Sergej in Siena oder Die Macht der Mandeln

Sergej öffnete die Fahrertür seines rostigen Skodas, in dem er vierzig Stunden fast ohne Pause gefahren war. So ähnlich musste sich Juri Gagarin damals gefühlt haben, nachdem sie ihn aus seiner Kapsel gezurrt hatten. Das also war Siena.
Seit fünfunddreißig Jahren träumte Sergej davon, einmal nach Siena zu fahren, aber immer war etwas dazwischengekommen. Erst unüberwindbare Grenzen und große Geldnot. Die Grenzen fielen, die Geldnot blieb. Dann kam seine Frau dazwischen und die Kinder, und sie ließen die Erinnerung verblassen. Die Erinnerung an eine Sammlung kolorierter Postkarten in der Schreibtischschublade seines Großvaters. Unter einem grünblauen Himmel quoll pures Gold aus der Fassade der Kathedrale. Die Piazza del Campo leuchtete in orange und violett wie ein Spielcasino in Las Vegas. Und die ganze Stadt roch nach Großvaters billigen Zigarren aus Georgien.

Sergej atmete die kühle Luft des Morgens ein. Hier roch es nicht nach Zigarren, sondern nach Olivenöl. Er schlenderte über den Markt, inhalierte den Duft von Zitrus- und Meeresfrüchten, bewunderte die Artischocken und fragte sich, warum man hier am Gemüsestand Blumen verkaufte.
Bei einer besonders italienisch aussehenden Italienerin kaufte er ein paar Kekse. „Kann-tu-tschi-ni“, erklärte sie. Ihre weißen Zähne blitzten und ihre Brüste wippten auf und ab, während sie lachte. Wahrscheinlich lachte sie ihn aus, weil er mit Geld aus dem Jahre 1957 bezahlen wollte. Das hatte er auch in Großvaters Lade gefunden. Er streifte den Schein sorgfältig glatt und steckte ihn in die Hemdtasche. Damit wollte er noch mehr Zähne zum Strahlen und Brüste zum Wippen bringen.

Sergej schnupperte an den Keksen. Sie rochen nach Mandeln und aufdringlich süß. Er steckte eines in den Mund. Hart und trocken. Ernüchtert kaute er weiter und schluckte. „Schade ums Geld“, schimpfte er auf Russisch. Aber Sergej hatte Hunger, und deshalb quälte er sich zwei weitere Kekse durch den Gaumen. Den vierten und fünften aß er ganz in Gedanken, ohne auf den Geschmack zu achten. Er beobachtete eine weitere Italienerin, die Wein verkaufte. Ihre Zähne strahlten nicht so wie bei der anderen, aber dafür wurde noch mehr gewippt.

Sie hielt ihm eine kleine Flasche Wein hin. Vino santo, stand drauf. Hier war wohl alles heilig. Den alten Schein ließ er unberührt, weil es auch so schon genug wippte. Er schraubte die Flasche auf und nahm einen Schluck.
„Mamma mia! No! No!“, schrie die Weinverkäuferin auf und gestikulierte wild.
Er sprach nur ein paar Brocken italienisch und sie gar keinen Brocken russisch, aber keine dreißig Minuten später hatte er ein Rendezvous und saß gemeinsam mit Amanda vor einer kleinen Bar. Nach ihren weichen italienischen Anweisungen tunkte er harte italienische Kekse in süßen italienischen Wein. Nicht zu lange und nicht zu kurz.
Zuvor hatten sie ein Wörterbuch gekauft. Italienisch-Russisch. Russisch-Italienisch. Lächelnd tauschten sie das kleine Buch und Höflichkeitsfloskeln hin und her. Nach etlichen Tauschereien und noch mehr getunkten Cantuccini gelang es Sergej, den Text auf Amandas T-Shirt zu übersetzen:
Ich habe auch Augen.
Das hatte er schon längst gemerkt. Warm und braun waren die. So wie der Espresso, den sie jetzt tranken. Aber sehr viel tiefer als die kleine Tasse. Und ganz in der Tiefe las er darin: Ich habe auch Brüste.
„Vieni con me “, sagten ihre Lippen, nachdem sie sich den Kaffeeschaum abgeleckt hatte.

Sie zeigte ihm die Sehenswürdigkeiten der Stadt: Die goldglänzende Front des Domes Santa Maria. Den Palazzo Communale mit dem Schwindel erregenden Torre del Mangia.
Dass Siena nicht nach alten Zigarren roch, wusste er ja nun bereits, aber er war beeindruckt von den kräftigen Braun- und Rottönen, die mit dem bonbonfarbenen Kitsch der Ansichtskarten nichts gemein hatten. Billig wirkte hier nichts, weder der Himmel noch die Erde, und schon gar nicht Amanda mit ihren sienaroten Haaren.

Er folgte ihr, als sie sich durch die engen Gassen der Altstadt schlängelte und stellte fest, dass nicht nur ihre Augen und ihre Brüste sehenswert waren. Sie ist viel zu jung für mich, ging es durch seinen Kopf, aber zu gerne hätte er sie angefasst, die Sehenswürdigkeiten der Amanda.

