin aus dem Wohnzimmer hörte.
„Omaaaaa! Komm schnell! Ich glaub, er ist tot!“
Sie ließ den Topf scheppernd in die Abwasch fallen und stürmte in die gute Stube. Jasmin kauerte über dem leblosen Körper am Boden.
„Der arme Maxl“, jammerte sie.
Josef Kolletschka hatte inzwischen auch die linke Hand zu Hilfe genommen, um sich an die Brust zu fassen. „Da seht ihr es. Jetzt ist der Hund tot. Und mich habt ihr auch bald soweit.“
„Josef! Maxl!“ Margarethe lief unentschlossen von einem zum anderen. Tot war natürlich schlimmer als krank, aber dem toten Hund konnte sie ohnehin nicht mehr helfen. Außerdem jammerte der tote Hund nicht so laut wie ihr Mann. Also wischte sie diesem mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
Um Himmels Willen! Jetzt hatte sie den toten Hund angefasst und sich danach nicht die Hände desinfiziert. Es war also bald soweit. Er rückte seinen Körper im Eichenschrein zurecht und strich die Decke glatt. „Zieh mir bitte wenigstens das braunkarierte Hemd an, Margarethe“, flüsterte er matt.
„Aber was. Das ist nur von den homöopathischen Kügelchen“, besänftigte sie ihn und er nickte.
„Ich weiß“, log er, um nicht noch darüber diskutieren zu müssen, so kurz vor seinem Tod.
„Der Apotheker hat gesagt“, fuhr Margarethe fort, „es kann sein, dass sich die Symptome erst verschlimmern und es dann zur Heilung kommt.“
Kolletschka blickte auf den toten Hund: „Da bin ich aber gespannt, ob er Recht hat, der Herr Apotheker.“

Morgen: Donnerstag ;-)

Sonntag, 31. August 2008

Mittwoch II

„Wer zum Teufel?“, donnerte Kolletschka in den Hörer.
„Schnitzler“, meldete sich Frau Schnitzler, die Kummer gewohnt war.
„Ja was denn, Frau Schnitzler? Ist einer gestorben?“
„Noch nicht. Aber der Stankovic Karl, der sagt, dass er stirbt, wenn keiner kommt.“
„Der Stankovic, das ist ein Simulant, ein verflixter. Was hat er denn, dass er glaubt, er stirbt?“
„Ein Reißen in der Brust, Herr Doktor.“
„Er soll sich die Opodeldok-Salbe drauf schmieren.“
„Jawohl, Herr Doktor“, sagte Frau Schnitzler, legte auf und bestellte Herrn Stankovic einen Krankenwagen. Das sagte sie ihrem Chef aber nicht. Auch nicht, dass die Opodeldok-Salbe seit über zwanzig Jahren aus dem Handel war.

Sogar im Krankenstand wurde er von diesen Spinnern belästigt. Hat denn ein Arzt nicht auch das Recht, einmal schwer krank und schonungsbedürftig zu sein? Da seine Sprechstundenhilfe längst wieder aufgelegt hatte und kein Mensch in der Nähe war, an dem er seine Wut auslassen konnte, bekam er stattdessen einen Hustenanfall. Und da spürte auch er das Reißen in der Brust. In seinem linken Arm kribbelte es. Und das nur, weil die Schnitzler ihm so einen Stress machte wegen eines lästigen Hypochonders. Er würde sie hinausschmeißen, wenn er das hier überlebte. Im Moment sah es ohnehin nicht danach aus.
„Josef! Da sind wir wieder! Es hat ein bisschen länger gedauert, ich war gleich einkaufen. Soll ich dir eine Wurstsemmel machen?“
„Gib mir erst die Medikamente“, fuhr er sie an, „und wasch dir die Hände!“
„Der Magister Zobel hat gesagt, du sollst es einmal mit Homöopathie probieren. Hier, das hat er mir mitgegeben.“ Sie reichte ihm ein Fläschchen mit kleinen Kügelchen. Belladonna D12, stand darauf.

