Coming out

Gregor war nicht schwarz, nicht schwul und nicht schwindsüchtig. Er war kein Kommunist und kein Mormone. Und trotzdem gehörte er einer Minderheit an.
Seine Frau wusste nichts davon. Sie hätte es ohnehin nicht fassen können. Auch Ferdinand und Wolf waren ahnungslos. „Komm Gregor, trink noch ein Bier!“, würden sie ihn auslachen. Gewiss, sogar Wolf pinkelte im Sitzen und Ferdinand putzte manchmal das Klo, aber was jetzt in ihm vorging, das würden sie nicht verstehen. Dabei war Gregor weder ein Weichei noch ein Schlappschwanz. Er konnte rückwärts einparken, kleidete sich ebenso schlecht wie andere Männer auch und schraubte mit kindlicher Begeisterung IKEA-Regale zusammen. Montags bis freitags arbeitete er im Labor, mittwochs ging er zum Sport und samstags zum Angeln.
Und doch. Er war anders. Anders als die anderen.
Alle zwei Monate schwänzte er den Sport und fuhr heimlich zum Flughafen. Dort kannte ihn niemand, außer der freundlichen Frau am Kiosk, die ihm lächelnd das Gewünschte aushändigte. Gregor schaute nervös nach allen Seiten, bevor er die Emma zusammenrollte und in der Jackentasche verschwinden ließ.
*

Gregor entriegelte die oberste Lade seines Schreibtisches, kramte nach dem Umschlag und nahm den Brief heraus. Sehr geehrte Frau Felber, stand da. Woher hätten sie auch wissen sollen, dass G. Felber keine Frau war? Wir freuen uns, Sie beim diesjährigen feministischen Kongress begrüßen zu dürfen, der unter dem Motto Gleich! Berechtigung steht, und haben Sie für den Arbeitskreis Geschlechtliche Diskriminierung im Alltag - erfahren, empfinden, entgegnen vorgemerkt.
*

Gregor atmete noch einmal tief durch, bevor er das Tagungszentrum betrat. In der Eingangshalle standen Frauen in kleinen Gruppen zusammen.
Kaum hatte er das Foyer betreten, als ihn auch schon eine kräftige Hand an der Schulter packte. Erschrocken drehte er sich um und blickte einer drallen Rothaarigen ins Gesicht, die ihn nervös ansah.
„Gut, dass Sie da sind“, keuchte sie hastig und zog ihn am Arm. „Kommen Sie mit!“
Noch ehe Gregor ein Wort erwidern konnte, hatte sie ihn durch eine schwere Eisentür in einen dunklen Raum geschoben, in dem es nach Öl und Elektrizität roch. Ihm wurde mulmig.
„Bitte, Herr Katschmarek!“, bedrängte sie ihn. „In zehn Minuten soll es losgehen, und wir haben in der Küche weder Strom noch Heizung. Das Mineralwasser wird warm und der Kaffee bleibt kalt.“ Gregor seufzte erleichtert auf. Sie hielt ihn offensichtlich für den Hausmeister. Er krempelte die Ärmel hoch. Dann starrte er auf die vielen Drähte und Schalter vor sich und fühlte sich plötzlich sehr hilflos. Er war Chemiker, kein Elektriker.

„Vielleicht ist ja nur eine Sicherung durchgebrannt“, versuchte er es. „Wo ist denn der Schutzschalter?“
“Wer soll das wissen, wenn nicht Sie?“, begann die Rothaarige sich aufzuregen. Er legte sich gerade die Worte zurecht, mit denen er das Missverständnis aufklären wollte, als die Tür aufging und sich noch zwei Frauen hereindrängten. Sie trugen Latzhosen. Mit der Aufschrift Donna & Blitz. Die Elektrikerinnen.
„Na, dann brauchen wir Sie wohl nicht mehr”, verabschiedete die Rothaarige ihn und wandte sich den Profis zu.
*

Er ging mit erhobenem Haupt an den Frauen in der Halle vorbei, um ihren Blicken nicht begegnen zu müssen. Gregor nahm verschämt in der hintersten Reihe Platz. Sollten sie ihn doch alle für den Katschmarek halten.
Während vorne die Stadträtin ihre Begrüßung herunterbetete, ließ sich ausgerechnet die Rothaarige seufzend neben ihn auf den Klappsitz plumpsen. Gregor lächelte ihr unsicher zu, sie blickte ihn interessiert an. Was wollte die denn jetzt schon wieder von ihm?