Sie passierten das Haus der Heiligen Katharina. Während Sergej sich noch daran erinnerte, dass dies die Schutzpatronin Italiens war, fasste Amanda ihn an der Hand und zog ihn in einen schummrigen Hauseingang. Sergejs Herz klopfte.
Sie drückte eine finstere Holztür auf und schob ihn hindurch.
Im Innenhof war es so hell, dass Sergej blinzeln musste. Durch einen Urwald von Topfblumen folgte er ihr die Treppe hinauf und wieder durch eine Tür. Jetzt betraten sie einen bestimmt vier Meter hohen Raum, den große Rundbogenfenster mit buntem Glas säumten. Vor einem der Fenster saß ein Mann im Rollstuhl.
Amanda nahm eine Flasche und drei Gläser aus einem antiken Wandschrank, küsste den alten Mann auf die Wange und setzte sich zu ihm. „Mio nonno “, erklärte sie und Sergej blätterte im Wörterbuch. Das war also ihr Großvater.
Sie schenkte ein. Sergej holte eines der restlichen Cantuccini aus der Jackentasche, um es einzutunken, aber Amanda winkte ab. „Porca miseria, no! Grappa. Salute.“
„Sergej parla il russo“, sagte sie und das erste Mal seit ihrem Besuch zeigte der Alte eine Regung.
Auf seinen Wink trat sie näher an den Rollstuhl heran. Sergej konnte hören, wie der Großvater tuschelte, aber verstehen konnte er absolut nichts. „Si“, sagte Amanda immer wieder, und ab und zu blickte sie dabei zu Sergej herüber und lächelte.
Mit einem krächzenden „Okay“ beendete der Alte das Gespräch und klang dabei wie Marlon Brando als Pate. Dann rollte er langsam zum Wandschrank, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. Einen Moment rechnete Sergej damit, dass er eine Pistole auf ihn richten würde, aber dann klappte er ein kleines Buch auf.

„Sicuro?“, fragte der Pate noch einmal und Amanda nickte. „Sicuro.“ Sicher.
Mit zitternden Fingern reichte er Sergej ein paar Zettel.
„Brief von russische Frau. Augen kaputt“, grummelte er. „Bitte vorlesen.“
Sergej betrachtete erst die sauber geschriebenen kyrillischen Buchstaben und las dann. Er schmunzelte. Eine gewisse Valerija schwärmte von wunderschönen Tagen und Nächten in Siena. Dankte Paolo für seine Gastfreundschaft. Die Pasta. Den Wein. Und für das, was danach gekommen war. Der Großvater lächelte entrückt und Amanda wartete ungeduldig und hatte keine Ahnung, worum es ging und warum das Schmunzeln auf den Gesichtern der Männer immer breiter wurde. Hier ist das Rezept von Borschtsch, schrieb Valerija, einer russischen Nationalspeise mit roten Rüben. Und ob Paolo ihr dafür verraten könnte, wie man diese harten Mandelkekse zubereitete.
Acht Jahre war dieser Brief jetzt alt und offensichtlich der letzte in einer ganzen Reihe von Briefen. Danach hatte Paolo nicht mehr geantwortet. Der Augen wegen.
“Bitte, du schreibst Antwort?”
“Sicuro.” Sergej nickte und lernte Italienisch.

“Brjansk liegt praktisch auf meinem Weg”, murmelte Sergej, als er vor dem Briefkasten stand und steckte den Umschlag wieder in die Tasche.

“Valerija Mandlikova?”
“Ja, die bin ich.” Die dunklen Augen der alten Dame funkelten lebhaft.
“Sie haben Post.”
Becksi (Gast) - 12. Jul, 15:46

Gefühl nach mehr...

Liebe Barbara,

Deine Geschichten hinterlassen bei mir oft das Gefühl nach mehr.... Vor allem lassen sie die Menschen zusammen finden!

katiza - 12. Jul, 17:20

Und ich wein schon wieder...

caliente_in_berlin - 12. Jul, 17:26

Wow. Ich bin platt. Überrollt von so viel Gefühl, Italien, Wärme und Leben. Danke.

la-mamma - 12. Jul, 17:47

bei dir muss ich unheimlich oft

an einen ganz bestimmten satz denken: traurige geschichten gibt es schon genug! ich glaub, das weißt du auch recht gut, und danke für diese schöne da oben ...

ConAlma - 13. Jul, 16:02

Ti ringranzio.

Jings (Gast) - 15. Jul, 19:56

Wunderschön!

testsiegerin - 15. Jul, 22:16

ohhh. vielen, vielen dank.

Jack1fS - 18. Jul, 11:45

Da rieche ich wieder Siena. Denke an meine erste "Begegnung" mit Cantuccini und Vin Santo. An einen fantastischen Abend im Cane e Ghatto und viele schöne Tage am Campo und Umgebung. An den Palio und, und, und....Ich glaube ich muss da wieder einmal hin.

Wahrscheinlich hat es Sergej noch viel besser als mir damals gefallen.

Uta-Traveller - 23. Jul, 14:22

Ich liebe deine Geschichten !

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

Selbstgeschrieben


Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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Barbara A. Lehner (Text) Eleonore Petzel (Musik)
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