Auf der Flucht

Leichenblass stand der junge Psychiater vor dem leeren Bett.
„Na? Was ist denn passiert?“ wollte die Oberärztin wissen.
„Er ist weg.“ Seine Stimme war tonlos. „Stellen Sie sich vor, er ist weg.“
„Wer ist weg?“
„Der ... Der ... Der Wahnsinn...“, stotterte er.
„Na wo ist er denn?“, hänselte sie ihn.
„Er ist ausgebrochen.“
Der lockere Tonfall der Frau wechselte in die professionell-helfende-ich-bin-ein-guter-Mensch-aber-ich-nehme-Sie-nicht-ganz-ernst-Stimmlage. „Bei Ihnen, Herr Doktor?“
„Nein, natürlich nicht bei mir. Hier aus der Klinik. Er ist getürmt. Sogar aus der geschlossenen Abteilung. Ich weiß nicht, wie ihm das gelingen konnte. Hier ist doch alles vergittert und versperrt.“
„Der Wahnsinn lässt sich nicht aufhalten, Herr Kollege, das sollten doch ausgerechnet Sie wissen. Er kriecht durch jede noch so kleine Ritze “ Mit einer Hand ahmte sie die geschmeidigen Bewegungen einer Schlange nach. „Und wenn wir nicht mit ihm rechnen...“ Sie hielt inne.
„Was dann?“
„... dann packt er uns.“ Sie fasste den Arzt im Genick.
Er schüttelte sie ab. „So machen Sie sich doch nicht darüber lustig. Seine Existenz ist unsere Daseinsberechtigung. Ohne Wahn kein Sinn.“
„Ach, Sie hätten jetzt endlich Zeit, sich auf Ihre Forschungsarbeit zu konzentrieren. Ich kann Ihnen dabei gerne zur Hand gehen.“
„Wir müssen ihn suchen, verdammt noch mal!“ Der Arzt stieg hektisch von einem Fuß auf den anderen.
„Ist er denn allein ausgebrochen?“
„Nein. Gemeinsam mit dem Chaos.“ Dann griff er sich an die Wange. „Und mit meiner Zahnplombe.“
Die Ärztin klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Sie Armer! Sollen wir die Polizei verständigen?“
„Wegen ein bisschen Amalgams?“
„Natürlich nicht. Wegen des Wahnsinns.“
„ Glauben Sie, er hält sich bei der Polizei versteckt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht versteckt.“ Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Oberarm.
„Wir könnten ein Phantombild von ihm anfertigen“, zog er Stift und Notizblock aus der Brusttasche. „Was wissen wir über ihn? Hat der Wahninn einen Namen? Egal, er ist auf jeden Fall völlig verrückt. Und er ist hell, genau. Der helle Wahnsinn.“
„Ich weiß nicht.“ Sie zögerte. „Der Wahnsinn hat viele Gesichter, auch dunkle. Vielleicht geht es ihm gut in Freiheit und er fühlt sich wohl in der weiten Welt?“
„Nein. Das ist ganz und gar unmöglich. Wir müssen ihn kriegen und behandeln. Er ist schließlich gefährlich.“
Sie rollte die Augen und über ihre Lippen huschte ein Lächeln. „Nicht gefährlicher als die Liebe.“
*


Weit weg von alldem, unbeobachtet von unserem Psychiater und der Oberärztin, an einem kleinen Waldviertler Weiher im Winter, schmiegte sich der ganz normale Wahnsinn ans Genie. Wie so oft lagen sie dicht beieinander, wärmten ihre Seelen und erzählten einander Geschichten. Ihre Lieblingsgeschichte war die von der Oberärztin und dem jungen Psychiater, der die Liebe in ihren Augen übersah, weil er nur den Wahnsinn im Kopf hatte.
Niwi - 28. Sep, 19:15

Was man am nähesten vor der Nase hat, das sieht man meist nicht.
Vielleicht ist das der Grund, warum der Psychiater nichts merkt.
Wenn ich die Oberärztin wäre, dann würd ich mit dem Wahnsinn was trinken gehen und ihn ein bisschen aushorchen....und lernen.

testsiegerin - 28. Sep, 19:25

oh ja. vom wahnsinn kann man eine menge lernen, glaube ich. grenzen überschreiten, zum beispiel.
ulliaufmerksam (Gast) - 28. Sep, 19:19

weiher?

heisst das bei uns nicht eher teich?
ansonsten: lieb!

testsiegerin - 28. Sep, 19:24

ich hab mich ja freiwillig verpflichtet, wörter, die vom aussterben bedroht sind, vor ebendiesem zu retten. deshalb weiher statt teich.
walküre - 28. Sep, 19:24

Einfach zum Nachdenken ...

PS: "Der Oberarzt stieg hektisch von einem Fuß auf den anderen." Sollte dieser Satz nicht "Der Psychiater stieg hektisch von einem Fuß auf den anderen." lauten ?

testsiegerin - 28. Sep, 19:27

ja natürlich. schon geändert.
in der ersten fassung war sie die junge ärztin und er der oberarzt. aber als ich genauer hingeschaut hab, hab ich erst das namensschild mit dem OA drauf gesehen.
monsi2403 - 28. Sep, 23:34

Ja der ganz normale Wahnsinn ist es der uns tagtäglich begleitet, leugnen zwecklos, man muss sich einfach arrangieren. Tolle Geschichte.

LG Mr.D.

testsiegerin - 29. Sep, 11:02

dankeschön.
rosmarin (Gast) - 29. Sep, 21:53

wow............... dieser text ist wundervoll.
darf ich ihn demnächst studenten vorlesen???

testsiegerin (Gast) - 30. Sep, 18:10

aber sicher doch.
Doc Sarah (Gast) - 30. Sep, 00:21

Wahnsinn am Waldviertler Weiher im Winter wahrt Wesentliches... wenngleich wabernd wissendes Genie, angeschmiegt wie Geenie in a bottle oder Eugenie, ....
Derweil zur Kurzweil tobt das unbeherrschte Chaos am Ufer... Das ist uferlos... und hat das Orientierungs-Los gezogen und verwoben in diese unheilige Dreifaltigkeit von Wahnsinn, Genie & Chaos

testsiegerin - 30. Sep, 19:48

wie ich sehe, bist du dem wahnsinn auf der spur und schon ganz nah dran.
Doc Sarah Schons - 30. Sep, 20:46

yep - und gleich zerbeiß ich´s *ggg*

Weise Worte, wahr

"Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf." Aus Gut gegen Nordwind - Daniel Glattauer

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Barbara A. Fallnbügl (mein Mädchenname) Monika Pellkofer- Grießhammer
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