„Sie sind gar nicht der Hausmeister, stimmt's?“
Er nickte. „Stimmt. Ich bin nicht der Hausmeister.“
„Sind Sie von der Presse?“
Gregor schüttelte den Kopf.
„Politiker?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich bin ein ganz normaler Konferenzteilnehmer. Ich bin ...“, er holte noch mal Luft, „...ich bin Feminist.“ Jetzt war es draußen.
„Margot Hübner.“ Sie schüttelte ihm unerschrocken die Hand. „Ich koordiniere die Abläufe hier.“
„Gregor Felber. Ich hoffe, ich störe Ihre Abläufe nicht.“
*

Information ist Macht war der Titel des ersten Referats. Es ging um die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern. Er zuckte immer zusammen, wenn es die Männer hieß. Und er spürte, wie manche Frauen ihn von der Seite betrachteten. In ihren Augen war er bestimmt einer von denen. Eines dieser Schweine, die Frauen klein halten wollten und ihnen den Zugang zur Information und damit zur Macht verwehrten. Aber was konnte er denn dafür, dass seine Frau sich einfach nicht für den Computer interessierte? Gleich morgen beim Frühstück würde er das zum Thema machen und ihr seinen neuen Laptop schenken.

In der Pause stellte er sich unsicher zu einer kleinen Gruppe von Frauen.
„Was machen Sie denn hier?“, fragte eine von ihnen, die sich gerade eine Zigarette anzündete.
„Ich bin Feminist“, antwortete Gregor.
„Feminist? Ich dachte, dieses Wort existiert nur in der weiblichen Form?“ Die zierliche Dunkelhaarige schien Germanistin zu sein.
Ich reduziere sie auf Haarfarbe und Figur, ertappte sich Gregor. Auch das musste sich ändern.
Er hielt ihr einen Zettel unter die Nase.
„Sehen Sie mal. Ich habe diesen Test gemacht.“
SIND SIE FEMINISTIN? stand in Großbuchstaben auf dem Blatt Papier. „Ich habe 28 von 30 möglichen Punkten. Ich bin also waschechter Feminist.“ Gregor konnte sich gar nicht mehr erinnern, seit wann er feministisch fühlte und dachte. Es war immer schon in ihm.
„Haben Sie keine eigenen Probleme, um die Sie sich kümmern können?“, provozierte ihn eine Frau mit Sommersprossen, die zufällig blond war.
„Doch“, entgegnete Gregor ruhig. „Ich habe genug Probleme. Unser Sohn wurde beim Klauen erwischt, der Mazda hat einen hoffnungslos durchgerosteten Unterboden und mein Cholesterinspiegel ist zu hoch. Aber wo kommen wir denn hin, wenn sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und keiner mehr für seine Ideale kämpft?“
„Wo er Recht hat, hat er Recht.“ Die vermeintliche Germanistin nickte wohlwollend und wandte sich wieder an ihn: „Ich find es ganz schön mutig, dass Sie hier teilnehmen.“
„Also, herzlich willkommen im Namen der Gleichberechtigung“, stimmte eine andere zu.
Gregor genoss die Akzeptanz durch die Frauen, ähnlich wie damals, als er in der Jugendfußballmannschaft sein erstes Tor geschossen hatte und danach richtig zur Mannschaft gehörte.

“Wer hat denn den süßen Kerl mitgebracht?”, fragte eine zarte blasse Frau in die Runde und leckte sich die Lippen.