Belladonna. Tollkirsche. Wollte der Apotheker ihn vergiften? Oder gar Margarethe? Auf jeden Fall musste das Zeug verschwinden, sonst mischte sie ihm das noch ins Essen. Hastig schüttete er die Hälfte der Kügelchen in einen Zinnbecher aus Britanniametall, der aus dem Jahre 1888 stammte und den seine Frau nicht anzurühren wagte.
Die andere Hälfte streute er in eine kleine Pappdose und versteckte sie hinter dem Hundekorb.
„Du und die Schnitzler, ihr wollt mich wohl ins Grab bringen.“
„Aber wohl nicht vor dem Stankovic. Ich hab grad nämlich gesehen, wie sie den mit dem Rettungswagen geholt haben. Es schaut gar nicht gut aus, haben die Nachbarn gesagt.“
„Die Nachbarn, was wissen die schon? Ein Faulpelz ist das, der bloß nicht arbeiten will. Und er befolgt meine Anweisungen nicht. Hat er nach Opodeldok gerochen?“
„So nah war ich nicht dran. Schau, ich hab dir eine Wurstsemmel gemacht.“
„Die strotzt ja nur so vor Cholesterin, die Wurst. Hat die Verkäuferin wenigstens Handschuhe getragen?“
„Ja, ja, Josef. Hat sie natürlich“, log Margarethe. Die Frauen in seiner Umgebung hatten sich allesamt zu Meisterinnen des Lügens entwickelt, um seinen Wutausbrüchen zu entgehen. Auf die erste Lüge folgte die nächste: „Ich hab mageren Truthahnschinken gekauft.“
„Das schmeckt man“, nörgelte er, nachdem er in die Semmel gebissen hatte, „von dem bekomme ich doch meistens Bauchweh.“
„Versuch jetzt ein bisschen zu schlafen, Josef. Dann geht das Fieber bestimmt schnell zurück.“
Sie wollte so gerne erst die Küchenkredenz abstauben und dann in Ruhe an ihrem Puzzle weiterlegen. Das Schloss Neuschwanstein war zwar so gut wie fertig, aber es fehlten noch 4.865 Teile Berge, Wald, Himmel und Wolken. Sie hoffte inständig, dass ihr Mann bald genesen und in die Praxis verschwinden möge. „Ich bring dir noch den Katalog. Damit du schneller einschlafen kannst.“
Auf Seite Siebzehn des Ausstellungskataloges Kirchliches Zinngerät fiel Josef Kolletschka in einen unruhigen Schlaf.

