Das Kind, das ich einmal war
Das soll den Bilck fokussieren, Schreibhemmungen (o.k., ich hab keine, aber es könnte ja werden) abbauen und Zugang zum mittleren Unbewussten schaffen.
Wie auch immer, ich finde zumindest Teile dieser Texte zu schade, um sie in meinem Forschertagebuch zu verstecken, vielleicht ist es auch nur mein Exhibitionismus, der mich dazu treibt, manche davon trotzdem zu veröffentlichen.
Das Kind, das ich einmal war
Lieb, sagt man, war ich, und das klingt beinahe wie nett. Ich mag kein liebes Kind gewesen sein. Ein wildes, abenteuerlustiges, schlimmes, schwieriges Kind mag ich gewesen sein. Aber wen auch immer ich frage, ich war einfach ein liebes, unkompliziertes Kind. Eins, das schon mit zwei Jahren in den Kindergarten gegangen ist, und zwar gerne, eines, das sich nicht vor dem Nikolaus gefürchtet hat, eines, das brav gelernt hat, viele Sternchen und römische Einser im Schulheft gehabt und der Lehrerin die Tasche nach Hause getragen hat. Ich war ein Kind, das keine Probleme gemacht hat. Eins, das auch bei ihrem dreimonatigen Krankenhausaufenthalt alle ins Herz geschlossen haben.
Dabei wäre ich so gerne ein wildes, zorniges, zügelloses, waghalsiges Kind gewesen. Ich möchte ein aufregendes Kind gewesen sein, eins, wo alle die Köpfe geschüttelt und gestöhnt hätten: „Ein schwieriges Kind“, und sie hätten die Schultern gezuckt und gesagt „na ja, wir lieben sie trotzdem.“ Ich wäre so gerne trotzdem geliebt worden, nicht einfach so, weil ich war. Weil ich einfach war. Gut, ein bisschen faul und schlampig war ich immer, aber unkompliziert.
Ich hatte keine Wutanfälle als kleines Mädchen, ich zog brav alles an, was Mama mir hergerichtet hat, sogar die gestrickten roten Hotpants, im Partnerlook mit meiner Schwester; ich hab brav Bitte und Danke gesagt und bei meiner Oma im Bett geschlafen, obwohl sie unter dem überdimensionalen Marienbild nicht gut gerochen und ständig mit dem strafenden Gott gedroht hat. Ich hab brav die Hände gefaltet und inbrünstig gebetet und dem Jesuskind nicht ins Gesicht gespuckt.
Dabei hätte ich so gerne aufbegehrt. Nicht damals, damals war ich zufrieden, ja, ich hatte eine scheißglückliche Kindheit, heidelbeerpflückend im Wald, aber rückblickend wäre ich gern anders gewesen.
Ich beneide sie immer noch, die Menschen, die eine schwierige, spannende, ungestüme und wilde Kindheit hatten. Die keine Nacht durchgeschlafen und um vier Uhr früh Wutanfälle gehabt haben, weil man ihnen den falschen Schnuller in den Mund gesteckt hat. Die, die mit dem Kopf ein Loch in die Wand bohren wollten und mit Gummistiefeln im frischbezogenen Bett gehüpft sind. Die in Betragen einen Dreier hatten und einen Termin mit der Schulpsychologin und die den Blattspinat aufs weiße Tischtuch gespuckt haben.
Das Problem war, dass mir der Spinat und die eingebrannten Erdäpfel und alles andere, was man mir vorgesetzt hat, immer geschmeckt hat. Wozu es also ausspucken?
Ich beneide meine Tochter um ihre wilde, gar nicht brave Kindheit.
Sie leidet darunter, dass ihr immer gesagt wird, wie erstaunlich es ist, dass aus ihr so eine liebe, nette, junge Frau geworden ist, obwohl sie so ein schwieriges und anstrengendes Kind war. Dass aus ihr etwas geworden ist. Als müsse man erst etwas werden im Leben, als reichte das Sein nicht aus.
Sie ist wunderbar, witzig und liebenswert, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen, lernt für Prüfungen, begleitet mich bei Waldspaziergängen und ritzt sich nicht.
Ich liebe sie trotzdem.
nein im ernst: mir gefällt der text total gut. auch wenn jahrelanges ernsthaftes schreiben schon einen ordentlichen inneren zensor geschaffen zu haben scheint. oder sie einfach dinge prinzipiell recht systematisch denken? (das glaub ich aber wiederum irgendwie nicht soooo ganz ...)
es ist wohl der innere zensor, der beim schreiben selbst ständig anwesend ist. aber nicht immer, es gibt genug forschertagebuchstexte, die ich niemals hier veröffentlichen würde, weil der zensor da auf urlaub war.
sie wären mir sonst nämlich unheimlich, wenn alles gleich so "rund" rauskommen würd ...