Gregor spürte, wie er rot wurde. Eine der Frauen kicherte. Erst war er der Hausmeister und jetzt irgendein Schatzibutzi. Die nahmen ihn hier nicht ernst, nur weil er ein Mann war.
Wie gerne hätte er jetzt eine freche Antwort gegeben, aber dann wäre er gleich wieder ins Abseits gelaufen.
„Sind Sie etwa Chauvinistin?“, gab er mutig zurück.
Eine Glocke beendete die Pause. Mehr wie im Boxring als auf dem grünen Rasen, dachte Gregor.
*

Die nächste Runde hieß Workshop und Gregor traute sich nicht in den Ring. Die meisten Frauen saßen schon im Kreis, während er draußen nervös auf und ab ging. Dabei könnte er nach seinen heutigen Erfahrungen wahrlich genug zur alltäglichen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beitragen. Er überlegte gerade, ob er sich den Schlägen unter die Gürtellinie wirklich aussetzen oder nicht doch lieber das Handtuch werfen sollte, als Margot ihm über den Weg lief.
„Verfolgen Sie mich?“, grummelte er gereizt. „Ich komme auch ohne Ihre Unterstützung ganz gut klar.“ Das war gelogen. Sie lachte und hängte sich bei ihm ein.
„Ich leite den Arbeitskreis.“ Sie tätschelte beruhigend seine Wange. „Und wir zwei gehen da jetzt ganz tapfer hinein.“
Das hatte seine Mutter damals auch gesagt, als er mit acht Jahren zur Mandeloperation ins Krankenhaus musste. Weder seine Mutter noch Margot hatten in der jeweiligen Situation große Tapferkeit beweisen müssen. Und ebenso wie damals ließ er sich jetzt willenlos zum Helden rekrutieren.
Margot stopfte Gregor auf einen freien Platz, ausgerechnet zwischen der zartblassen Chauvinistin und der germanistischen Dunkelhaarigen.

„Liebe Feministinnen“, begann Margot. „Und liebe Feministen“, ergänzte sie. Gregor spürte ein Dutzend Augenpaare wie Rasierklingen auf der Haut.
„Wenn der Schwanzträger bleibt, geh ich“, revoltierte prompt eine Teilnehmerin und zerbrach theatralisch ihren Bleistift. Ein paar Frauen applaudierten und Gregor zuckte unter dem seelischen Schmerz zusammen.
„Männer in den Herd!“, schrie eine andere, wurde aber dafür ausgepfiffen. Margots Beschwichtigungsversuche gingen im allgemeinen Tumult unter.
Gregor fühlte sich schuldig, weil er die Frauen mit seiner bloßen Anwesenheit so aus dem Konzept gebracht hatte. Seite an Seite hatte er mit ihnen für die Emanzipation kämpfen wollen, nicht gegen sie. Aber er passte wohl nicht ins Team. Gregor ging zu Margot und schüttelte ihr die Hand.
„Tut mir Leid, jetzt habe ich Ihre Abläufe doch gestört.“ Achselzuckend verließ er den Seminarraum.
„Warten Sie!“ Margot war ihm nachgelaufen und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. „Rufen Sie mich an. Bitte.“
*

Nachdenklich schlich Gregor zu seinem Wagen. Diesen Abend konnte er abhaken. Sein Coming out in der Familie und im Freundeskreis musste er bis auf weiteres verschieben. Hoffentlich erfuhr keiner etwas von seinem Versagen heute.
Mit der Rothaarigen würde er beizeiten telefonieren. Er nahm ihre Visitenkarte aus der Jackentasche. In der Tat, sie war Expertin für ungestörte Abläufe. Gregor lächelte und las:

Dr. med. Margot Hübner
Fachärztin für Urologie
Miaka - 3. Jun, 17:31

geniale geschichte! :)

leserin (Gast) - 3. Jun, 17:37

nette geschichte!

frau hat richtig mitgefühl mit dem armen feministen.

ich mag die geschichten in deinem blog!!!
testsiegerin - 4. Jun, 19:24

auch danke!
Uta-Traveller - 3. Jun, 20:33

Gregor kann einem wirklich Leid tun. Von wegen Gleichberechtigung.

Ich habe mich nie intensiv mit Feminismus beschäftigt, hatte allerdings oft das Gefühl, dass manche das Kind (respektive den Mann) mit dem Bade ausschütten.