Fleischermeister Wimmer kam mit schweren Schritten auf ihn zu. Die Hände waren bis zu den Ellbogen blutverschmiert. „Du hast Bauchschmerzen, Sepp? Wahrscheinlich Bauchspeicheldrüsenkrebs.“ Mit seinem Schlachtermesser berührte er eine Stelle im Bauchraum des aufgeschlitzten Schweins, das am Haken neben ihm baumelte. „Schau, das Pankreas sitzt hier“, grinste er diabolisch, „im Retroperitonealraum, hinter dem Bauchfell. Das haben wir gleich. Zieh dich schon mal aus.“ Wimmer wetzte das Messer.
Kolletschka lehnte mit weichen Knien und verschwitzter Kleidung an der gekachelten Wand des Schlachtsaales. Seine Arme und Beine waren wie gelähmt, aber wohin hätte er in diesem Raum ohne Ausgang auch fliehen sollen? Zwischen den Schweinehälften trat Ignaz Semmelweiß hervor und wusch seine Hände in Chlorkalkmilch. In diesem Moment läutete sein Handy.
„Hier Semmelweis, Retter der Mütter. - Grüß Gott, Herr Hitler. Ich hab im Moment wenig Zeit. Ja, eine Autopsie. Mal wieder ein Kolletschka. - Gut, treffen wir uns übermorgen beim Freud. Und richten Sie der Frau Braun meine Verehrung aus. Shalom.“
Fleischhauer Wimmer verteilte ein Dutzend antiker Zinnteller auf Kolletschkas Wohnzimmertisch. „Da können Sie die Organe drauflegen, Herr Professor, damit nicht das ganze klebrige Blut über das Eichenholz läuft.“
„Liebe Güte, Josef, wie schaust du denn aus?“ Margarethe schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Du kannst doch nicht die lachsfarbene Krawatte zum blauen Hemd anziehen! Und für mich bitte ein Pfund von den Puzzleteilen, Herr Wimmer, halb und halb.“
„Darf’s ein bisschen mehr sein, Frau Obermedizinalrat?“
„Die Nierenteile packen’s mir für den Hund ein. Und ein paar Deka Gift für meinen Herrn Gemahl, bitte.“
Jetzt krümmte sich Kolletschka vor Schmerzen auf dem Boden. Eine junge Frau in grüner OP-Kleidung beugte sich zu ihm herab. „Oh je, das schaut gar nicht gut aus“, murmelte sie und betrachtete ihn. „Bitte das Beil und die Tupfer, wir müssen das Schwein amputieren.“ Voller Entsetzen blickte er in das Gesicht seiner Enkeltochter. Aus jeder einzelner seiner Poren drang Schweiß. Er fasste sich an die Stirn. Er lebte. Noch.
„Nicht zuschlagen, Jasmin! Ich bin doch dein Großvater. Wir sind aus demselben Fleisch und Blut. Du musst die geröstete Leber das nächste Mal auch nicht aufessen. Was zum Teufel machst du hier überhaupt?!“ schrie Kolletschka.
„Ich kenn mich bei der Lateinaufgabe nicht aus. Mors certa, hora incerta. Was bedeutet das, Opa Sepp?“
„Der Tod ist gewiss, aber nicht die Stunde“, übersetzte er, obwohl er das Gefühl hatte, dass sein letztes Stündlein genau jetzt geschlagen hatte. „Contra vim mortis non est medicamen in hortis. Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, Kind.“
Erneut läutete das Handy von Ignaz Semmelweis.
„Nun geh schon ran, du böhmischer Pflaumenpflücker! Bestimmt ist jetzt Attila der Hunne dran und will sich mit dir beim Dalai Lama auf ein paar Powidltascherln verabreden.“, rief er ihm zu.


„Es ist für dich, Josef.“ Semmelweis presste ihm das Telefon ans Ohr.
„Es geht um den Fleischermeister Wimmer, Herr Doktor“, sagte Attila mit verstellter Stimme, während ihn Ignaz Semmelweis mit dem Gesicht seiner Frau anblickte.
„Ihr steckt doch alle unter einer Decke“, brüllte Kolletschka in den Hörer.
„Aber Herr Doktor. Ich bin’s doch nur, die Frau Schnitzler.“
Er stöhnte auf. Da wäre ihm sogar der Hunnenkönig lieber gewesen. Zweifelsohne war jeder für sich eine Geißel Gottes.

Fortsetzung folgt...

Mittwoch - Das Erbe

Doktor Josef Kolletschka lag reglos in seinem Schrein. Aber Doktor Kolletschka war nicht tot, sondern nur vorübergehend erkrankt. Bei dem vermeintlichen Sarg handelte es sich um das Bett des Kranken, ein riesiges Ungetüm aus dunklem Holz. Eiche brutal nannten die Spötter den Stil, der die ganze Wohnung dominierte. Banausen nannte Kolletschka die Spötter.

Er war stolz auf sein Doppelsargbett. Es war im gleichen Jahr hergestellt worden wie er selbst, nämlich 1949. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er selbst sogar genau in diesem Bett hergestellt worden, aber seine Eltern hatten darüber diskret geschwiegen und es ziemte sich nicht, danach zu fragen. Sie hätten ihm diese Frage schon zu Lebzeiten nicht beantwortet, aber inzwischen schwiegen sie für immer.
Doktor Kolletschka mochte alte Dinge, deshalb umgab er sich mit finsteren Eichenmöbeln und kaltem Zinngeschirr. Alte Menschen mochte er hingegen nicht, obwohl die meisten seiner Patienten alt waren. Im Grunde genommen mochte er überhaupt keine Menschen.

