OP

Ich liege auf dem schmalen langen Tisch, bedeckt von grünen Tüchern, und blicke ins unbarmherzige Licht der OP-Lampe. Nur eine kleine Stelle meines Körpers ist nackt, die haben Sie mit Strichen markiert. Unter den Strichen sitzt die Wut. Breitet sich aus in meinem Leib wie ein Geschwür, das aufs Gemüt drückt, und macht mir das Leben manchmal zur Hölle. Schneiden Sie mir die Wut aus dem Bauch, bitte. Ich brauche sie nicht mehr. Ich will sie nicht mehr.
Ich sehe die Skalpelle blitzen und verbiete mir die Augen zu schließen. Es wird weh tun, sagen Sie. Ja, ich weiß, aber ich will keine Narkose. Ich gestehe mir keine Betäubung zu, ich will den Schmerz fühlen, ich will bewusst erleben, wie ihr meine Wut abtrennt von den Fasern, die sie mit mir verbinden. Die Wut tut weh. Anderen vor allem. Es ist nur gerecht, wenn ich jetzt leiden muss. Bestrafen und heilen Sie mich, bitte. Und wenn Sie schon dabei sind, wenn ich schon offen vor Ihnen liege, dann achten Sie darauf, dass sie auch die Ausläufer des Zorns erwischen. Und den ganzen Mist da drin, der mich belastet, den nehmen Sie auch raus. Sie müssen genau schauen, am besten mit dem Mikroskop, er hat sich gut versteckt und kriecht hinterlistig hervor, wenn ich nicht damit rechne. Trennen Sie alles Böse von mir. Ich werde es im Garten vergraben und einen Baum darauf pflanzen. Einen, der reichlich Obst trägt. Die Früchte des Zorns.
Hinterlassen Sie sichtbare Narben. Ich möchte, dass ich für den Rest meines Lebens erinnert werde an den Schmerz. Wer ihn nicht kennt, weiß nicht, wie das Glück sich anfühlt.
Ach ja, und bevor Sie mich zunähen, füllen Sie die riesigen Leerräume mit Sanftmut. Mit Wärme. Wenn es operationstechnisch irgendwie geht, verbinden sie die Wärme mit den Nervenenden, die zu meinen Füßen führen. Die sind immer so kalt.
gattuchio - 17. Jan, 11:56

Ein toller Text. Wie immer hier. Darf ich Anwalt des Teufels spielen? Ich tu's einfach: Gehören Wut und Zorn nicht genauso wie Schmerz zu unserem Dasein? Glaubst Du wirklich, noch Du zu sein, wenn Du Dich dieser Gefühle berauben lässt? Und ist immer Sanftmut und Wärme nicht irgendwann langweilig? Ich frag ja nur...

testsiegerin - 17. Jan, 17:58

lieber gattuchio

dankeschön. und natürlich gehören die dazu, das weiß ich schon. aber heute früh hätte ich einfach lieber gehabt, wenn sie nicht zu mir gehörten.
zuckerwattewolkenmond - 17. Jan, 18:15

Kann mich nur anschließen. Der Text ist wirklich toll.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich auch eine riesige Wut im Bauch und damals hätte ich mir ebenfalls gewünscht, ich könnte die einfach von mir abtrennen und irgendwo vergraben, um nicht immer die Wände hochlaufen zu müssen. Aber mit der Wut ist wie mit vielem im Leben. Sie vergeht, wenn wir bereit dazu sind, loszulassen. Sogar ganz ohne Operation. ;o)
Liebe Grüße

testsiegerin - 17. Jan, 21:50

ja, manchmal verpufft sie

und manchmal regt sie immerhin an, kreativ zu sein.
ich glaub, so schlecht ist das gar nicht mit der wut.
also so schlecht wäre das nicht. jetzt hab ich ja keine mehr.
begraben hab ich sie noch nicht, weil noch jede menge schnee liegt und die erde gefroren ist.

vielleicht versteigere ich sie bei e-bay.

und vielleicht ersteigere ich sie dann wieder selbst.
SPIEGELei - 17. Jan, 20:26

OP SOFORT ABBRECHEN!

Hallo, Sie da!
Ja Sie, der Herr Vergaser dort.
Gut, wenn Sie darauf bestehen: Herr Anästhesist.
Sie sind doch Spezialist für Empfindungslosigkeit oder Gefühlstaubheit, oder?
Da bin ich aber froh, dass Sie nicht bereits begonnen haben,
bei ihr die Empfindungsverminderung einzuleiten.
Frau Testsiegerin hat ja auch darauf bestanden, nicht eingeschläfert zu werden!

Und Sie da?
Der Herr Aufschneider?
Tschuldigung: Chirurg.
Sie schnippeln auf Wunsch aber auch alles weg, was?
Scharf. Nur nicht scharfsinnig.

Kommt denn niemand von Ihnen auf die Idee, Frau Testsiegerin diese OP auszureden?
Ja ja, die Gebührenordnung mit der Möglichkeit, bei Privatpatienten den zwölffachen Satz abrechnen zu dürfen. Kingt verlockend. Verstehe.
Sie Beutelschneider!
Und? Was ist mit Ihrer Aufklärungspflicht?
Warum sagen Sie Frau Testsiegerin nicht, dass Sie zwar die aktuelle Wut wegschneiden können, was aber gar nichts nützt, weil schon bald neue Wut im Bauch entsteht?

Sie könnten ihr ja fairerweise einen Reissverschluss einbauen, den sie dann selbst öffnen und so ihre neue Wut rauslassen kann.

Und warum sagen Sie ihr nicht, wie wichtig Wut ist?

Warum erklären Sie ihr nicht den richtigen Umgang mit dem Ventil, an dem man Wut ablassen kann?

Also: OP abbrechen! Sofort.
Ich übernehme die Verantwortung

Sie verdammten Quacksalber!

lo
wütend.

testsiegerin - 17. Jan, 21:48

lieber spiegelei

ach, ihre kommentare immer schöner als meine geschichten.

und es tut mir leid. es ist zu spät.
ich bin die sanftmut in person. nur das mit den füßen, das hat nicht geklappt.
naja, das nächste mal.

danke für den schönen kommentar!
SPIEGELei - 18. Jan, 13:57

:-)

Das ist das erste Mal,
dass ich von einem sanftmütigen Eisbein ein nettes Lob erhalte.

Warmen Dank dafür.

lo

vicell - 8. Feb, 16:59

Sehr geehrte Frau Sanftmut,

tausend Dank für diesen Text.
Manchmal wünschte ich, es gäbe genug Skalpelle auf dieser Welt, sicher aufbewahrt in fähigen Chirurgenhänden, um die ganze Wut und sinnlosen Hass dieser Welt einfach herauszuschneiden.
Und solange es dafür noch keine geeigneten Operationstechniken gibt, wünsche ich mir mehr Kraft zu Ventilen wie diesen.
Aber ich befürchte, dies ist ein unrealistischer Wunsch.
Wir sind eben (immer noch) Anfänger.
Wie so oft.

Es grüßt -mit Wärme im Bauch-
die vic

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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