Vor längerer Zeit habe ich einen Roman von Akif Pirincci gelesen mit Titel "Yin" (ich hoffe, ich hab da jetzt nichts verwechselt). Dabei ging es um eine Welt, eine Gesellschaft ohne Männer (ausgerottet von einer Krankheit). Und über die Entwicklung dieser Gesellschaft. Drastisch aber gut, fand ich.

testsiegerin - 4. Jun, 19:30

ich hab mich mit feminismus beschäftigt, seit ich sechzehn bin. mit achtzehn hab ich bei "amnesty for women" mitgearbeitet.

feminismus hat nichts mit männerfeindlichkeit zu tun.
es ist halt nur so: wenn frauen die hälfte der welt wollen, müssen die männer etwas abgeben. das tun sie nicht freiwillig und oft nicht gern.
drum nennen sie uns abfällig kampfemanzen. ich kann das bis zu einem gewissen grad sogar verstehen. wenn frauen frauen in den rücken fallen, hab ich verständnisprobleme.

mit der geschichte wollte ich ein bisschen zeigen, wie lächerlich manche menschen agieren. und diese lächerlichkeit wird meiner meinung nach noch sichtbarer, wenn man die rollen umkehrt.
ich erlebe immer wieder, wie meine kollegen (zum teil jünger und unerfahrener) für meine chefs gehalten werden, nur weil sie männer sind. wie man frauen für putzfrauen und sekretärinnen hält und von ihnen erwartet, dass sie kaffee kochen, nur weil sie weiblich sind.

ich bin schon still.
Uta-Traveller - 5. Jun, 07:28

Nee, sei bloß nicht still. Du hast ja Recht.
Side Affects - 3. Jun, 20:40

boah gelungen.

armer ,so gescheiter ,feministischer gregor.
ich glaube nicht,dass gregor ein IKEA-regal zusammenschrauben kann.ich glaube auch nicht dass gregor rückwärts einparken kann.
ich glaube, es ist völlig lebensuntauglich und braucht seine frau ,um zu überleben.

ich traue ihm real auch kein coming out zu. das traut er sich nicht. dazu ist er ein viel zu kleiner wicht in seiner ehe.
fiktional, ja da outet er sich. insofern war die geschichte federführend diesbezüglich.

testsiegerin - 4. Jun, 19:33

warum zweifelst du daran, dass gregor ein ikea-regal zusammenschrauben oder rückwärts einparken kann?

yepp. aufgrund der klischees, denen wir alle immer wieder aufsitzen. selbstverständlich kann gregor das. und trotzdem möchte er, dass frauen und männer gleiche rechte haben, weil ihm das einfach als lebenswertere gesellschaft erscheint.

ich parke übrigens exzellent ein. vorne zwei, hinten drei zentimeter. und daneben steht oft ein mann, der den kopf schüttelt, mich einweisen will und mir erklärt: da kommen sie nie hinein.
rauch - 3. Jun, 20:42

ich hatte große angst vor der urologin! (vor dem urologen auch, aber der war erstens primar und zweitens nicht da). als der katheter gelegt war, was ich gar nicht mitbekommen hatte, weil es so schnell ging, mußte ich ziemlich verdattert geglotzt haben. und immerhin halte ich mich auch für einen feministen....

testsiegerin - 4. Jun, 19:34

gregor hat auch große angst vor der urologin. das ist so bei feministen ;-)

ich hoff, die urologin hat deine abläufe gut koordiniert.
MoniqueChantalHuber - 4. Jun, 04:09

wortgewaltenteilung

Man/Fraufred lebt in einem BinnenIstaat.
Man/Fraufred sieht sich als FeministIn.
Man/Fraufred hat regelgemäßen Schriftverkehr.

Man/Fraufred macht sich
nur mit Druckbuchstaben
ein xx für ein xy vor.

Doch der/die Sprachfluss der/die das Land teilt,
trägt mitnichten und -neffen dazu bei,
dass auf Fraufreds Konto monatlich
der/dieselbe Lohn ausbezahlt wird.

Manfred ist für halbe-halbe, also ein Viertel,
und hilft den Wortsalat marinieren.
Fraufred genügt das.

testsiegerin - 4. Jun, 19:36

das gefällt mir.

und eh klar, dass gleicher lohn für gleichwertige arbeit, ausreichend kinderbetreuungseinrichtungen, gleiche karrierechancen etc. wichtiger sind als ein binnen-I. aber sprache spiegelt die realität. und wenn frauen sprachlich nicht erwähnt und wahrgenommen werden, macht man sie unsichtbar.
punctum - 5. Jun, 10:45

ich frag mich gerade...

gibt es auch maskulinisten? und maskulinistinnen? wegen der gleichberechtigung...

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
Jakob und der gewisse Herr Stinki


Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
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loving it :-)
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