Er betrachtete ungläubig das Fieberthermometer. Siebenunddreißig Komma neun Grad Celsius waren ein enttäuschend niedriges Ergebnis. Er empfand die gleiche Unzufriedenheit wie beim wöchentlichen Studium seiner Aktienkurse. Seine Kopf- und Gliederschmerzen fühlten sich nach mindestens neununddreißig Grad an. Rechnete man das Kratzen im Hals, die verstopfte Nase und den Husten dazu, so kam man locker auf vierzig Grad Celsius.
„Streichen Sie alle Termine, Frau Schnitzler“, röchelte er erbärmlicher als nötig ins Telefon, „ich kann heute keine Ordination abhalten. Ich habe Fieber.“
„Ungefähr vierzig“, fügte er nach kurzer Bedenkzeit noch hinzu.
Beim Gedanken daran brach ihm der Schweiß aus und sein Herz begann heftig zu klopfen. Oh Gott, so hohes Fieber, kam es ihm in den Sinn. Bei Jakob Kolletschka, seinem bedeutenden Urahnen, hatte es genau so angefangen, und ein paar Tage später war er tot. Einer seiner Studenten hatte ihn beim Sezieren mit dem Skalpell an der Hand verletzt, und dann war das Fieber ausgebrochen. Josef Kolletschka hatte das letzte Mal während seines Medizinstudiums seziert, vor mehr als dreißig Jahren. Aber vielleicht hatte er sich am Vorabend beim Wurstschneiden in den Finger geritzt, ohne es zu bemerken. Womöglich hatte er die Hände ausgerechnet nach diesem Abendessen nicht sorgfältig genug desinfiziert.

Es ist meine Bestimmung, dachte er, mich wird das gleiche Unheil ereilen wie Jakob und ich werde elendiglich daran zu Grunde gehen. Er war seit der Jugend überzeugt davon, dass sein Schicksal mit dem seines Vorfahren untrennbar verwoben war. „Guter Gott“, betete er, „wenn es dein Wille ist, dass ich auf diese Weise sterbe, dann soll es so sein. Ich lege mein Leben in deine Hand.“
Er machte ein Kreuzzeichen auf Stirn, Kinn und Brust. Aber dann überlegte er es sich noch einmal und schüttelte energisch den Kopf. Nein. Niemals. Oder wenigstens nicht heute. Wenn er jetzt das Zeitliche segnete, würde vermutlich so ein dahergelaufener Berufsanfänger kommen, irgendwelche Zusammenhänge zwischen seinem Tod und einer noch unbekannten Krankheit herausfinden und sich auf seine Kosten profilieren. Während er, Medizinalrat Dr. med. Josef Kolletschka, lediglich als Randbemerkung in die Medizingeschichte einging, würde die ganze Welt von diesem Nachwuchsdoktor reden – wie damals bei Ignaz Semmelweis.

„Margarethe!“, rief er nach seiner Frau, die wie ein treuer Dackel sofort an seinem Bett erschien. Sie tat das nicht nur, wenn er krank war, sondern wann immer er sie herbei zitierte. Der Dackel selbst täuschte bereits seit einigen Jahren eine Altersschwerhörigkeit vor, um nicht mehr auf Befehl antanzen zu müssen.
„Wo ist das verdammte Aspirin, Margarethe?“
„Wir haben kein Aspirin, Josef.“ Sie verschwieg lieber, dass er die letzten Tabletten in einem Wutanfall in die Toilette gespült hatte, um nicht den nächsten seiner Ausbrüche zu provozieren.
„Dann besorg welches, aber schnell. Und ein Antibiotikum.“
„Nicht aufregen, Josef. Dein Herz.“
Sie brachte ihm Kugelschreiber und Rezeptblock und er kritzelte etwas Unleserliches darauf. Die örtlichen Apotheker hatten es längst aufgegeben, Kolletschkas Rezepte zu entziffern. Sie hatten ihn auch irgendwann nicht mehr angerufen, da der Arzt sich zumeist nicht an die Verordnung erinnern konnte und er die Apotheker dann am Telefon schon mal als blinde Maulwürfe oder Analphabeten beschimpfte.
Kolletschka hörte, wie Margarethe und Maxl aus der Tür huschten. Jetzt war er ganz allein in dem großen Haus. Die alte Pendeluhr an der Wand pendelte und tickte. Tickte die Sekunden seines Lebens herunter. Er zählte mit. Als er bei der Zahl Siebenundneunzig angekommen war, hörte sie plötzlich auf zu ticken. Er griff sich ans Herz. Was, wenn auch das einfach aufhörte zu schlagen? Wenn seine Zeit abgelaufen war? Sein Blick wanderte zur Wand gegenüber, die mit unzähligen Zinntellern geschmückt war. Für einen Laien sah ein Teller aus wie der andere. Für Kolletschka auch, aber das spielte keine Rolle. Hauptsache, sie waren groß und sie waren alt. Trotzdem sprang ihm ein Objekt besonders ins Auge. Es war aus dem Jahr 1803, dem Geburtsjahr von Urahn Jakob. Wäre der nicht von diesem dilettantischen Studenten verletzt worden, hätte er gemeinsam mit Semmelweis das Kindbettfieber besiegt, oder sogar statt seiner. Eine Klinik wäre nach ihm benannt worden und er selbst, Josef Kolletschka, einer der wenigen Nachfahren, wäre dort Primar – reich, berühmt und geachtet.
Er fühlte seinen Puls. 104. Viel zu schnell.
Wo Margarethe nur blieb? Sie sollte längst zurück sein. Er machte sich Sorgen. Nicht um seine Frau, nein, der würde schon nichts zustoßen. Um sich selbst sorgte er sich. Was, wenn die Krankheit schneller als befürchtet fortschritt und er mutterseelenallein an einer Sepsis starb?

Es war in Wien, es war im März und es war das Jahr 1847. In der geburtshilflichen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses, starben die Mütter reihenweise und ließen ihre Neugeborenen als Halbwaisen zurück. Die unerklärliche Krankheit begann und endete mit hohem Fieber. In den Autopsien fanden sich Entzündungen in den verschiedensten Organen, aber keine Erklärung für den massenhaften Tod.
Doktor Ignaz Semmelweis bewunderte Professor Jakob Kolletschka schon lange. In diesem März 1847 aber bewunderte er nur noch dessen innere Organe, die auf dem Seziertisch vor ihm lagen. Professor Kolletschka war an der gleichen Krankheit gestorben wie all die jungen Mütter. Tod durch Sepsis, so hätte heute die Diagnose gelautet. Überschwemmung des Körpers mit Bakterien.


Und jetzt, an diesem Mittwoch, spürte Josef Kolletschka, wie die todbringende Seuche auch ihn überfiel.
Noch bevor er das Zeitliche segnen konnte, klingelte allerdings das Telefon. Wenn das Telefon klingelt, dann hört der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts schlagartig auf zu essen und zu trinken, er stellt den Fernseher leise und hält inne beim Verprügeln der Kinder. Er hört sogar auf zu sterben.

Fortsetzung folgt...

Samstag, 30. August 2008

Dienstag II

Der Pfarrer hatte zwar Nächstenliebe gepredigt, Irina aber dafür verachtet, dass sie beim Arzt Liebe und Trost gesucht hatte, anstatt jahrelang zu trauern. Sogar von der Kanzel herunter hatte er sie an den Pranger gestellt und dem Spott der Menschen preisgegeben. So lange, bis Irina das nicht mehr ertragen konnte und ihrem Leben mit Schlaftabletten ein Ende machte.

„Mein Enkelsohn ist ein guter Junge“, kehrte Justina wieder in die Gegenwart zurück. „Er studiert ... er studiert ... was studierst du noch mal, Andreas?“
„Kunst, Oma.“
„Ach ja, stellen Sie sich vor, er zeichnet Füße. Sogar meine hat er schon mal gemalt. Dabei hat Schwester Radina tausendmal schönere Füße als ich.“
Ganz unwillkürlich wanderte sein Blick an Radinas Beinen herunter. Wahrhaftig hatte sie ausgesprochen hübsche Füße. Und auch die Unterschenkel waren nicht übel. In Gedanken zog bereits seine Melonenbutter duftend in ihre Waden ein.
„Ich muss mal pinkeln“, unterbrach Justina seine Melonenwadenfantasien.
Radina seufzte. Natürlich hätte sie jetzt sagen können: „Ein paar Minuten eher konnte Ihnen das wohl nicht einfallen?“, aber es war ohnehin ungewiss, ob Justina sich an ein paar Minuten zuvor hätte erinnern können. Außerdem konnte die alte Frau nichts dafür, wenn sie aufs Klo musste. Radina dachte daran, wie ihr Vater auf Reisen immer geschimpft hatte, wenn er im Viertelstundentakt den klapprigen Skoda an den Straßenrand fahren musste, weil ihre Mutter, ihre Schwester oder sie selbst um eine Pinkelpause gebeten hatten.
Bei allem Verständnis war es jedoch so, dass Bettschüsseln einer aufkeimenden romantischen Stimmung nicht sehr zuträglich waren.
Justina hatte die Zeit des Bauchkribbelns längst hinter sich. Bei ihr kribbelten höchstens noch die Füße, wenn sie wieder einmal eingeschlafen waren. Die brauchten dazu nicht einmal Schlaftabletten.
Radina verließ mit der vollen Schüssel das Zimmer und Andreas kam wieder herein. So viel Würde hatte Justina sich bewahrt, dass sie nicht in Gegenwart anderer Menschen urinierte.
„Am Sonntag gehe ich heim“, verkündete die alte Frau und ihr Enkelsohn stutzte. Wie meinte seine Großmutter das? War sie nur verwirrt oder fühlte sie tatsächlich den Tod näher kommen?
„Geht es dir nicht gut, Oma?“
„Natürlich geht es mir nicht gut. Schau nur, wie sie mich untergebracht haben. Das ist nicht das Fürstenzimmer, das ich in den letzten Jahren hatte, sondern nur eine einfache Kammer fürs Personal. Und all die hässlichen Bilder an den Wänden. Ich würde ja schon eher abreisen, aber ich habe mich so auf das Konzert am Samstag gefreut.“
Andreas atmete erleichtert auf und überflog die Fotos von Justinas Mann, Geschwistern, Kindern und Kindeskindern. Sie hatte also nicht vor am Sonntag zu sterben.
„Ich werde mit der Hotelleitung sprechen und veranlassen, dass du ein komfortableres Zimmer bekommst“, ging er auf ihre Gedanken ein. Wenn Justina im Hotel Fürstenhof residierte, dann war sie eben im Hotel Fürstenhof, und seine Aufgabe war es, das Beste daraus zu machen. In ein oder zwei Stunden würde sie ihren Urlaub in Kärnten ohnehin beendet haben.
„Was spielen sie denn?“, lenkte er ihre Gedanken wieder auf das Konzert.
„Mein Gott, Bub, du bist aber auch wirklich vergesslich. Smetana spielen sie. Má vlast.“
Mit feierlicher Stimme intonierte sie nun Die Moldau und Andreas lief eine Gänsehaut über den Rücken. Seine Großeltern hatten ihre vier Flittertage am Böhmischen Meer verbracht, dort wo Kalte und Warme Moldau und Franz und Justina eins wurden.
Sie hatte ihm das Stück oft vor dem Einschlafen vorgesummt, denn Kinderlieder hatte sie nie leiden können. Wenn er das Wochenende bei ihr verbrachte, frühstückten sie am Sonntag im Bett, Würstel mit Senf und aufgebackenen Semmeln. Justina legte dazu die Hans Moser-Schallplatte auf und mit vollem Mund nuschelten sie mit.
„I muaß im frühern Lebn eine Reblaus gwesen sein“, stimmte Andreas an, als Justina die Ufer der Moldau hinter sich gelassen hatte und sie folgte ihm in den Weingarten:
„Ja, sonst wär die Sehnsucht nicht so groß nach einem Wein
Drum tu den Wein ich auch nicht trinken sondern beißen
I hob den Rotn grod so gearn als wie den Weißn.“
Justina biss sich auf die Unterlippe. „Deine Mutter hat fürchterlich mit mir geschimpft, dass ich einem Sechsjährigen solche Lieder beibringe.“
„Ich muss dann los, Oma. Ich hab Sverre versprochen, die Küche sauberzumachen.“
„Wer ist Sverre?“, fragte sie, doch dann huschte ein kleines Stück Erinnerung vorbei. „Ach, der Schwede, der bei dir wohnt.“
„Der Schwede ist Norweger, Oma, und ich wohne bei ihm, nicht er bei mir.“
„Grüß ihn schön von mir. Ich war nämlich auch schon mal in Schweden. Sogar in Stockholm.“
„Ja, Oma.“ Bestimmt war Sverre auch schon mal in Stockholm gewesen und würde sich über Justinas Grüße freuen. Er küsste sie auf beide Wangen. „Bis nächste Woche.“
„Vergiss die Melonenkörperbutter nicht“, zwinkerte Justina ihm zu, „sonst ist Schwester Radina traurig.“
„Wann bin ich traurig?“ Auf schönen Beinen wurde das Abendbrot zur Tür herein gebracht.
Justina kicherte und Andreas wurde schon wieder rot.
„Wenn sie nicht brav alles aufisst, was Sie ihr bringen“, rettete er sich aus der Situation und entschwand.
Radina schüttelte Kissen und Decke auf, öffnete das Fenster, setzte Justina im Bett auf und bereitete ihr die Brote zu.
„Glauben Sie, der hätte sich bei Irinas Familie wenigstens entschuldigt? Kein Wort ist ihm über seine Lippen gekommen. Wahrscheinlich hat er nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt, dieser Saukerl. Dabei hätte er sich in Grund und Boden schämen müssen.“ Radina verstand zwar kein Wort von dem, was Justina da sagte, nickte aber bestätigend.
„Ja, Saukerl der. Und jetzt lassen Sie es sich schmecken. Bis gleich.“


Als Radina das Zimmer wieder betrat, sah Justina selbst aus wie ein Saukerl. Die Decke war mit Liptauer bekleckert, das halbe Ei steckte im Ausschnitt des Nachthemds, die Tomaten ruhten zermatscht in Justinas Hüftbeuge und der Früchtetee war überall, nur nicht in der Tasse. Die lag nämlich zerbrochen unter dem Bett. Mitten in diesem Chaos steckte Justina, völlig verrenkt, mit hochgestellten Beinen und weinte.
„Was ist denn hier passiert?“
„Ich wollte mir doch nur die Nachrichten anschauen“, schluchzte Justina.
„Ach, Frau Schilling.“ Radina strich ihr beruhigend über das Haar und befreite sie aus ihrer Lage. „Sie haben die elektrische Bedienung für das Bett erwischt.“
„Manchmal ist es gar nicht lustig, so alt zu sein, das können Sie mir glauben.“
Radina nickte, denn sie glaubte ihr aufs Wort.
„Früher gab es solche verrückten Betten noch gar nicht. Im Lazarett hatten wir Feldbetten, da mussten wir immer aufpassen, dass die Soldaten nicht umkippten damit.“ Sie kicherte. „Meistens kippten sie nachts um, wenn sie es sich selbst machten. Das war bestimmt nicht so leicht mit einem geschienten Arm oder einem amputierten Bein.“
„Frau Schilling!“ Radina prustete laut vor Lachen und ließ die aufgesammelten Scherben wieder fallen.
„Ach, sie haben mir Leid getan, aber dafür waren wir nun wirklich nicht auch noch zuständig. Und dann kamen auch noch die Nonnen und haben sie ausgeschimpft. Aber aus der Kirche bin ich wegen dem Pater August ausgetreten.“
„Das haben Sie mir noch gar nicht erzählt. Möchten Sie dann keine ... ähm ... letzte Ölung, wenn es soweit ist?“ Radina biss sich auf die Unterlippe. Es fiel ihr immer noch schwer, das Thema Tod anzusprechen, aber den meisten Bewohnern war es wichtig, solche Dinge vorher zu klären und wenigstens im Sterben die Würde zu bewahren.
„Versprechen Sie mir eines, Schwester... wie war noch mal Ihr Name, Kindchen?“
„Radina.“
„Ah ja. Versprechen Sie mir...“ Völlig unerwartet schlug Justina mit der flachen Hand auf ihr Nachttischchen, so dass Radina abermals die Scherben aus der Hand fielen, und fuhr mit bebender Stimme fort:„...dass sie mir die Pfaffen vom Leib halten, wenn ich tot bin? Und vorher gefälligst auch!“
Radina ließ die Scherben liegen und griff nach Justinas Hand. „Frau Schilling, was ist mit Ihnen?“
Justina krallte ihre knorrigen Finger in Radinas Unterarm.
„Eines Tages war er wieder da, Irinas Mann, alt und ausgezehrt, obwohl er noch keine vierzig war, zurück aus der russischen Kriegsgefangenschaft. Er hat nach Irina gefragt, und alle waren sie zu feige, ihm zu sagen, was passiert ist. Also haben sie ihn zu mir geschickt. Ich hab uns einen doppelten Slibowitz eingeschenkt und ihm die Wahrheit erzählt.“
Eine lange Pause folgte. Eine Pause, in der Radina das Schweigen nicht unterbrach oder nachbohrte, sondern einfach da saß und wartete.
„Nein, nicht die ganze Wahrheit. Ich hab ihm nicht gesagt, dass Irina einen Anderen gehabt hat, das spielte doch längst keine Rolle mehr. Nur, dass sie ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Warum, warum, warum? hat er gebrüllt und mich verzweifelt angeschaut. Pater August, hab ich geflüstert. Er ist schuld.“
Jetzt traten Tränen in Justinas Augen und flossen ungehindert über ihre Wangen. „So hab ich mich mitschuldig gemacht.“
Radina blickte sie fragend an.
„Am nächsten Morgen war Irinas Mann wieder weg und Pater August lag erstochen in der Sakristei. Ich hab geschwiegen. Nicht einmal gebeichtet hab ich. Wem auch?“
„Möchten Sie das nachholen?“, fragte Radina einfühlsam.
Energisch schüttelte Justina den Kopf. „Nein, danke. Nicht auf leeren Magen. Nicht einmal mit vollem.“
„Soll ich Ihnen noch ein Joghurt bringen, Frau Schilling?“
„Ach, geben Sie das doch der Katze. Ich hätte jetzt gern ein kleines Gulasch, Fräulein. Mit einer Semmel und grünem Salat. Und dann bringen Sie mir die Rechnung, bitte. Ich muss danach zum Konzert. Die Moldau.“


Heute abend oder morgen, je nach Stimmung: Mittwoch

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
Von Herzen und Seelen - CD

Neu

Wie geht es unserer Testsiegerin?
Wie geht es unserer Testsiegerin?
Lo - 5. Feb, 17:25
Vielen Dank! Du findest...
Vielen Dank! Du findest mehr von mir auf facebook ;-)
testsiegerin - 30. Jan, 10:40
Kurschatten ' echt keinen...
auch wenn diese deine Kur schon im Juni...xx? war,...
kontor111 - 29. Jan, 09:13
zum entspannen...Angel...meint
wenn ich das nächste Mal im Bett liege, mich verzweifelt...
kontor111 - 29. Jan, 08:44
"Pinguin"
"Pinguin"
bonanzaMARGOT - 11. Mär, 11:11
Sleepless im Weinviertel
Ich liege im Bett. Ich bin müde. Ich lese. Eine Romanbiografie...
testsiegerin - 13. Jan, 11:30
... ich könnte mal wieder...
... ich könnte mal wieder eine brasko-geschichte schreiben.
bonanzaMARGOT - 8. Jan, 07:05
OHHH!
OHHH! Hier scheint bei Twoday etwas nicht zu stimmen. Hoffentlich...
Lo - 7. Jan, 13:36

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